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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Zeitgeist im Heere

Entschluß statt der tappenden Unsicherheit, und das ernste Streben nach
bleibenden Errungenschaften muß das ängstliche Hasten nach trügerischen Ein¬
tagserfolgen wieder verdrängen. Die Individualität muß wieder zu ihrem
Rechte kommen. Wer nichts weiter gelernt hat, als sich sklavisch dem Willen
oder der Laune eines Vorgesetzten zu beugen, wird, wenn er vor eine große Ent¬
scheidung gestellt wird, kläglich versagen. Aus der Rumpelkammer, in deren
Dunkel es jetzt versteckt ist, hole man so bald als möglich das Rüstzeug her¬
vor, das der polternde alte Soldatenkönig einst seinem Offizierkorps geschmiedet,
das niemals versagt hat und auch jetzt noch, wo es beim alten Eisen liegt,
seine Wunderkraft stetig bewährt: Ehrenhaftigkeit, Pflichttreue, Entsagung.

In diesem Sinne erziehe man auch die militärische Jugend, der diese
Ideale abhanden zu kommeu drohen. In frühern Zeiten, als der Adel und
das hohe Beamtentum allein darauf Anspruch hatten, ihre Söhne als Offiziere
dienen zu lassen, war die Notwendigkeit einer besondern Erziehung minder
groß; denn der Knabe wuchs schon in dem Kreise auf, in dem er später sein
Leben verbringen sollte, und war bei seinem Eintritt in das Heer mit den
Anschauungen des Offizierstandes fast ganz vertraut. Heute haben sich diese
Verhältnisse vollständig geändert. Nur zum kleinsten Teil ergänzt sich das
Offizierkorps noch in der frühern Weise, denn infolge des steten Anwachsens
der Armee ist die viel beneidete Laufbahn der Gesamtheit des gebildeten
Bürgertums erschlossen worden. Das frische Blut, das auf diese Weise dem
Heere zuströmt, ist ihm ohne Zweifel sehr förderlich, denn die jungen Leute
sind im Durchschnitt begabt und -- wie jeder Neuling -- strebsam. Aber
es fehlt ihnen die militärische Erziehung. Während der Fähnrichszeit werden
sie nur notdürftig zurechtgestutzt, nachher aber hört jede Unterweisung auf;
wie sich ein jeder in den neuen Verhältnissen zurechtfindet, ist seine Sache,
und so lange alles glatt geht, ist das ja auch ganz schön. Wenn aber einem
schwierigen Fall gegenüber der Neuling ratlos ist und, weil doch die Lage zu
einer Entscheidung drängt, aus Unkenntnis den falschen Weg wählt, dann
wird gar schnell über den argen Sünder der Stab gebrochen, und an die
eigne Mitschuld zu glauben kommt niemand in den Sinn. Und doch ist die
Gesamtheit an der That des Einzelnen nicht ganz unverantwortlich; selbst das
Geschick eines Brüsewitz entbehrt, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, trotz
seiner zweifellosen Schuld nicht einer gewissen Tragik.

Warum solche Fragen hier erörtert werden? Weil es das beste Mittel
ist, die Mißstände, unter denen die Armee leidet, zu beseitigen. Ohne einen
äußern Anstoß, aus sich selbst heraus, würde sie schwerlich dazu schreiten; je
eher sie aber mit ihrer Regeneration beginnt, desto besser. Heute steht ihr
noch eine so reiche Fülle sittlicher Kraft zu Gebote, daß sie nur eines ge¬
ringen Maßes von Selbsterkenntnis und Selbstzucht bedarf, um wieder zu
gesunden. Später wird der Heilungsprozeß schwieriger sein.


Der Zeitgeist im Heere

Entschluß statt der tappenden Unsicherheit, und das ernste Streben nach
bleibenden Errungenschaften muß das ängstliche Hasten nach trügerischen Ein¬
tagserfolgen wieder verdrängen. Die Individualität muß wieder zu ihrem
Rechte kommen. Wer nichts weiter gelernt hat, als sich sklavisch dem Willen
oder der Laune eines Vorgesetzten zu beugen, wird, wenn er vor eine große Ent¬
scheidung gestellt wird, kläglich versagen. Aus der Rumpelkammer, in deren
Dunkel es jetzt versteckt ist, hole man so bald als möglich das Rüstzeug her¬
vor, das der polternde alte Soldatenkönig einst seinem Offizierkorps geschmiedet,
das niemals versagt hat und auch jetzt noch, wo es beim alten Eisen liegt,
seine Wunderkraft stetig bewährt: Ehrenhaftigkeit, Pflichttreue, Entsagung.

In diesem Sinne erziehe man auch die militärische Jugend, der diese
Ideale abhanden zu kommeu drohen. In frühern Zeiten, als der Adel und
das hohe Beamtentum allein darauf Anspruch hatten, ihre Söhne als Offiziere
dienen zu lassen, war die Notwendigkeit einer besondern Erziehung minder
groß; denn der Knabe wuchs schon in dem Kreise auf, in dem er später sein
Leben verbringen sollte, und war bei seinem Eintritt in das Heer mit den
Anschauungen des Offizierstandes fast ganz vertraut. Heute haben sich diese
Verhältnisse vollständig geändert. Nur zum kleinsten Teil ergänzt sich das
Offizierkorps noch in der frühern Weise, denn infolge des steten Anwachsens
der Armee ist die viel beneidete Laufbahn der Gesamtheit des gebildeten
Bürgertums erschlossen worden. Das frische Blut, das auf diese Weise dem
Heere zuströmt, ist ihm ohne Zweifel sehr förderlich, denn die jungen Leute
sind im Durchschnitt begabt und — wie jeder Neuling — strebsam. Aber
es fehlt ihnen die militärische Erziehung. Während der Fähnrichszeit werden
sie nur notdürftig zurechtgestutzt, nachher aber hört jede Unterweisung auf;
wie sich ein jeder in den neuen Verhältnissen zurechtfindet, ist seine Sache,
und so lange alles glatt geht, ist das ja auch ganz schön. Wenn aber einem
schwierigen Fall gegenüber der Neuling ratlos ist und, weil doch die Lage zu
einer Entscheidung drängt, aus Unkenntnis den falschen Weg wählt, dann
wird gar schnell über den argen Sünder der Stab gebrochen, und an die
eigne Mitschuld zu glauben kommt niemand in den Sinn. Und doch ist die
Gesamtheit an der That des Einzelnen nicht ganz unverantwortlich; selbst das
Geschick eines Brüsewitz entbehrt, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, trotz
seiner zweifellosen Schuld nicht einer gewissen Tragik.

Warum solche Fragen hier erörtert werden? Weil es das beste Mittel
ist, die Mißstände, unter denen die Armee leidet, zu beseitigen. Ohne einen
äußern Anstoß, aus sich selbst heraus, würde sie schwerlich dazu schreiten; je
eher sie aber mit ihrer Regeneration beginnt, desto besser. Heute steht ihr
noch eine so reiche Fülle sittlicher Kraft zu Gebote, daß sie nur eines ge¬
ringen Maßes von Selbsterkenntnis und Selbstzucht bedarf, um wieder zu
gesunden. Später wird der Heilungsprozeß schwieriger sein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/72>, abgerufen am 23.07.2024.