Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.Religionsunterricht "Deine Geschenke behalte dir, und deines Hauses Schätze gieb einem andern; Grenzboten III 1897 2g
Religionsunterricht „Deine Geschenke behalte dir, und deines Hauses Schätze gieb einem andern; Grenzboten III 1897 2g
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0161" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225747"/> <fw type="header" place="top"> Religionsunterricht</fw><lb/> <p xml:id="ID_382" prev="#ID_381" next="#ID_383"> „Deine Geschenke behalte dir, und deines Hauses Schätze gieb einem andern;<lb/> die Schrift aber, o König, will ich dir lesen und, was sie bedeutet, ver¬<lb/> künden: Mene usw." Also das wars nicht, sondern viel andres. Allerlei<lb/> Erinnerungen zogen an mir vorüber. Ich trete in eine katholische Schule.<lb/> Gretel, ruft eben der Lehrer, sag die sieben Todsünden auf! Gretel schnellt<lb/> in die Höhe und schmettert, bei jeder Todsünde an der Spitze ihrer Schütze<lb/> zupfend, heraus: erstens Hoffart, zweitens Geiz, drittens Unpaischeit — Un-<lb/> keuschheit heißes . . . Untaischheit, viertens Neid — Unkeuschheit sollst du<lb/> sagen; Unschaikeit, fünftens Fraß und Völlerei .... Ein Glück ists noch,<lb/> wenn ein alter Pfarrer dabei steht und dem eifrigen jungen Kaplan oder<lb/> Lehrer zuflüstert: So lassen Sie doch das Müdel mit dem häßlichen Wort<lb/> zufrieden und seien Sie froh, wenn sie es herunterschnattert, ohne erst drauf<lb/> aufmerksam zu werden und am Ende gar nach der Bedeutung zu fragen!<lb/> Wir treten nebenan in die evangelische Schule. Da schreit eben ein munterer<lb/> Junge (er ist ganz stolz darauf, daß er die lange Antwort „auswendig"<lb/> kann): „Ich glaube, daß Jesus Christus .... mein Herr sei, der mich Ver¬<lb/> lornen und verdammten Menschen usw. Mich Verlornen und verdammten<lb/> Menschen! So mag ein älterer Mann, der sich mancher Missethat bewußt<lb/> ist und lange schon die Achtung vor sich selber verloren haf, sein Verhältnis<lb/> zu Christus empfinden,; aber dieses Kind, das der Schöpfer aus der Fülle<lb/> seiner Liebe geschaffen hat, das mit der Bereitschaft zu allem Guten, mit<lb/> einem geraden, offnen Sinn, mit- einer Welt froher Hoffnungen im Herzen<lb/> ins Leben tritt — dieses Kind ein Verlorner, verdammter Mensch! Werden<lb/> kann es — leider! — einer; von Haus aus ist es wahrlich keiner. Wir<lb/> gehen eine Klasse weiter. Hier heult ein Junge: „Bleibet ihr hier, ihr Esel!"<lb/> Worauf es knallt, der Junge aber noch mehr heult und noch kläglicher jammert:<lb/> „Bleibet ihr hier, ihr Knaben!" Denken Sie, vertraut uns der Lehrer an,<lb/> der aussieht, wie ein Soldat nach einer erschöpfenden Felddienstübung, „drei¬<lb/> viertel Stunden habe ich mich abgerackert, und immer noch giebt es ein paar<lb/> unter den Bengeln, die den Satz noch nicht ordentlich nachsagen können:<lb/> Bleibet ihr hier mit dem Esel; ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und<lb/> wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Und —<lb/> o Gott, o Gott! — ich fürchte, morgen kommt der Kreisschulinspektor!"<lb/> Bleibet ihr hier, ihr Esel, denken wir und gehen weiter. Aus der höhern<lb/> Töchterschule kommt eben der Pastor heraus, das feine, geistvolle Gesicht in<lb/> schwermütige Falten gelegt. „Denken Sie sich, klagt er, eine volle halbe Stunde<lb/> habe ich heute gebraucht, um einem unfähigen Mädchen die erste Strophe<lb/> des stundenplanmäßigen Liedes einzuprägen!" Was doch für wunderliche<lb/> Früchte am Baume der modernen Kultur wachsen! Da sitzen und schwitzen sehr<lb/> vornehme, sehr wohlwollende, sehr gescheite und hochgelehrte Männer in eifriger<lb/> Pflichterfüllung zusammen und bringen einen Schulplan zustande, und dieser</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1897 2g</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0161]
Religionsunterricht
„Deine Geschenke behalte dir, und deines Hauses Schätze gieb einem andern;
die Schrift aber, o König, will ich dir lesen und, was sie bedeutet, ver¬
künden: Mene usw." Also das wars nicht, sondern viel andres. Allerlei
Erinnerungen zogen an mir vorüber. Ich trete in eine katholische Schule.
Gretel, ruft eben der Lehrer, sag die sieben Todsünden auf! Gretel schnellt
in die Höhe und schmettert, bei jeder Todsünde an der Spitze ihrer Schütze
zupfend, heraus: erstens Hoffart, zweitens Geiz, drittens Unpaischeit — Un-
keuschheit heißes . . . Untaischheit, viertens Neid — Unkeuschheit sollst du
sagen; Unschaikeit, fünftens Fraß und Völlerei .... Ein Glück ists noch,
wenn ein alter Pfarrer dabei steht und dem eifrigen jungen Kaplan oder
Lehrer zuflüstert: So lassen Sie doch das Müdel mit dem häßlichen Wort
zufrieden und seien Sie froh, wenn sie es herunterschnattert, ohne erst drauf
aufmerksam zu werden und am Ende gar nach der Bedeutung zu fragen!
Wir treten nebenan in die evangelische Schule. Da schreit eben ein munterer
Junge (er ist ganz stolz darauf, daß er die lange Antwort „auswendig"
kann): „Ich glaube, daß Jesus Christus .... mein Herr sei, der mich Ver¬
lornen und verdammten Menschen usw. Mich Verlornen und verdammten
Menschen! So mag ein älterer Mann, der sich mancher Missethat bewußt
ist und lange schon die Achtung vor sich selber verloren haf, sein Verhältnis
zu Christus empfinden,; aber dieses Kind, das der Schöpfer aus der Fülle
seiner Liebe geschaffen hat, das mit der Bereitschaft zu allem Guten, mit
einem geraden, offnen Sinn, mit- einer Welt froher Hoffnungen im Herzen
ins Leben tritt — dieses Kind ein Verlorner, verdammter Mensch! Werden
kann es — leider! — einer; von Haus aus ist es wahrlich keiner. Wir
gehen eine Klasse weiter. Hier heult ein Junge: „Bleibet ihr hier, ihr Esel!"
Worauf es knallt, der Junge aber noch mehr heult und noch kläglicher jammert:
„Bleibet ihr hier, ihr Knaben!" Denken Sie, vertraut uns der Lehrer an,
der aussieht, wie ein Soldat nach einer erschöpfenden Felddienstübung, „drei¬
viertel Stunden habe ich mich abgerackert, und immer noch giebt es ein paar
unter den Bengeln, die den Satz noch nicht ordentlich nachsagen können:
Bleibet ihr hier mit dem Esel; ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und
wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Und —
o Gott, o Gott! — ich fürchte, morgen kommt der Kreisschulinspektor!"
Bleibet ihr hier, ihr Esel, denken wir und gehen weiter. Aus der höhern
Töchterschule kommt eben der Pastor heraus, das feine, geistvolle Gesicht in
schwermütige Falten gelegt. „Denken Sie sich, klagt er, eine volle halbe Stunde
habe ich heute gebraucht, um einem unfähigen Mädchen die erste Strophe
des stundenplanmäßigen Liedes einzuprägen!" Was doch für wunderliche
Früchte am Baume der modernen Kultur wachsen! Da sitzen und schwitzen sehr
vornehme, sehr wohlwollende, sehr gescheite und hochgelehrte Männer in eifriger
Pflichterfüllung zusammen und bringen einen Schulplan zustande, und dieser
Grenzboten III 1897 2g
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