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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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vom Neudarwinismus

Schlachtfelder beschrieben. Auf dieses Leben nur um der Gattung willen
wurde eine neue Moral begründet, indem man das: Lebe sür die Gattung!
als das Hauptgebot verkündigte, worin alle andern Gebote enthalten seien;
als Muster wurden uns nicht mehr Helden und Heilige vor Augen gestellt,
sondern die Mitglieder des Bienen-, des Ameisen-, des Siphonophorenstaates,
die sich zu Tode brütenden Hennen und die guten Mikroben, die die bösen
Mikroben auffressen, nicht zu ihrem Genuß und Vergnügen, sondern um den
Staat zu retten, zu dem sie gehören, sei es ein Menschenleib oder der Leib
eines geimpften Meerschweinchens. Damit war der sozialistische Zukunftsstaat
nicht allein gerechtfertigt, sondern jedes Widerstreben gegen ihn als eine Auf¬
lehnung gegen die Natur für unvernünftig erklärt. Und es gab nichts in der
sozialdemokratischen Utopie, dessen Notwendigkeit und Vernünftigkeit nicht durch
die Biologie hätte gerechtfertigt werden können. Schon Darwin selbst hatte
(Über die Entstehung der Arten, S. 406) bemerkt, das Gesetz des Überlebens
des Passendsten walte nicht bloß in der Natur, sondern gelte auch für die
Kulturerzeugnisse; sehr natürlich, da ja der Mensch selbst samt seiner Kultur
nur ein Stück Natur ist. Darwin, der sich mit großer Gewissenhaftigkeit vor
Grenzüberschreitungen hütete/") hat diesen Gedanken nicht weiter verfolgt; aber
die Dcirwinianer waren in ihren Nutzanwendungen alles andre, nur nicht ge¬
wissenhaft, und den Sozialdemokraten konnte man es wahrhaftig nicht verargen,
wenn sie in den Spuren berühmter Leuchten der Wissenschaft frohgemut fort¬
wandelten, überzeugt, daß dieser Weg ins gelobte Land führe. Sprach es doch
Schaffte geradezu aus: das Gesellschaftsleben sei das einzige Gebiet, von
dem durch die Erfahrung bewiesen sei, daß darin die Darwinischen Lehren von
der Zuchtwahl, von dem Überleben des Passendsten, von der Auslese durch den
Kampf ums Dasein erwiesen seien. Was lag näher als die Folgerung, daß
der Marxismus biologisch gerechtfertigt sei? Sah man es doch vor Augen,
wie überall die Reste der Naturalwirtschaft von der Geldwirtschaft verdrängt
wurden, wie der Handwerker dem Fabrikanten, der kleine Fabrikant dem großen,
der einzelne Großunternehmer der Aktiengesellschaft weichen mußte. Da hatte
man ja die Umbildung der niedern Gesellschafts- und Produktionsformen in
höhere auf den von Darwin beschriebnen Wegen leibhaftig vor sich! Und
wohin anders sollte sich die bei der Aktiengesellschaft angelangte Produktion
weiter entwickeln als zur kollektivistisch betriebnen Großindustrie? Denn daß
sie nicht stehen bleiben kann, sondern sich fortentwickeln muß, ist klar, da es
ja im Begriff der Evolution liegt, keinen Stillstand zuzulassen, sodaß sie
endlos gedacht werden muß, oder als erst mit dem Dasein unsers Planeten



^) Wo es ihm einmal begegnet, das; er die Grenzen seiner Zuständigkeit überschreitet, wie
in jene", Vergleich seiner Hypothese mit der Hypothese der Optiker, da ist nicht Mangel an Ge¬
wissenhaftigkeit schuld, sondern der Umstand, daß der Grad seiner logischen Schärfe dem Grade
seiner Beobachtungsgabe nicht entsprach.
vom Neudarwinismus

Schlachtfelder beschrieben. Auf dieses Leben nur um der Gattung willen
wurde eine neue Moral begründet, indem man das: Lebe sür die Gattung!
als das Hauptgebot verkündigte, worin alle andern Gebote enthalten seien;
als Muster wurden uns nicht mehr Helden und Heilige vor Augen gestellt,
sondern die Mitglieder des Bienen-, des Ameisen-, des Siphonophorenstaates,
die sich zu Tode brütenden Hennen und die guten Mikroben, die die bösen
Mikroben auffressen, nicht zu ihrem Genuß und Vergnügen, sondern um den
Staat zu retten, zu dem sie gehören, sei es ein Menschenleib oder der Leib
eines geimpften Meerschweinchens. Damit war der sozialistische Zukunftsstaat
nicht allein gerechtfertigt, sondern jedes Widerstreben gegen ihn als eine Auf¬
lehnung gegen die Natur für unvernünftig erklärt. Und es gab nichts in der
sozialdemokratischen Utopie, dessen Notwendigkeit und Vernünftigkeit nicht durch
die Biologie hätte gerechtfertigt werden können. Schon Darwin selbst hatte
(Über die Entstehung der Arten, S. 406) bemerkt, das Gesetz des Überlebens
des Passendsten walte nicht bloß in der Natur, sondern gelte auch für die
Kulturerzeugnisse; sehr natürlich, da ja der Mensch selbst samt seiner Kultur
nur ein Stück Natur ist. Darwin, der sich mit großer Gewissenhaftigkeit vor
Grenzüberschreitungen hütete/") hat diesen Gedanken nicht weiter verfolgt; aber
die Dcirwinianer waren in ihren Nutzanwendungen alles andre, nur nicht ge¬
wissenhaft, und den Sozialdemokraten konnte man es wahrhaftig nicht verargen,
wenn sie in den Spuren berühmter Leuchten der Wissenschaft frohgemut fort¬
wandelten, überzeugt, daß dieser Weg ins gelobte Land führe. Sprach es doch
Schaffte geradezu aus: das Gesellschaftsleben sei das einzige Gebiet, von
dem durch die Erfahrung bewiesen sei, daß darin die Darwinischen Lehren von
der Zuchtwahl, von dem Überleben des Passendsten, von der Auslese durch den
Kampf ums Dasein erwiesen seien. Was lag näher als die Folgerung, daß
der Marxismus biologisch gerechtfertigt sei? Sah man es doch vor Augen,
wie überall die Reste der Naturalwirtschaft von der Geldwirtschaft verdrängt
wurden, wie der Handwerker dem Fabrikanten, der kleine Fabrikant dem großen,
der einzelne Großunternehmer der Aktiengesellschaft weichen mußte. Da hatte
man ja die Umbildung der niedern Gesellschafts- und Produktionsformen in
höhere auf den von Darwin beschriebnen Wegen leibhaftig vor sich! Und
wohin anders sollte sich die bei der Aktiengesellschaft angelangte Produktion
weiter entwickeln als zur kollektivistisch betriebnen Großindustrie? Denn daß
sie nicht stehen bleiben kann, sondern sich fortentwickeln muß, ist klar, da es
ja im Begriff der Evolution liegt, keinen Stillstand zuzulassen, sodaß sie
endlos gedacht werden muß, oder als erst mit dem Dasein unsers Planeten



^) Wo es ihm einmal begegnet, das; er die Grenzen seiner Zuständigkeit überschreitet, wie
in jene», Vergleich seiner Hypothese mit der Hypothese der Optiker, da ist nicht Mangel an Ge¬
wissenhaftigkeit schuld, sondern der Umstand, daß der Grad seiner logischen Schärfe dem Grade
seiner Beobachtungsgabe nicht entsprach.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/533>, abgerufen am 23.07.2024.