Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.Religion und Geschichte Tiefe. So groß der Einfluß Voltaires, Rousseaus und der Encyklopädisten Auf dem Boden der Einzelreligion wird man begreiflicherweise leicht und Erwiese sich also unser heutiges Geschlecht als unfähig zur Religion, als Was ist denn nen an dem Verhalten unsrer Zeit zur Religion? Eins Grenzboten II 18V7 78
Religion und Geschichte Tiefe. So groß der Einfluß Voltaires, Rousseaus und der Encyklopädisten Auf dem Boden der Einzelreligion wird man begreiflicherweise leicht und Erwiese sich also unser heutiges Geschlecht als unfähig zur Religion, als Was ist denn nen an dem Verhalten unsrer Zeit zur Religion? Eins Grenzboten II 18V7 78
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0625" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225553"/> <fw type="header" place="top"> Religion und Geschichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_1944" prev="#ID_1943"> Tiefe. So groß der Einfluß Voltaires, Rousseaus und der Encyklopädisten<lb/> auf die Gebildeten gewesen ist, dein Volke blieben diese Schriftsteller ziemlich<lb/> unbekannt. Bis in die Schreckenstage hinein gab es in Frankreich volle Kirchen.<lb/> Eine andre Periode, der man es gern zutraut, daß die Religion und ihr<lb/> Herrschaftsanspruch damals ganz am Boden gelegen habe, die der griechisch¬<lb/> römischen Welt im Zeitalter Christi, zeigt genau besehen das Gegenteil. Wer<lb/> kennt nicht Catos Wort von den Auguren, die aus Vogelflug und Eingeweiden<lb/> den Willen der Götter herausdeutete«, sie könnten sich nicht begegnen, ohne<lb/> einander ins Angesicht zu lachen? Und es ist ja Thatsache, daß im letzten<lb/> vorchristlichen Jahrhundert Philosophie und ein Zug der Zeit die Gebildeten<lb/> in Rom und Griechenland zu Freigeistern machten. Aber nie hat die rkliAio,<lb/> d. i. die gewissenhafte Beobachtung des Kultus aufgehört, nie haben der Staat<lb/> und das Volk aufgehört ihre Götter zu ehren, und jenein Niedergang ist eine<lb/> Zeit erstaunlicher Neubelebung gefolgt in der römisch-griechisch-ügyptisch-<lb/> shrischen Mischrcligion der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Das junge<lb/> Christentum ist keineswegs eingetreten in eine Welt ausgebrannter Gottlosig¬<lb/> keit, sondern im Gegenteil hochgradiger religiöser Erregung, und die griechisch¬<lb/> römisch-ägyptische Mischreligion ist also, worauf es uns hier ankommt, nicht<lb/> zunächst vom Atheismus, sondern unmittelbar von einer neuen Religion ab¬<lb/> gelöst worden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1945"> Auf dem Boden der Einzelreligion wird man begreiflicherweise leicht und<lb/> mit Recht von Abfall oder Gottlosigkeit reden. Aber die Geschichte der Reli¬<lb/> gionen kennt bisher nur einen Wechsel der Religionsformen, nicht ein thatsäch¬<lb/> liches Aufhören „der Religion" in irgend einem Volte oder Zeitalter.</p><lb/> <p xml:id="ID_1946"> Erwiese sich also unser heutiges Geschlecht als unfähig zur Religion, als<lb/> religionslos, auch nur innerhalb der Grenzen einer Nation, so würde dies<lb/> geschichtlich etwas völlig neues bedeuten. Die Möglichkeit einer solchen<lb/> Wendung kann niemand leugnen, es gilt also die Thatsachenfrcige.</p><lb/> <p xml:id="ID_1947" next="#ID_1948"> Was ist denn nen an dem Verhalten unsrer Zeit zur Religion? Eins<lb/> in der That ist so noch nicht dagewesen. Jene religivnSfeindliche Stimmung<lb/> und Weltanschauung, die mehr oder minder die religiöse Entwicklung in allen<lb/> Kulturvölker,: begleitet, ist heute wie noch niemals in die Tiefe der Volksseele<lb/> eingedrungen. Den Gelehrten und Gebildeten unter uns, die die Religion<lb/> ablehnen, stehen vielleicht fester und zahlreicher als in frühern Zeiten andre<lb/> gegenüber, die sie haben und anerkennen. Aber das Volk, die Masse, der<lb/> Grund und Boden, in dem die Religionen alle ihre breiten Wurzeln treiben,<lb/> ist in einem noch nicht dagewesenen Maße durchwühlt. Drei Mächten haben<lb/> wir das zu danken: der Volksschule, der Tagespresse und der Sozialdemokratie.<lb/> Der Volksschule, indem sie jedermann lesen, schreiben und rechnen lehrt, der Tages¬<lb/> presse, indem sie dem so Gebildeten eine Menge sonst unzugänglichen Wissens¬<lb/> und Denkstoffes zuführt, der Sozialdemokratie, indem sie dieses Geschäft der</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 18V7 78</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0625]
Religion und Geschichte
Tiefe. So groß der Einfluß Voltaires, Rousseaus und der Encyklopädisten
auf die Gebildeten gewesen ist, dein Volke blieben diese Schriftsteller ziemlich
unbekannt. Bis in die Schreckenstage hinein gab es in Frankreich volle Kirchen.
Eine andre Periode, der man es gern zutraut, daß die Religion und ihr
Herrschaftsanspruch damals ganz am Boden gelegen habe, die der griechisch¬
römischen Welt im Zeitalter Christi, zeigt genau besehen das Gegenteil. Wer
kennt nicht Catos Wort von den Auguren, die aus Vogelflug und Eingeweiden
den Willen der Götter herausdeutete«, sie könnten sich nicht begegnen, ohne
einander ins Angesicht zu lachen? Und es ist ja Thatsache, daß im letzten
vorchristlichen Jahrhundert Philosophie und ein Zug der Zeit die Gebildeten
in Rom und Griechenland zu Freigeistern machten. Aber nie hat die rkliAio,
d. i. die gewissenhafte Beobachtung des Kultus aufgehört, nie haben der Staat
und das Volk aufgehört ihre Götter zu ehren, und jenein Niedergang ist eine
Zeit erstaunlicher Neubelebung gefolgt in der römisch-griechisch-ügyptisch-
shrischen Mischrcligion der ersten nachchristlichen Jahrhunderte. Das junge
Christentum ist keineswegs eingetreten in eine Welt ausgebrannter Gottlosig¬
keit, sondern im Gegenteil hochgradiger religiöser Erregung, und die griechisch¬
römisch-ägyptische Mischreligion ist also, worauf es uns hier ankommt, nicht
zunächst vom Atheismus, sondern unmittelbar von einer neuen Religion ab¬
gelöst worden.
Auf dem Boden der Einzelreligion wird man begreiflicherweise leicht und
mit Recht von Abfall oder Gottlosigkeit reden. Aber die Geschichte der Reli¬
gionen kennt bisher nur einen Wechsel der Religionsformen, nicht ein thatsäch¬
liches Aufhören „der Religion" in irgend einem Volte oder Zeitalter.
Erwiese sich also unser heutiges Geschlecht als unfähig zur Religion, als
religionslos, auch nur innerhalb der Grenzen einer Nation, so würde dies
geschichtlich etwas völlig neues bedeuten. Die Möglichkeit einer solchen
Wendung kann niemand leugnen, es gilt also die Thatsachenfrcige.
Was ist denn nen an dem Verhalten unsrer Zeit zur Religion? Eins
in der That ist so noch nicht dagewesen. Jene religivnSfeindliche Stimmung
und Weltanschauung, die mehr oder minder die religiöse Entwicklung in allen
Kulturvölker,: begleitet, ist heute wie noch niemals in die Tiefe der Volksseele
eingedrungen. Den Gelehrten und Gebildeten unter uns, die die Religion
ablehnen, stehen vielleicht fester und zahlreicher als in frühern Zeiten andre
gegenüber, die sie haben und anerkennen. Aber das Volk, die Masse, der
Grund und Boden, in dem die Religionen alle ihre breiten Wurzeln treiben,
ist in einem noch nicht dagewesenen Maße durchwühlt. Drei Mächten haben
wir das zu danken: der Volksschule, der Tagespresse und der Sozialdemokratie.
Der Volksschule, indem sie jedermann lesen, schreiben und rechnen lehrt, der Tages¬
presse, indem sie dem so Gebildeten eine Menge sonst unzugänglichen Wissens¬
und Denkstoffes zuführt, der Sozialdemokratie, indem sie dieses Geschäft der
Grenzboten II 18V7 78
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |