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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

Darwünschen Schema verlaufen sein, aber ohne eine zwecksetzende und den
Prozeß leitende Intelligenz ist sie auf keinen Fall denkbar. Sie hätte
gar nicht in Gang kommen können, wenn nicht die unorganische Materie
von jener Intelligenz den Anstoß dazu empfangen hätte. Und das Wort
Anstoß, das für die Rotation des Weltstoffs nach den Gravitationsgesetzen
hinreichen mag, genügt noch nicht, wo es sich um das Leben handelt.
Wie kommt ein Klümpchen einer chemischen Verbindung dazu, Empfindung zu
hegen oder vielmehr zu erleiden und sich damit zur untersten Stufe des Be¬
wußtseins emporzuschwingen? Und wenn vielleicht alle Körperatome die
Anlage zur Empfindung haben, sind sie dann nicht vielmehr geistige als körper¬
liche Wesen? Bruchstücke der Weltintelligeuz, des eigeutlichen Weltwesens?
Und wer ordnet nun die einen von diesen Bruchstücken so, daß bei ihrer Be¬
rührung und Wechselwirkung die verborgne Anlage zu Empfindung und Be¬
wußtsein hervortritt, während sie bei der Anordnung der übrigen in unorga¬
nischen Verbindungen fortschlummert? Nehmen wir nun an, es sei auf die
eine oder die andre Weise zur Bildung von empfindenden Protoplasmaklümpchen,
Urtierchen, gekommen! Welcher Antrieb läßt sich in ihnen selbst oder in ihrer
Umgebung denken, der sie veranlassen oder nötigen könnte, zu künstlicherer
Struktur und zu edlern Formen fortzuschreiten? Gar keiner! Hat doch
Darwin selbst eingestanden, das; zwar, verwickelte Verhältnisse vorausgesetzt,
die Entstehung eines verwickeltem Baues durch Anpassung erklärlich sei, daß
aber eine sehr einfachen Verhältnissen angepaßte Organisation unendliche Zeit¬
räume hindurch unverändert bestehen bleiben könne, und er fügt bei: "Was
würde z. B. ein Infusorium oder ein Eingeweidewurm für einen Vorteil
davon haben, wenn sie hoch organisirt wären?" (Das Variiren der Tiere
und Pflanzen im Zustande der Domestikation I, 8.) In der That, nichts
würden sie davon haben. Aber es ist wieder ein Beweis für den Mangel an
logischer Schärfe bei dem großen Beobachter und Hhpotheseubauer, daß er hier
die Eingeweidewürmer nennt, die ja schon sehr hoch entwickelte Wesen und sehr
verwickelte Verhältnisse voraussetzen, er hätte die Infusorien allein nennen
müssen. Die Lebewesen der untersten Stufen können durch Organisationsfort¬
schritte nur verlieren, nicht gewinnen. Kein höheres Wesen ist so geringen
Gefahren ausgesetzt wie sie; werden sie doch von manchen neuern Forschern
geradezu unzerstörbar und unsterblich genannt.*) Je höher ein Wesen organisirt



"In einem auf der 54. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Salzburg
gehaltnen Vortrag über die Dauer des Lebens suchte ich darzulegen, daß die Begrenztheit des
einzelnen Individuums durch den Tod nicht -- wie bis dahin angenommen worden war --
eine unvermeidliche und im Leben selbst begründete Erscheinung sei, sondern vielmehr nur eine
Zweckmnßigkeitseinrichtung, welche erst dann getroffen wurde, als die Organismen eine gewisse
Komplikation ihres Baues erreichten, mit welcher sich ihre Unsterblichkeit nicht mehr vertrug.
Ich wies darauf hin, daß man bei einzelligen Tieren von einem natürlichen Tode nicht reden
vom Neudarwinismus

Darwünschen Schema verlaufen sein, aber ohne eine zwecksetzende und den
Prozeß leitende Intelligenz ist sie auf keinen Fall denkbar. Sie hätte
gar nicht in Gang kommen können, wenn nicht die unorganische Materie
von jener Intelligenz den Anstoß dazu empfangen hätte. Und das Wort
Anstoß, das für die Rotation des Weltstoffs nach den Gravitationsgesetzen
hinreichen mag, genügt noch nicht, wo es sich um das Leben handelt.
Wie kommt ein Klümpchen einer chemischen Verbindung dazu, Empfindung zu
hegen oder vielmehr zu erleiden und sich damit zur untersten Stufe des Be¬
wußtseins emporzuschwingen? Und wenn vielleicht alle Körperatome die
Anlage zur Empfindung haben, sind sie dann nicht vielmehr geistige als körper¬
liche Wesen? Bruchstücke der Weltintelligeuz, des eigeutlichen Weltwesens?
Und wer ordnet nun die einen von diesen Bruchstücken so, daß bei ihrer Be¬
rührung und Wechselwirkung die verborgne Anlage zu Empfindung und Be¬
wußtsein hervortritt, während sie bei der Anordnung der übrigen in unorga¬
nischen Verbindungen fortschlummert? Nehmen wir nun an, es sei auf die
eine oder die andre Weise zur Bildung von empfindenden Protoplasmaklümpchen,
Urtierchen, gekommen! Welcher Antrieb läßt sich in ihnen selbst oder in ihrer
Umgebung denken, der sie veranlassen oder nötigen könnte, zu künstlicherer
Struktur und zu edlern Formen fortzuschreiten? Gar keiner! Hat doch
Darwin selbst eingestanden, das; zwar, verwickelte Verhältnisse vorausgesetzt,
die Entstehung eines verwickeltem Baues durch Anpassung erklärlich sei, daß
aber eine sehr einfachen Verhältnissen angepaßte Organisation unendliche Zeit¬
räume hindurch unverändert bestehen bleiben könne, und er fügt bei: „Was
würde z. B. ein Infusorium oder ein Eingeweidewurm für einen Vorteil
davon haben, wenn sie hoch organisirt wären?" (Das Variiren der Tiere
und Pflanzen im Zustande der Domestikation I, 8.) In der That, nichts
würden sie davon haben. Aber es ist wieder ein Beweis für den Mangel an
logischer Schärfe bei dem großen Beobachter und Hhpotheseubauer, daß er hier
die Eingeweidewürmer nennt, die ja schon sehr hoch entwickelte Wesen und sehr
verwickelte Verhältnisse voraussetzen, er hätte die Infusorien allein nennen
müssen. Die Lebewesen der untersten Stufen können durch Organisationsfort¬
schritte nur verlieren, nicht gewinnen. Kein höheres Wesen ist so geringen
Gefahren ausgesetzt wie sie; werden sie doch von manchen neuern Forschern
geradezu unzerstörbar und unsterblich genannt.*) Je höher ein Wesen organisirt



„In einem auf der 54. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Salzburg
gehaltnen Vortrag über die Dauer des Lebens suchte ich darzulegen, daß die Begrenztheit des
einzelnen Individuums durch den Tod nicht — wie bis dahin angenommen worden war —
eine unvermeidliche und im Leben selbst begründete Erscheinung sei, sondern vielmehr nur eine
Zweckmnßigkeitseinrichtung, welche erst dann getroffen wurde, als die Organismen eine gewisse
Komplikation ihres Baues erreichten, mit welcher sich ihre Unsterblichkeit nicht mehr vertrug.
Ich wies darauf hin, daß man bei einzelligen Tieren von einem natürlichen Tode nicht reden
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[0562] vom Neudarwinismus Darwünschen Schema verlaufen sein, aber ohne eine zwecksetzende und den Prozeß leitende Intelligenz ist sie auf keinen Fall denkbar. Sie hätte gar nicht in Gang kommen können, wenn nicht die unorganische Materie von jener Intelligenz den Anstoß dazu empfangen hätte. Und das Wort Anstoß, das für die Rotation des Weltstoffs nach den Gravitationsgesetzen hinreichen mag, genügt noch nicht, wo es sich um das Leben handelt. Wie kommt ein Klümpchen einer chemischen Verbindung dazu, Empfindung zu hegen oder vielmehr zu erleiden und sich damit zur untersten Stufe des Be¬ wußtseins emporzuschwingen? Und wenn vielleicht alle Körperatome die Anlage zur Empfindung haben, sind sie dann nicht vielmehr geistige als körper¬ liche Wesen? Bruchstücke der Weltintelligeuz, des eigeutlichen Weltwesens? Und wer ordnet nun die einen von diesen Bruchstücken so, daß bei ihrer Be¬ rührung und Wechselwirkung die verborgne Anlage zu Empfindung und Be¬ wußtsein hervortritt, während sie bei der Anordnung der übrigen in unorga¬ nischen Verbindungen fortschlummert? Nehmen wir nun an, es sei auf die eine oder die andre Weise zur Bildung von empfindenden Protoplasmaklümpchen, Urtierchen, gekommen! Welcher Antrieb läßt sich in ihnen selbst oder in ihrer Umgebung denken, der sie veranlassen oder nötigen könnte, zu künstlicherer Struktur und zu edlern Formen fortzuschreiten? Gar keiner! Hat doch Darwin selbst eingestanden, das; zwar, verwickelte Verhältnisse vorausgesetzt, die Entstehung eines verwickeltem Baues durch Anpassung erklärlich sei, daß aber eine sehr einfachen Verhältnissen angepaßte Organisation unendliche Zeit¬ räume hindurch unverändert bestehen bleiben könne, und er fügt bei: „Was würde z. B. ein Infusorium oder ein Eingeweidewurm für einen Vorteil davon haben, wenn sie hoch organisirt wären?" (Das Variiren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation I, 8.) In der That, nichts würden sie davon haben. Aber es ist wieder ein Beweis für den Mangel an logischer Schärfe bei dem großen Beobachter und Hhpotheseubauer, daß er hier die Eingeweidewürmer nennt, die ja schon sehr hoch entwickelte Wesen und sehr verwickelte Verhältnisse voraussetzen, er hätte die Infusorien allein nennen müssen. Die Lebewesen der untersten Stufen können durch Organisationsfort¬ schritte nur verlieren, nicht gewinnen. Kein höheres Wesen ist so geringen Gefahren ausgesetzt wie sie; werden sie doch von manchen neuern Forschern geradezu unzerstörbar und unsterblich genannt.*) Je höher ein Wesen organisirt „In einem auf der 54. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Salzburg gehaltnen Vortrag über die Dauer des Lebens suchte ich darzulegen, daß die Begrenztheit des einzelnen Individuums durch den Tod nicht — wie bis dahin angenommen worden war — eine unvermeidliche und im Leben selbst begründete Erscheinung sei, sondern vielmehr nur eine Zweckmnßigkeitseinrichtung, welche erst dann getroffen wurde, als die Organismen eine gewisse Komplikation ihres Baues erreichten, mit welcher sich ihre Unsterblichkeit nicht mehr vertrug. Ich wies darauf hin, daß man bei einzelligen Tieren von einem natürlichen Tode nicht reden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/562>, abgerufen am 23.07.2024.