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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Religionsunterricht

endlich jede neue Erkenntnis mit den im Kopfe des Schülers schon vorhandnen
Erkenntnissen in organische Verbindung gebracht wird (Erkenntnisse, die nur
"auswendig" gelernt, nicht in den schon vorhandnen Seeleninhalt verwebt und
mit verwandten Erkenntnissen sest verbunden werden, sind Spreu, die der Wind
verweht), was der Lehrer leicht thun kann, weil er den Vorstellungskreis seiner
Schüler kennt; allerdings gehört dazu, daß er auch ihre häuslichen Verhältnisse
und die daraus entstandnen Vorstellungen kenne.

In einer solchen Volksschule oder untern Gymnasialklasse ist gar kein be¬
sondrer Religionsunterricht notwendig. Erkenntnis Gottes ist nicht möglich
ohne Erkenntnis der Welt, in der er sich offenbart, ja sie ist von dieser gar
nicht verschieden. Indem der Lehrer den Kindern die Welt zeigt, zeigt er ihnen
Gott, er braucht den Namen nur an der richtigen Stelle zu nennen, die Dinge
als Geschöpfe Gottes, die Naturordnung als göttliche Ordnung zu bezeichnen.
Das raubt auch gar keine Zeit, denn es ist ja nicht notwendig, würde im
Gegenteil zweckwidrig sein, wenn man nach Nennung des heiligen Namens erst
noch durch langes Salbadern die Empfindungen der Liebe, Furcht und Ehr¬
furcht erwecken wollte. Ist es nötig, über das Genie des Baumeisters zu
salbadern, wenn man den Dom oder Palast zeigt, den er gebaut hat, über die
Kunstfertigkeit des Ingenieurs, der eine wunderbare neue Maschine konstruirt
hat, über die Güte eines Wohlthäters, der ohne jede Verpflichtung einem Armen
den Lebensunterhalt spendet? Empfindungen werden nicht durch Worte geweckt,
sondern durch Dinge und Erfahrungen, durch Worte nur insofern, als sie ent¬
weder an eine Erfahrung erinnern oder die Bedeutung einer nicht gehörig ver-
standnen Erfahrung klar machen; salbungsvolles Geschwätz verdünnt die Empfin¬
dung und schwemmt sie fort. Auch ist ein gesunder Mensch, und zumal im
kindlichen Alter, gar nicht imstande, eine starke Empfindung längere Zeit in
der Weise festzuhalten, daß er mit seinen Gedanken dabei verweilte und nichts
thäte als eben empfinden. Schwelgen in Empfindung ist ungesunde Empfindelei.
Die gesunde Empfindung, z. V. des Mitleids beim Anblick eines Elenden, der
Entrüstung über eine Ungerechtigkeit, der Ehrfurcht vor einem Helden, ist ein
Stoß, der die Seele zu einer That oder einem Entschlüsse treibt, sie aber nicht
abhält, unmittelbar darauf zu andern Gedanken oder Thätigkeiten überzugehen
und nur eine diese Thätigkeiten nicht störende Stimmung zurückläßt. Sache
des Lehrers ist es nun, den Seelen seiner Schüler von Zeit zu Zeit bei,
passenden Gelegenheiten einen solchen Stoß oder Ruck zu versetzen, indem er
eine ihrer Erfahrungen benutzt. Das kann fast bei jedem Worte geschehen, das
im Unterricht vorkommt, bei dem Worte Brot, oder Vater, oder Vaterland,
oder Schicksal, oder Krankheit, oder Fabrik, oder Bergwerk. Nicht jedes Kind
ist jeder Empfindung fähig, weil nicht jedes dieselben Erfahrungen gemacht
hat; das Kind eines Grubenarbeiters hat ganz andre Erfahrungen gemacht als
das eines wohlhabenden Kaufmanns, und ein Kind, das einen versoffnen, lieber-


Religionsunterricht

endlich jede neue Erkenntnis mit den im Kopfe des Schülers schon vorhandnen
Erkenntnissen in organische Verbindung gebracht wird (Erkenntnisse, die nur
„auswendig" gelernt, nicht in den schon vorhandnen Seeleninhalt verwebt und
mit verwandten Erkenntnissen sest verbunden werden, sind Spreu, die der Wind
verweht), was der Lehrer leicht thun kann, weil er den Vorstellungskreis seiner
Schüler kennt; allerdings gehört dazu, daß er auch ihre häuslichen Verhältnisse
und die daraus entstandnen Vorstellungen kenne.

In einer solchen Volksschule oder untern Gymnasialklasse ist gar kein be¬
sondrer Religionsunterricht notwendig. Erkenntnis Gottes ist nicht möglich
ohne Erkenntnis der Welt, in der er sich offenbart, ja sie ist von dieser gar
nicht verschieden. Indem der Lehrer den Kindern die Welt zeigt, zeigt er ihnen
Gott, er braucht den Namen nur an der richtigen Stelle zu nennen, die Dinge
als Geschöpfe Gottes, die Naturordnung als göttliche Ordnung zu bezeichnen.
Das raubt auch gar keine Zeit, denn es ist ja nicht notwendig, würde im
Gegenteil zweckwidrig sein, wenn man nach Nennung des heiligen Namens erst
noch durch langes Salbadern die Empfindungen der Liebe, Furcht und Ehr¬
furcht erwecken wollte. Ist es nötig, über das Genie des Baumeisters zu
salbadern, wenn man den Dom oder Palast zeigt, den er gebaut hat, über die
Kunstfertigkeit des Ingenieurs, der eine wunderbare neue Maschine konstruirt
hat, über die Güte eines Wohlthäters, der ohne jede Verpflichtung einem Armen
den Lebensunterhalt spendet? Empfindungen werden nicht durch Worte geweckt,
sondern durch Dinge und Erfahrungen, durch Worte nur insofern, als sie ent¬
weder an eine Erfahrung erinnern oder die Bedeutung einer nicht gehörig ver-
standnen Erfahrung klar machen; salbungsvolles Geschwätz verdünnt die Empfin¬
dung und schwemmt sie fort. Auch ist ein gesunder Mensch, und zumal im
kindlichen Alter, gar nicht imstande, eine starke Empfindung längere Zeit in
der Weise festzuhalten, daß er mit seinen Gedanken dabei verweilte und nichts
thäte als eben empfinden. Schwelgen in Empfindung ist ungesunde Empfindelei.
Die gesunde Empfindung, z. V. des Mitleids beim Anblick eines Elenden, der
Entrüstung über eine Ungerechtigkeit, der Ehrfurcht vor einem Helden, ist ein
Stoß, der die Seele zu einer That oder einem Entschlüsse treibt, sie aber nicht
abhält, unmittelbar darauf zu andern Gedanken oder Thätigkeiten überzugehen
und nur eine diese Thätigkeiten nicht störende Stimmung zurückläßt. Sache
des Lehrers ist es nun, den Seelen seiner Schüler von Zeit zu Zeit bei,
passenden Gelegenheiten einen solchen Stoß oder Ruck zu versetzen, indem er
eine ihrer Erfahrungen benutzt. Das kann fast bei jedem Worte geschehen, das
im Unterricht vorkommt, bei dem Worte Brot, oder Vater, oder Vaterland,
oder Schicksal, oder Krankheit, oder Fabrik, oder Bergwerk. Nicht jedes Kind
ist jeder Empfindung fähig, weil nicht jedes dieselben Erfahrungen gemacht
hat; das Kind eines Grubenarbeiters hat ganz andre Erfahrungen gemacht als
das eines wohlhabenden Kaufmanns, und ein Kind, das einen versoffnen, lieber-


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[0216] Religionsunterricht endlich jede neue Erkenntnis mit den im Kopfe des Schülers schon vorhandnen Erkenntnissen in organische Verbindung gebracht wird (Erkenntnisse, die nur „auswendig" gelernt, nicht in den schon vorhandnen Seeleninhalt verwebt und mit verwandten Erkenntnissen sest verbunden werden, sind Spreu, die der Wind verweht), was der Lehrer leicht thun kann, weil er den Vorstellungskreis seiner Schüler kennt; allerdings gehört dazu, daß er auch ihre häuslichen Verhältnisse und die daraus entstandnen Vorstellungen kenne. In einer solchen Volksschule oder untern Gymnasialklasse ist gar kein be¬ sondrer Religionsunterricht notwendig. Erkenntnis Gottes ist nicht möglich ohne Erkenntnis der Welt, in der er sich offenbart, ja sie ist von dieser gar nicht verschieden. Indem der Lehrer den Kindern die Welt zeigt, zeigt er ihnen Gott, er braucht den Namen nur an der richtigen Stelle zu nennen, die Dinge als Geschöpfe Gottes, die Naturordnung als göttliche Ordnung zu bezeichnen. Das raubt auch gar keine Zeit, denn es ist ja nicht notwendig, würde im Gegenteil zweckwidrig sein, wenn man nach Nennung des heiligen Namens erst noch durch langes Salbadern die Empfindungen der Liebe, Furcht und Ehr¬ furcht erwecken wollte. Ist es nötig, über das Genie des Baumeisters zu salbadern, wenn man den Dom oder Palast zeigt, den er gebaut hat, über die Kunstfertigkeit des Ingenieurs, der eine wunderbare neue Maschine konstruirt hat, über die Güte eines Wohlthäters, der ohne jede Verpflichtung einem Armen den Lebensunterhalt spendet? Empfindungen werden nicht durch Worte geweckt, sondern durch Dinge und Erfahrungen, durch Worte nur insofern, als sie ent¬ weder an eine Erfahrung erinnern oder die Bedeutung einer nicht gehörig ver- standnen Erfahrung klar machen; salbungsvolles Geschwätz verdünnt die Empfin¬ dung und schwemmt sie fort. Auch ist ein gesunder Mensch, und zumal im kindlichen Alter, gar nicht imstande, eine starke Empfindung längere Zeit in der Weise festzuhalten, daß er mit seinen Gedanken dabei verweilte und nichts thäte als eben empfinden. Schwelgen in Empfindung ist ungesunde Empfindelei. Die gesunde Empfindung, z. V. des Mitleids beim Anblick eines Elenden, der Entrüstung über eine Ungerechtigkeit, der Ehrfurcht vor einem Helden, ist ein Stoß, der die Seele zu einer That oder einem Entschlüsse treibt, sie aber nicht abhält, unmittelbar darauf zu andern Gedanken oder Thätigkeiten überzugehen und nur eine diese Thätigkeiten nicht störende Stimmung zurückläßt. Sache des Lehrers ist es nun, den Seelen seiner Schüler von Zeit zu Zeit bei, passenden Gelegenheiten einen solchen Stoß oder Ruck zu versetzen, indem er eine ihrer Erfahrungen benutzt. Das kann fast bei jedem Worte geschehen, das im Unterricht vorkommt, bei dem Worte Brot, oder Vater, oder Vaterland, oder Schicksal, oder Krankheit, oder Fabrik, oder Bergwerk. Nicht jedes Kind ist jeder Empfindung fähig, weil nicht jedes dieselben Erfahrungen gemacht hat; das Kind eines Grubenarbeiters hat ganz andre Erfahrungen gemacht als das eines wohlhabenden Kaufmanns, und ein Kind, das einen versoffnen, lieber-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/216>, abgerufen am 29.12.2024.