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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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schaftlichen Ehrlichkeit der oben genannten deutschen Gelehrten. Aber es ist
eben schon ein Unglück für eine Wissenschaft, wenn auch nur die Möglichkeit
vorhanden ist, sie für Parteizwecke zu verwenden. Sind die Ergebnisse der
Biologie schon an sich ungewiß genug, so werden sie noch unsichrer durch den
Umstand, daß man niemals weiß, ob nicht die begeisterte Zustimmung zu dem
einen oder dem andern dieser angeblichen Ergebnisse weit weniger der wissen¬
schaftlichen Überzeugung als irgend einem Herzenswünsche entspringt. Das
Genie hat schwarze Haare, lehrt Lombroso. Die blonde und langschüdlige
Nasse ist der brünetten und rundschüdligen überlegen, lehrt Otto Ammon.
Aber die Langschädel können ja gar nicht den Nundschädeln überlegen sein,
da der Rundschädel bei gleichem Umfang mehr Gehirnmasse faßt als der Lang¬
schädel, wendet ein dritter ein. Wer kann es dem Laien verargen, wenn er,
nachdem er eine Reihe solcher Exkathedrasprüche vernommen hat, einfach schließt:
Biologie ist Unsinn? So frech und vorschnell sind wir nun nicht; wir er¬
kennen an, daß die Biologen viele nützliche Beobachtungen zu Tage fördern,
aber ihre Dogmen können uns nach allem, was wir in diesem Fach schon
erlebt haben, nicht imponiren.

Der Punkt, von dem aus die Neudarwiniauer der Entwicklungslehre eine
sozial ungefährliche und sogar dem Interesse der Besitzenden entsprechende
Wendung zu geben versuchen, ist die Auslese. Die Sozialisten behaupten,
wenn die Individuen der untern Stände vielfach entartet, die der höhern im
allgemeinen körperlich kräftiger und geistig begabter seien, so sei beides eben
die Wirkung der verschiednen Lebensverhältnisse und des Umstands, daß die
ans solche Weise erworbnen Verbesserungen und Verschlechterungen durch Ver¬
erbung befestigt und verstärkt würden. Sie können sich auf Lamarck stützen,
der seine Lehre in dem Satze zusammengefaßt hat: "Alles, was die Natur die
Individuen hat gewinnen oder verlieren lassen unter dem Einfluß von Um¬
ständen, denen ihre Nasse eine Zeit lang ausgesetzt war, und somit infolge des
vorwiegenden Gebrauchs gewisser Organe oder des Ausfalls des Gebrauchs
gewisser Teile, das erhält sie durch Vererbung für die neuen Individuen, die
von ihnen hervorgebracht werden, vorausgesetzt, daß die erworbnen Verände¬
rungen beiden Geschlechtern oder den unmittelbaren Vorfahren dieser neuen
Individuen angehören." Aber auch Darwin teilte anfangs diese Ansicht. Im
Lause der Zeit jedoch wurde ihm die Vererbung erworbner Eigenschaften immer
zweifelhafter, er fand in vielen Fällen, daß sich die durch die Eingriffe des
Züchters hervorgebrachten Veränderungen nicht fortpflanzten, lind er glaubte in
andern zu bemerken, daß es nicht Vererbung, sondern Zuchtwahl, Auslese sei,
was die Veränderungen erhält, und seine Schüler waren dann, wie Haycraft")



Natürliche Auslese und Nassenverbesserung von John B, Havcraft,
Professor der Physiologie am University College in Cardiff. Autorisirte deutsche Übersetzung
von Vr. Hans Kurella. 1805. Zweiter Band der bei -Georg H. Wigand in Leipzig er¬
scheinenden Bibliothek für Sozialwissenschaft.

schaftlichen Ehrlichkeit der oben genannten deutschen Gelehrten. Aber es ist
eben schon ein Unglück für eine Wissenschaft, wenn auch nur die Möglichkeit
vorhanden ist, sie für Parteizwecke zu verwenden. Sind die Ergebnisse der
Biologie schon an sich ungewiß genug, so werden sie noch unsichrer durch den
Umstand, daß man niemals weiß, ob nicht die begeisterte Zustimmung zu dem
einen oder dem andern dieser angeblichen Ergebnisse weit weniger der wissen¬
schaftlichen Überzeugung als irgend einem Herzenswünsche entspringt. Das
Genie hat schwarze Haare, lehrt Lombroso. Die blonde und langschüdlige
Nasse ist der brünetten und rundschüdligen überlegen, lehrt Otto Ammon.
Aber die Langschädel können ja gar nicht den Nundschädeln überlegen sein,
da der Rundschädel bei gleichem Umfang mehr Gehirnmasse faßt als der Lang¬
schädel, wendet ein dritter ein. Wer kann es dem Laien verargen, wenn er,
nachdem er eine Reihe solcher Exkathedrasprüche vernommen hat, einfach schließt:
Biologie ist Unsinn? So frech und vorschnell sind wir nun nicht; wir er¬
kennen an, daß die Biologen viele nützliche Beobachtungen zu Tage fördern,
aber ihre Dogmen können uns nach allem, was wir in diesem Fach schon
erlebt haben, nicht imponiren.

Der Punkt, von dem aus die Neudarwiniauer der Entwicklungslehre eine
sozial ungefährliche und sogar dem Interesse der Besitzenden entsprechende
Wendung zu geben versuchen, ist die Auslese. Die Sozialisten behaupten,
wenn die Individuen der untern Stände vielfach entartet, die der höhern im
allgemeinen körperlich kräftiger und geistig begabter seien, so sei beides eben
die Wirkung der verschiednen Lebensverhältnisse und des Umstands, daß die
ans solche Weise erworbnen Verbesserungen und Verschlechterungen durch Ver¬
erbung befestigt und verstärkt würden. Sie können sich auf Lamarck stützen,
der seine Lehre in dem Satze zusammengefaßt hat: „Alles, was die Natur die
Individuen hat gewinnen oder verlieren lassen unter dem Einfluß von Um¬
ständen, denen ihre Nasse eine Zeit lang ausgesetzt war, und somit infolge des
vorwiegenden Gebrauchs gewisser Organe oder des Ausfalls des Gebrauchs
gewisser Teile, das erhält sie durch Vererbung für die neuen Individuen, die
von ihnen hervorgebracht werden, vorausgesetzt, daß die erworbnen Verände¬
rungen beiden Geschlechtern oder den unmittelbaren Vorfahren dieser neuen
Individuen angehören." Aber auch Darwin teilte anfangs diese Ansicht. Im
Lause der Zeit jedoch wurde ihm die Vererbung erworbner Eigenschaften immer
zweifelhafter, er fand in vielen Fällen, daß sich die durch die Eingriffe des
Züchters hervorgebrachten Veränderungen nicht fortpflanzten, lind er glaubte in
andern zu bemerken, daß es nicht Vererbung, sondern Zuchtwahl, Auslese sei,
was die Veränderungen erhält, und seine Schüler waren dann, wie Haycraft")



Natürliche Auslese und Nassenverbesserung von John B, Havcraft,
Professor der Physiologie am University College in Cardiff. Autorisirte deutsche Übersetzung
von Vr. Hans Kurella. 1805. Zweiter Band der bei -Georg H. Wigand in Leipzig er¬
scheinenden Bibliothek für Sozialwissenschaft.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/535>, abgerufen am 23.07.2024.