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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Vom Neudarwinismus
(schind)

WMeismcmn unterscheidet, wie wir gelegentlich bemerkten, zwischen
der Transmutationshypothese und der Darwinischen Theorie, und
wir haben diese Unterscheidung als berechtigt anerkannt. Daß die
Arten durch Umwandlung der einen in die andre entstanden sind,
bleibt so lange Hypothese, als nicht die Umwandlung niederer
Tiere in höhere erlebt und beobachtet worden ist. Daß durch Vererbung,
Anpassung und Auslese Unterschiede zwischen Individuen derselben Art erzeugt
werden, die Artunterschiedcn beinahe gleichkommen, ist Thatsache, und daher
dürfen wir schließen: wenn die Transmutationshypothese Wahrheit sein sollte,
so sind jene drei Kräfte oder Wirkungsweisen als Hebel zur Verwandlung
benutzt worden; die Anwendung dieser Mittel zur Erklärung der Transmutation
darf also eine wissenschaftliche Theorie genannt werden. Die Auslese bedarf
keiner weitern Erklärung; was dabei vorgeht: die Vernichtung der Uncmgepaßten
und das Überleben der Angepaßten, liegt ja vor Augen. Dagegen sind Ver¬
erbung und Anpassung Geheimnisse des organischen Prozesses, und alle Ver¬
suche, diese Geheimnisse zu erklären, sind nun ihrerseits wieder Hypothesen.
Die erste, die Pangenesishypothese, hat Darwin selbst gebaut. Nach ihr ent¬
sendet jede Zelle des elterlichen Organismus ein Körperchen, Mrnruulg, genannt,
in die Keimmasse, und dieser Aöinwuls. wohnt die Kraft inne, nach der Ver¬
einigung der beiderseitigen Keimmassen zu einem Sprößling oder Kinde, eine
der väterlichen oder mütterlichen Zelle ähnliche Zelle aufzubauen, und zwar
an demselben Ort, an dem sie sich im Stammorganismus befunden hat. Dann
kam Hückel und lehrte, daß die "Plastidule," die einfachsten Keime, Gedächtnis
hätten; ohne die Annahme eines unbewußten Gedächtnisses der lebenden
Materie, heißt es in der "Perigenesis der Plastidule" S. 51, seien die wich¬
tigsten Lebensfunktionen unerklärbar; dieses Gedächtnis befähige die Plastidule
zu ihren charakteristischen Bewegungen. Man hat sich also wohl die Sache so
vorzustellen, daß sich das Plastidul seiner Lage im Eltcrnleibe erinnert und
weiß, wohin es im Leibe des Kindes gehört. Beinahe gleichzeitig mit ihm
bildete Weismann seine Hypothese von der Kontinuität des Keimplasmas aus.
Die Pangenesis hatte die Vererbung erworbner Eigenschaften zur Voraus¬
setzung, und gerade diese sollte sie erklären. Weismmm hatte, durch die zahl-




Vom Neudarwinismus
(schind)

WMeismcmn unterscheidet, wie wir gelegentlich bemerkten, zwischen
der Transmutationshypothese und der Darwinischen Theorie, und
wir haben diese Unterscheidung als berechtigt anerkannt. Daß die
Arten durch Umwandlung der einen in die andre entstanden sind,
bleibt so lange Hypothese, als nicht die Umwandlung niederer
Tiere in höhere erlebt und beobachtet worden ist. Daß durch Vererbung,
Anpassung und Auslese Unterschiede zwischen Individuen derselben Art erzeugt
werden, die Artunterschiedcn beinahe gleichkommen, ist Thatsache, und daher
dürfen wir schließen: wenn die Transmutationshypothese Wahrheit sein sollte,
so sind jene drei Kräfte oder Wirkungsweisen als Hebel zur Verwandlung
benutzt worden; die Anwendung dieser Mittel zur Erklärung der Transmutation
darf also eine wissenschaftliche Theorie genannt werden. Die Auslese bedarf
keiner weitern Erklärung; was dabei vorgeht: die Vernichtung der Uncmgepaßten
und das Überleben der Angepaßten, liegt ja vor Augen. Dagegen sind Ver¬
erbung und Anpassung Geheimnisse des organischen Prozesses, und alle Ver¬
suche, diese Geheimnisse zu erklären, sind nun ihrerseits wieder Hypothesen.
Die erste, die Pangenesishypothese, hat Darwin selbst gebaut. Nach ihr ent¬
sendet jede Zelle des elterlichen Organismus ein Körperchen, Mrnruulg, genannt,
in die Keimmasse, und dieser Aöinwuls. wohnt die Kraft inne, nach der Ver¬
einigung der beiderseitigen Keimmassen zu einem Sprößling oder Kinde, eine
der väterlichen oder mütterlichen Zelle ähnliche Zelle aufzubauen, und zwar
an demselben Ort, an dem sie sich im Stammorganismus befunden hat. Dann
kam Hückel und lehrte, daß die „Plastidule," die einfachsten Keime, Gedächtnis
hätten; ohne die Annahme eines unbewußten Gedächtnisses der lebenden
Materie, heißt es in der „Perigenesis der Plastidule" S. 51, seien die wich¬
tigsten Lebensfunktionen unerklärbar; dieses Gedächtnis befähige die Plastidule
zu ihren charakteristischen Bewegungen. Man hat sich also wohl die Sache so
vorzustellen, daß sich das Plastidul seiner Lage im Eltcrnleibe erinnert und
weiß, wohin es im Leibe des Kindes gehört. Beinahe gleichzeitig mit ihm
bildete Weismann seine Hypothese von der Kontinuität des Keimplasmas aus.
Die Pangenesis hatte die Vererbung erworbner Eigenschaften zur Voraus¬
setzung, und gerade diese sollte sie erklären. Weismmm hatte, durch die zahl-


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[0612] [Abbildung] Vom Neudarwinismus (schind) WMeismcmn unterscheidet, wie wir gelegentlich bemerkten, zwischen der Transmutationshypothese und der Darwinischen Theorie, und wir haben diese Unterscheidung als berechtigt anerkannt. Daß die Arten durch Umwandlung der einen in die andre entstanden sind, bleibt so lange Hypothese, als nicht die Umwandlung niederer Tiere in höhere erlebt und beobachtet worden ist. Daß durch Vererbung, Anpassung und Auslese Unterschiede zwischen Individuen derselben Art erzeugt werden, die Artunterschiedcn beinahe gleichkommen, ist Thatsache, und daher dürfen wir schließen: wenn die Transmutationshypothese Wahrheit sein sollte, so sind jene drei Kräfte oder Wirkungsweisen als Hebel zur Verwandlung benutzt worden; die Anwendung dieser Mittel zur Erklärung der Transmutation darf also eine wissenschaftliche Theorie genannt werden. Die Auslese bedarf keiner weitern Erklärung; was dabei vorgeht: die Vernichtung der Uncmgepaßten und das Überleben der Angepaßten, liegt ja vor Augen. Dagegen sind Ver¬ erbung und Anpassung Geheimnisse des organischen Prozesses, und alle Ver¬ suche, diese Geheimnisse zu erklären, sind nun ihrerseits wieder Hypothesen. Die erste, die Pangenesishypothese, hat Darwin selbst gebaut. Nach ihr ent¬ sendet jede Zelle des elterlichen Organismus ein Körperchen, Mrnruulg, genannt, in die Keimmasse, und dieser Aöinwuls. wohnt die Kraft inne, nach der Ver¬ einigung der beiderseitigen Keimmassen zu einem Sprößling oder Kinde, eine der väterlichen oder mütterlichen Zelle ähnliche Zelle aufzubauen, und zwar an demselben Ort, an dem sie sich im Stammorganismus befunden hat. Dann kam Hückel und lehrte, daß die „Plastidule," die einfachsten Keime, Gedächtnis hätten; ohne die Annahme eines unbewußten Gedächtnisses der lebenden Materie, heißt es in der „Perigenesis der Plastidule" S. 51, seien die wich¬ tigsten Lebensfunktionen unerklärbar; dieses Gedächtnis befähige die Plastidule zu ihren charakteristischen Bewegungen. Man hat sich also wohl die Sache so vorzustellen, daß sich das Plastidul seiner Lage im Eltcrnleibe erinnert und weiß, wohin es im Leibe des Kindes gehört. Beinahe gleichzeitig mit ihm bildete Weismann seine Hypothese von der Kontinuität des Keimplasmas aus. Die Pangenesis hatte die Vererbung erworbner Eigenschaften zur Voraus¬ setzung, und gerade diese sollte sie erklären. Weismmm hatte, durch die zahl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/612>, abgerufen am 23.07.2024.