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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

Masse der Fortpslanzungsmasse. Jene wird immer weiter differenzirt, und
die Glieder und Organe, in die sie sich sondert, werden zu den verschieden¬
artigsten Verrichtungen befähigt, die Differenzirung der Fortpslanzungsmasse
aber begründet den Unterschied der Geschlechter. Doch immer noch bleibt die
Fortpflanzung die wichtigste Aufgabe des Organismus, was sich darin zeigt,
daß das Tier meistens bald nach der Fortpflanzung stirbt.^) Man sieht, auf
diesen untersten Stufen ist das Individuum wirklich nur für die Gattung da.
Aber auch diese ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern um der höhern
Gattungen willen, die aus ihr hervorgehen sollen. Die Welt der niedern
Lebewesen hat also den Zweck, so viel wie möglich anorganischen Stoff in
organischen zu verwandeln, die höhern Organisatiousfvrmen vvrzubreiten und
ihnen als Wurzel- und Nährboden zu dienen. Auf den höhern Stufen gewinnt
das Individuum Bedeutung für sich. Sein Vermögen, Schmerz- und Lust¬
gefühle zu bekunden, beweist, daß es solche Gefühle hat, also es zu einem
Innenleben gebracht hat. Gleichzeitig erfüllt es eine Menge Sonderzwecke im
Dienste des Menschen, dem es Milch, Wolle, Fleisch, Honig und tausend andre
nützliche Dinge bereitet, Lasten trägt, durch Mannichfaltigkeit der Formen und
durch bunte Farben Vergnügen macht und Anregungen zum Nachdenken wie
zur Thätigkeit darbietet. Bei deu höchsten Tieren tritt die Individualität
immer kräftiger hervor. Bei ihnen ist gar nicht mehr daran zu denken, daß
die Erhaltung und Vermehrung ihrer Art ihr einziger oder auch nur ihr
Hauptzweck wäre. Sie vergnügen sich mit Gesang und Spiel, üben verschieden¬
artige Thätigkeiten aus und zeigen Interesse für alles, was in ihrer Umgebung
vorgeht, namentlich für das Treiben der Menschen. Der einzelne Papagei,
der einzelne Hund, der einzelne Affe unterscheidet sich deutlich von allen andern
Tieren derselben Art und zeigt Charakter; die Tiere treten in ein auf Gegen¬
seitigkeit beruhendes Freundschaftsverhältnis zum Menschen, und wir finden es
natürlich, über den Tod eines gezähmten Bögclchens, eines treuen und klugen
Hundes, eines wackern Rosses zu trauern. Im Menschen endlich hat sich das
geistige Leben zu einem Reichtum entwickelt, der es uns unwahrscheinlich macht,
daß er beim Zerfall des Leibes ins Nichts verschwinden sollte; ein höherer
Same als der des oben erwähnten sackartigen Tierchens ist es, den die zer¬
fallende Hülle aus sich entläßt: ein unsterblicher Geist. Der einzelne Mensch
ist eine Persönlichkeit und hat eine Bedeutung für sich ohne jede Rücksicht
auf die Gattung. Zwar ist er nicht ein sich selbst genügender Gott, ohne seine



") Wie Weismann in der geistvollen und scharfsinnigen Abhandlung: Über Leben und
Tod zeigt, sind die einzelligen Wesen unsterblich, d, h, sie können zwar durch eine äußere
Gewalt vernichtet werden, aber in ihnen selbst liegt kein Todeskeim. Der Tod tritt erst bei
den mehrzelligen Wesen ein und besteht im Zerfall des Soma; diese Einrichtung ist nach ihm
von der Natur getroffen worden, um durch Beseitigung der abgenutzten Leiber, die ihren Zweck
erfüllt haben, den jungen Bildungen Raum zu schaffen.
vom Neudarwinismus

Masse der Fortpslanzungsmasse. Jene wird immer weiter differenzirt, und
die Glieder und Organe, in die sie sich sondert, werden zu den verschieden¬
artigsten Verrichtungen befähigt, die Differenzirung der Fortpslanzungsmasse
aber begründet den Unterschied der Geschlechter. Doch immer noch bleibt die
Fortpflanzung die wichtigste Aufgabe des Organismus, was sich darin zeigt,
daß das Tier meistens bald nach der Fortpflanzung stirbt.^) Man sieht, auf
diesen untersten Stufen ist das Individuum wirklich nur für die Gattung da.
Aber auch diese ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern um der höhern
Gattungen willen, die aus ihr hervorgehen sollen. Die Welt der niedern
Lebewesen hat also den Zweck, so viel wie möglich anorganischen Stoff in
organischen zu verwandeln, die höhern Organisatiousfvrmen vvrzubreiten und
ihnen als Wurzel- und Nährboden zu dienen. Auf den höhern Stufen gewinnt
das Individuum Bedeutung für sich. Sein Vermögen, Schmerz- und Lust¬
gefühle zu bekunden, beweist, daß es solche Gefühle hat, also es zu einem
Innenleben gebracht hat. Gleichzeitig erfüllt es eine Menge Sonderzwecke im
Dienste des Menschen, dem es Milch, Wolle, Fleisch, Honig und tausend andre
nützliche Dinge bereitet, Lasten trägt, durch Mannichfaltigkeit der Formen und
durch bunte Farben Vergnügen macht und Anregungen zum Nachdenken wie
zur Thätigkeit darbietet. Bei deu höchsten Tieren tritt die Individualität
immer kräftiger hervor. Bei ihnen ist gar nicht mehr daran zu denken, daß
die Erhaltung und Vermehrung ihrer Art ihr einziger oder auch nur ihr
Hauptzweck wäre. Sie vergnügen sich mit Gesang und Spiel, üben verschieden¬
artige Thätigkeiten aus und zeigen Interesse für alles, was in ihrer Umgebung
vorgeht, namentlich für das Treiben der Menschen. Der einzelne Papagei,
der einzelne Hund, der einzelne Affe unterscheidet sich deutlich von allen andern
Tieren derselben Art und zeigt Charakter; die Tiere treten in ein auf Gegen¬
seitigkeit beruhendes Freundschaftsverhältnis zum Menschen, und wir finden es
natürlich, über den Tod eines gezähmten Bögclchens, eines treuen und klugen
Hundes, eines wackern Rosses zu trauern. Im Menschen endlich hat sich das
geistige Leben zu einem Reichtum entwickelt, der es uns unwahrscheinlich macht,
daß er beim Zerfall des Leibes ins Nichts verschwinden sollte; ein höherer
Same als der des oben erwähnten sackartigen Tierchens ist es, den die zer¬
fallende Hülle aus sich entläßt: ein unsterblicher Geist. Der einzelne Mensch
ist eine Persönlichkeit und hat eine Bedeutung für sich ohne jede Rücksicht
auf die Gattung. Zwar ist er nicht ein sich selbst genügender Gott, ohne seine



") Wie Weismann in der geistvollen und scharfsinnigen Abhandlung: Über Leben und
Tod zeigt, sind die einzelligen Wesen unsterblich, d, h, sie können zwar durch eine äußere
Gewalt vernichtet werden, aber in ihnen selbst liegt kein Todeskeim. Der Tod tritt erst bei
den mehrzelligen Wesen ein und besteht im Zerfall des Soma; diese Einrichtung ist nach ihm
von der Natur getroffen worden, um durch Beseitigung der abgenutzten Leiber, die ihren Zweck
erfüllt haben, den jungen Bildungen Raum zu schaffen.
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[0622] vom Neudarwinismus Masse der Fortpslanzungsmasse. Jene wird immer weiter differenzirt, und die Glieder und Organe, in die sie sich sondert, werden zu den verschieden¬ artigsten Verrichtungen befähigt, die Differenzirung der Fortpslanzungsmasse aber begründet den Unterschied der Geschlechter. Doch immer noch bleibt die Fortpflanzung die wichtigste Aufgabe des Organismus, was sich darin zeigt, daß das Tier meistens bald nach der Fortpflanzung stirbt.^) Man sieht, auf diesen untersten Stufen ist das Individuum wirklich nur für die Gattung da. Aber auch diese ist nicht um ihrer selbst willen da, sondern um der höhern Gattungen willen, die aus ihr hervorgehen sollen. Die Welt der niedern Lebewesen hat also den Zweck, so viel wie möglich anorganischen Stoff in organischen zu verwandeln, die höhern Organisatiousfvrmen vvrzubreiten und ihnen als Wurzel- und Nährboden zu dienen. Auf den höhern Stufen gewinnt das Individuum Bedeutung für sich. Sein Vermögen, Schmerz- und Lust¬ gefühle zu bekunden, beweist, daß es solche Gefühle hat, also es zu einem Innenleben gebracht hat. Gleichzeitig erfüllt es eine Menge Sonderzwecke im Dienste des Menschen, dem es Milch, Wolle, Fleisch, Honig und tausend andre nützliche Dinge bereitet, Lasten trägt, durch Mannichfaltigkeit der Formen und durch bunte Farben Vergnügen macht und Anregungen zum Nachdenken wie zur Thätigkeit darbietet. Bei deu höchsten Tieren tritt die Individualität immer kräftiger hervor. Bei ihnen ist gar nicht mehr daran zu denken, daß die Erhaltung und Vermehrung ihrer Art ihr einziger oder auch nur ihr Hauptzweck wäre. Sie vergnügen sich mit Gesang und Spiel, üben verschieden¬ artige Thätigkeiten aus und zeigen Interesse für alles, was in ihrer Umgebung vorgeht, namentlich für das Treiben der Menschen. Der einzelne Papagei, der einzelne Hund, der einzelne Affe unterscheidet sich deutlich von allen andern Tieren derselben Art und zeigt Charakter; die Tiere treten in ein auf Gegen¬ seitigkeit beruhendes Freundschaftsverhältnis zum Menschen, und wir finden es natürlich, über den Tod eines gezähmten Bögclchens, eines treuen und klugen Hundes, eines wackern Rosses zu trauern. Im Menschen endlich hat sich das geistige Leben zu einem Reichtum entwickelt, der es uns unwahrscheinlich macht, daß er beim Zerfall des Leibes ins Nichts verschwinden sollte; ein höherer Same als der des oben erwähnten sackartigen Tierchens ist es, den die zer¬ fallende Hülle aus sich entläßt: ein unsterblicher Geist. Der einzelne Mensch ist eine Persönlichkeit und hat eine Bedeutung für sich ohne jede Rücksicht auf die Gattung. Zwar ist er nicht ein sich selbst genügender Gott, ohne seine ") Wie Weismann in der geistvollen und scharfsinnigen Abhandlung: Über Leben und Tod zeigt, sind die einzelligen Wesen unsterblich, d, h, sie können zwar durch eine äußere Gewalt vernichtet werden, aber in ihnen selbst liegt kein Todeskeim. Der Tod tritt erst bei den mehrzelligen Wesen ein und besteht im Zerfall des Soma; diese Einrichtung ist nach ihm von der Natur getroffen worden, um durch Beseitigung der abgenutzten Leiber, die ihren Zweck erfüllt haben, den jungen Bildungen Raum zu schaffen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/622>, abgerufen am 23.07.2024.