Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
vom Neudarwinismus

rein chemisch-physikalischen Prozessen und vitalen zu veranschaulichen, irgend
einen lebenden Organismus in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung.
Man füge jetzt lauter Atome, die mit denen des vorgestellten Organismus
völlig gleich sind, so in Gedanken aneinander, daß das aufgebaute Phantom
in jeder materiellen Beziehung mit seinem Urbilde genau übereinstimmt. Es
fragt sich nun, ob das Phantom die vitalen Funktionen wie Nahrung zu
sich nehmen, verdauen und wachsen, ganz abgesehen von den psychischen, ver¬
richten würde, die seinem Urbilde zukommen. Die Antwort lautet: nein. Das
Phantom würde nur ein Kadaver sein." Dreher glaubt deshalb, obgleich er
überzeugter Darwinianer ist, die Lebenskraft zur Erklärung der Organismen
nicht entbehren zu können, wie er denn überhaupt mit uns darin übereinstimmt,
daß es nicht Aufgabe der Wissenschaft sei, den Ursprung der Dinge und ihr
Wesen zu erklären. Auch das Wort Lebenskraft ist natürlich nur ein Name
für das große unbekannte X, für die Grundursache der durch Kausalreihen
verknüpften Dinge, die wir jedesmal aufs neue hinzudenken müssen, wenn eine
neue Kausalreihe beginnt. Weismann verspottet die Lebenskraft, aber feine
"Molekularstruktur," "Entwicklungstendenz," "physische Natur des Organis¬
mus," was sind sie andres als verschiedne Bezeichnungen derselben Sache,
einer unbekannten, im Innern des Organismus wirkenden Ursache? Die
Atome und ihre Bewegungsgesetze gegeben, können wir die Kausalreihen der
Erscheinungen der anorganischen Natur ermitteln, aber vor diesen Kausalreihen
steht die Entstehung oder die ewige Existenz der Atome, ihrer Bewegungen
und des gesetzlichen Verlaufs dieser Bewegungen, und eines wie das andre,
das wir annehmen mögen, die Entstehung oder die Existenz von Ewigkeit her,
bleibt ein Wunder, für das es keine Erklärung giebt. Die organische Zelle
vorausgesetzt, können wir den Ablauf ihres Lebens, ihre Veränderungen, ihre
Vervielfältigung verstehen, aber ihr Dasein bleibt ein Wunder. Die Ge¬
schlechtlichkeit vorausgesetzt, vermögen wir uns von der Vererbung und der
Entstehung der Arten eine Vorstellung zu machen, aber die Geschlechtlichkeit
selbst bleibt ein Wunder. So begegnet uns denn das "metaphysische Prinzip,"
das die Darwinianer zu bannen gedachten, auf Schritt und Tritt. Und die
Bannungsversuche der Naturforscher machen umso weniger Eindruck auf uns,
als diese Herren, je weiter sie fortschreiten, desto mehr uneins unter einander
werden. Wir wollen gar nicht vom alten Cuvier reden, der die Unveränderlich-
keit der Arten für bewiesen erachtete, nicht einmal von Männern wie Nägeli,
der meinte, die äußern Einflüsse brächten zwar Veränderungen an den orga¬
nische" Wesen hervor, aber sie selbst, diese Wesen, seien die Erzeugnisse einer
in ihnen gelegnen gestaltenden Kraft, und selbst wenn sich die Lebensbedingungen
gar nicht geändert hätten, würde doch die Entwicklung im großen und ganzen
nicht viel anders ausgefallen sein, als sie es ist, was Weismann einen letzten
Versuch nennt, einen letzten Rest der alten Schöpfungshypothese zu retten.


vom Neudarwinismus

rein chemisch-physikalischen Prozessen und vitalen zu veranschaulichen, irgend
einen lebenden Organismus in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung.
Man füge jetzt lauter Atome, die mit denen des vorgestellten Organismus
völlig gleich sind, so in Gedanken aneinander, daß das aufgebaute Phantom
in jeder materiellen Beziehung mit seinem Urbilde genau übereinstimmt. Es
fragt sich nun, ob das Phantom die vitalen Funktionen wie Nahrung zu
sich nehmen, verdauen und wachsen, ganz abgesehen von den psychischen, ver¬
richten würde, die seinem Urbilde zukommen. Die Antwort lautet: nein. Das
Phantom würde nur ein Kadaver sein." Dreher glaubt deshalb, obgleich er
überzeugter Darwinianer ist, die Lebenskraft zur Erklärung der Organismen
nicht entbehren zu können, wie er denn überhaupt mit uns darin übereinstimmt,
daß es nicht Aufgabe der Wissenschaft sei, den Ursprung der Dinge und ihr
Wesen zu erklären. Auch das Wort Lebenskraft ist natürlich nur ein Name
für das große unbekannte X, für die Grundursache der durch Kausalreihen
verknüpften Dinge, die wir jedesmal aufs neue hinzudenken müssen, wenn eine
neue Kausalreihe beginnt. Weismann verspottet die Lebenskraft, aber feine
„Molekularstruktur," „Entwicklungstendenz," „physische Natur des Organis¬
mus," was sind sie andres als verschiedne Bezeichnungen derselben Sache,
einer unbekannten, im Innern des Organismus wirkenden Ursache? Die
Atome und ihre Bewegungsgesetze gegeben, können wir die Kausalreihen der
Erscheinungen der anorganischen Natur ermitteln, aber vor diesen Kausalreihen
steht die Entstehung oder die ewige Existenz der Atome, ihrer Bewegungen
und des gesetzlichen Verlaufs dieser Bewegungen, und eines wie das andre,
das wir annehmen mögen, die Entstehung oder die Existenz von Ewigkeit her,
bleibt ein Wunder, für das es keine Erklärung giebt. Die organische Zelle
vorausgesetzt, können wir den Ablauf ihres Lebens, ihre Veränderungen, ihre
Vervielfältigung verstehen, aber ihr Dasein bleibt ein Wunder. Die Ge¬
schlechtlichkeit vorausgesetzt, vermögen wir uns von der Vererbung und der
Entstehung der Arten eine Vorstellung zu machen, aber die Geschlechtlichkeit
selbst bleibt ein Wunder. So begegnet uns denn das „metaphysische Prinzip,"
das die Darwinianer zu bannen gedachten, auf Schritt und Tritt. Und die
Bannungsversuche der Naturforscher machen umso weniger Eindruck auf uns,
als diese Herren, je weiter sie fortschreiten, desto mehr uneins unter einander
werden. Wir wollen gar nicht vom alten Cuvier reden, der die Unveränderlich-
keit der Arten für bewiesen erachtete, nicht einmal von Männern wie Nägeli,
der meinte, die äußern Einflüsse brächten zwar Veränderungen an den orga¬
nische» Wesen hervor, aber sie selbst, diese Wesen, seien die Erzeugnisse einer
in ihnen gelegnen gestaltenden Kraft, und selbst wenn sich die Lebensbedingungen
gar nicht geändert hätten, würde doch die Entwicklung im großen und ganzen
nicht viel anders ausgefallen sein, als sie es ist, was Weismann einen letzten
Versuch nennt, einen letzten Rest der alten Schöpfungshypothese zu retten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0615" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225543"/>
          <fw type="header" place="top"> vom Neudarwinismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1925" prev="#ID_1924" next="#ID_1926"> rein chemisch-physikalischen Prozessen und vitalen zu veranschaulichen, irgend<lb/>
einen lebenden Organismus in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung.<lb/>
Man füge jetzt lauter Atome, die mit denen des vorgestellten Organismus<lb/>
völlig gleich sind, so in Gedanken aneinander, daß das aufgebaute Phantom<lb/>
in jeder materiellen Beziehung mit seinem Urbilde genau übereinstimmt. Es<lb/>
fragt sich nun, ob das Phantom die vitalen Funktionen wie Nahrung zu<lb/>
sich nehmen, verdauen und wachsen, ganz abgesehen von den psychischen, ver¬<lb/>
richten würde, die seinem Urbilde zukommen. Die Antwort lautet: nein. Das<lb/>
Phantom würde nur ein Kadaver sein." Dreher glaubt deshalb, obgleich er<lb/>
überzeugter Darwinianer ist, die Lebenskraft zur Erklärung der Organismen<lb/>
nicht entbehren zu können, wie er denn überhaupt mit uns darin übereinstimmt,<lb/>
daß es nicht Aufgabe der Wissenschaft sei, den Ursprung der Dinge und ihr<lb/>
Wesen zu erklären. Auch das Wort Lebenskraft ist natürlich nur ein Name<lb/>
für das große unbekannte X, für die Grundursache der durch Kausalreihen<lb/>
verknüpften Dinge, die wir jedesmal aufs neue hinzudenken müssen, wenn eine<lb/>
neue Kausalreihe beginnt. Weismann verspottet die Lebenskraft, aber feine<lb/>
&#x201E;Molekularstruktur," &#x201E;Entwicklungstendenz," &#x201E;physische Natur des Organis¬<lb/>
mus," was sind sie andres als verschiedne Bezeichnungen derselben Sache,<lb/>
einer unbekannten, im Innern des Organismus wirkenden Ursache? Die<lb/>
Atome und ihre Bewegungsgesetze gegeben, können wir die Kausalreihen der<lb/>
Erscheinungen der anorganischen Natur ermitteln, aber vor diesen Kausalreihen<lb/>
steht die Entstehung oder die ewige Existenz der Atome, ihrer Bewegungen<lb/>
und des gesetzlichen Verlaufs dieser Bewegungen, und eines wie das andre,<lb/>
das wir annehmen mögen, die Entstehung oder die Existenz von Ewigkeit her,<lb/>
bleibt ein Wunder, für das es keine Erklärung giebt. Die organische Zelle<lb/>
vorausgesetzt, können wir den Ablauf ihres Lebens, ihre Veränderungen, ihre<lb/>
Vervielfältigung verstehen, aber ihr Dasein bleibt ein Wunder. Die Ge¬<lb/>
schlechtlichkeit vorausgesetzt, vermögen wir uns von der Vererbung und der<lb/>
Entstehung der Arten eine Vorstellung zu machen, aber die Geschlechtlichkeit<lb/>
selbst bleibt ein Wunder. So begegnet uns denn das &#x201E;metaphysische Prinzip,"<lb/>
das die Darwinianer zu bannen gedachten, auf Schritt und Tritt. Und die<lb/>
Bannungsversuche der Naturforscher machen umso weniger Eindruck auf uns,<lb/>
als diese Herren, je weiter sie fortschreiten, desto mehr uneins unter einander<lb/>
werden. Wir wollen gar nicht vom alten Cuvier reden, der die Unveränderlich-<lb/>
keit der Arten für bewiesen erachtete, nicht einmal von Männern wie Nägeli,<lb/>
der meinte, die äußern Einflüsse brächten zwar Veränderungen an den orga¬<lb/>
nische» Wesen hervor, aber sie selbst, diese Wesen, seien die Erzeugnisse einer<lb/>
in ihnen gelegnen gestaltenden Kraft, und selbst wenn sich die Lebensbedingungen<lb/>
gar nicht geändert hätten, würde doch die Entwicklung im großen und ganzen<lb/>
nicht viel anders ausgefallen sein, als sie es ist, was Weismann einen letzten<lb/>
Versuch nennt, einen letzten Rest der alten Schöpfungshypothese zu retten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0615] vom Neudarwinismus rein chemisch-physikalischen Prozessen und vitalen zu veranschaulichen, irgend einen lebenden Organismus in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung. Man füge jetzt lauter Atome, die mit denen des vorgestellten Organismus völlig gleich sind, so in Gedanken aneinander, daß das aufgebaute Phantom in jeder materiellen Beziehung mit seinem Urbilde genau übereinstimmt. Es fragt sich nun, ob das Phantom die vitalen Funktionen wie Nahrung zu sich nehmen, verdauen und wachsen, ganz abgesehen von den psychischen, ver¬ richten würde, die seinem Urbilde zukommen. Die Antwort lautet: nein. Das Phantom würde nur ein Kadaver sein." Dreher glaubt deshalb, obgleich er überzeugter Darwinianer ist, die Lebenskraft zur Erklärung der Organismen nicht entbehren zu können, wie er denn überhaupt mit uns darin übereinstimmt, daß es nicht Aufgabe der Wissenschaft sei, den Ursprung der Dinge und ihr Wesen zu erklären. Auch das Wort Lebenskraft ist natürlich nur ein Name für das große unbekannte X, für die Grundursache der durch Kausalreihen verknüpften Dinge, die wir jedesmal aufs neue hinzudenken müssen, wenn eine neue Kausalreihe beginnt. Weismann verspottet die Lebenskraft, aber feine „Molekularstruktur," „Entwicklungstendenz," „physische Natur des Organis¬ mus," was sind sie andres als verschiedne Bezeichnungen derselben Sache, einer unbekannten, im Innern des Organismus wirkenden Ursache? Die Atome und ihre Bewegungsgesetze gegeben, können wir die Kausalreihen der Erscheinungen der anorganischen Natur ermitteln, aber vor diesen Kausalreihen steht die Entstehung oder die ewige Existenz der Atome, ihrer Bewegungen und des gesetzlichen Verlaufs dieser Bewegungen, und eines wie das andre, das wir annehmen mögen, die Entstehung oder die Existenz von Ewigkeit her, bleibt ein Wunder, für das es keine Erklärung giebt. Die organische Zelle vorausgesetzt, können wir den Ablauf ihres Lebens, ihre Veränderungen, ihre Vervielfältigung verstehen, aber ihr Dasein bleibt ein Wunder. Die Ge¬ schlechtlichkeit vorausgesetzt, vermögen wir uns von der Vererbung und der Entstehung der Arten eine Vorstellung zu machen, aber die Geschlechtlichkeit selbst bleibt ein Wunder. So begegnet uns denn das „metaphysische Prinzip," das die Darwinianer zu bannen gedachten, auf Schritt und Tritt. Und die Bannungsversuche der Naturforscher machen umso weniger Eindruck auf uns, als diese Herren, je weiter sie fortschreiten, desto mehr uneins unter einander werden. Wir wollen gar nicht vom alten Cuvier reden, der die Unveränderlich- keit der Arten für bewiesen erachtete, nicht einmal von Männern wie Nägeli, der meinte, die äußern Einflüsse brächten zwar Veränderungen an den orga¬ nische» Wesen hervor, aber sie selbst, diese Wesen, seien die Erzeugnisse einer in ihnen gelegnen gestaltenden Kraft, und selbst wenn sich die Lebensbedingungen gar nicht geändert hätten, würde doch die Entwicklung im großen und ganzen nicht viel anders ausgefallen sein, als sie es ist, was Weismann einen letzten Versuch nennt, einen letzten Rest der alten Schöpfungshypothese zu retten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/615
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/615>, abgerufen am 23.07.2024.