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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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und sich nur noch durch die Gewalt behauptete. Selbst in Italien, dessen
Bevölkerung ihm einst so ergeben war, knirschte alles über die hohen Steuern,
das Kontinentalsystem, die Aushebung, und dazu kam die Entrüstung der
katholischen Gewissen über den Tyrann des Papstes, den Quäler der Priester.
Selbst des Kaisers Schwager Murat, der König von Neapel, war des Joches
überdrüssig und begann nach den Berichten des Herzogs von Vassano schon
damals "nach der Seite Österreichs zu schielen." Und Frankreich? Äußerlich
bot es einen Ehrfurcht gebietenden Anblick; "es manvvrirte auf den Wink
des Kaisers wie ein Regiment" und schien voll Ehrgeiz, sich dessen Lob zu
verdienen; aber im tiefsten Grunde gührte es auch hier: man seufzte über die
sich beständig steigernden Steuern an Geld und Blut, über das Hinsterben des
Handels, die Krisis der Industrie, die anfänglich nach Beseitigung des eng¬
lischen Wettbewerbs in Europa einen großen Aufschwung genommen hatte, der
sich aber bald verflüchtigte: in Nimes allein waren nach den Angaben der
Polizei 30000 Arbeiter ohne Beschäftigung, in der Pariser Vorstadt Se. Antoine
20000. Dazu kam der geistige Druck -- "eine ganze Nation wagte nur noch
zu flüstern." "Jedermann, schrieb ein russischer Sendling, fürchtet den Kaiser,
niemand liebt ihn."

Entsprechend den Absichten des Zaren begannen in tiefster Stille die
militärischen Maßnahmen, die einen russischen Vorstoß ermöglichen sollten. An
den Grenzen des Reichs, in Podolien, Litauen und Kurland sammelten sich
die Heere, die ins Herzogtum Warschau einbrechen sollten; vier Punkte wurden
für diese Anhäufungen nusersehcn, Wilna, Grodno, Brzesc, Bialhstock; es wurden
Magazine errichtet, Vorräte an Schießbedarf und Lebensmitteln angelegt, Schiff¬
brücken beschafft, damit der Übergang über den Njemen und Bug jeden Augen¬
blick leicht vollzogen werden könnte. Das Hauptquartier sollte in Storia,
südlich von Wilna, errichtet werden; die Generale für die einzelnen Heerkörper
waren bereits bezeichnet; kurz. Alexander "war seinem Gegner um ein Heer
und ein Jahr voraus."

Fragt mau, wie dem gegenüber Napoleons Stimmung war, so ist die
Antwort Vandals (S. 94): Er war weit entfernt, die Gefahren eines russischen
Kriegs zu verkennen; er empfand den Reiz des Kampfes und großer Tragödien
undt mehr: Lorbeeren hatte er genug gesammelt, Gefahren genug bestanden,
und manchmal überkam ihn eine Art Schrecken davor, diesen Schatz von Ruhm
aufs Spiel zu setzen. Aber sein oberster Zweck war, England zum Frieden
z" zwingen und so seine Herrschaft über Europa zu befestigen. Das Kontinental-
Mem galt dem Kaiser als ein Mittel, England zu demütigen; aber es mußte
zu diesem Zwecke das auch wirklich sein, was sein Name besagte: solange es
nicht den ganzen Kontinent umspannte, so lange war seine Wirkung nicht durch¬
schlagend. Mr den Fall, daß Alexander, der im Dezember 1810 durch den
bekannten Mas von diesem System zurückgetreten war, sich ihm wieder an-


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und sich nur noch durch die Gewalt behauptete. Selbst in Italien, dessen
Bevölkerung ihm einst so ergeben war, knirschte alles über die hohen Steuern,
das Kontinentalsystem, die Aushebung, und dazu kam die Entrüstung der
katholischen Gewissen über den Tyrann des Papstes, den Quäler der Priester.
Selbst des Kaisers Schwager Murat, der König von Neapel, war des Joches
überdrüssig und begann nach den Berichten des Herzogs von Vassano schon
damals „nach der Seite Österreichs zu schielen." Und Frankreich? Äußerlich
bot es einen Ehrfurcht gebietenden Anblick; „es manvvrirte auf den Wink
des Kaisers wie ein Regiment" und schien voll Ehrgeiz, sich dessen Lob zu
verdienen; aber im tiefsten Grunde gührte es auch hier: man seufzte über die
sich beständig steigernden Steuern an Geld und Blut, über das Hinsterben des
Handels, die Krisis der Industrie, die anfänglich nach Beseitigung des eng¬
lischen Wettbewerbs in Europa einen großen Aufschwung genommen hatte, der
sich aber bald verflüchtigte: in Nimes allein waren nach den Angaben der
Polizei 30000 Arbeiter ohne Beschäftigung, in der Pariser Vorstadt Se. Antoine
20000. Dazu kam der geistige Druck — „eine ganze Nation wagte nur noch
zu flüstern." „Jedermann, schrieb ein russischer Sendling, fürchtet den Kaiser,
niemand liebt ihn."

Entsprechend den Absichten des Zaren begannen in tiefster Stille die
militärischen Maßnahmen, die einen russischen Vorstoß ermöglichen sollten. An
den Grenzen des Reichs, in Podolien, Litauen und Kurland sammelten sich
die Heere, die ins Herzogtum Warschau einbrechen sollten; vier Punkte wurden
für diese Anhäufungen nusersehcn, Wilna, Grodno, Brzesc, Bialhstock; es wurden
Magazine errichtet, Vorräte an Schießbedarf und Lebensmitteln angelegt, Schiff¬
brücken beschafft, damit der Übergang über den Njemen und Bug jeden Augen¬
blick leicht vollzogen werden könnte. Das Hauptquartier sollte in Storia,
südlich von Wilna, errichtet werden; die Generale für die einzelnen Heerkörper
waren bereits bezeichnet; kurz. Alexander „war seinem Gegner um ein Heer
und ein Jahr voraus."

Fragt mau, wie dem gegenüber Napoleons Stimmung war, so ist die
Antwort Vandals (S. 94): Er war weit entfernt, die Gefahren eines russischen
Kriegs zu verkennen; er empfand den Reiz des Kampfes und großer Tragödien
undt mehr: Lorbeeren hatte er genug gesammelt, Gefahren genug bestanden,
und manchmal überkam ihn eine Art Schrecken davor, diesen Schatz von Ruhm
aufs Spiel zu setzen. Aber sein oberster Zweck war, England zum Frieden
z" zwingen und so seine Herrschaft über Europa zu befestigen. Das Kontinental-
Mem galt dem Kaiser als ein Mittel, England zu demütigen; aber es mußte
zu diesem Zwecke das auch wirklich sein, was sein Name besagte: solange es
nicht den ganzen Kontinent umspannte, so lange war seine Wirkung nicht durch¬
schlagend. Mr den Fall, daß Alexander, der im Dezember 1810 durch den
bekannten Mas von diesem System zurückgetreten war, sich ihm wieder an-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/573>, abgerufen am 23.07.2024.