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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

herrschenden Unwetters, rückgängig gemacht worden sei, wird als notwendig
nachgewiesen. Die Behauptung Bazaines, daß, wenn es ihm auch gelungen
wäre, am 30. August oder 1. September die preußischen Linien in der Richtung
auf Thionville zu durchbrechen, er doch vom Feinde in den nächsten Tagen
gestellt und vernichtet worden wäre, wird ebenfalls von allen erfahrnen
Generalen bestätigt.

Mehrere Sitzungen hindurch drehen sich die Vernehmungen darum, ob
und wann Bazaine die von Mac Mahon abgesandten Mitteilungen über seinen
verhängnisvollen Abmarsch nach Norden erhalten habe, und was er hätte thun
müssen, um dem Entsatzheere entgegenzukommen. Das Ergebnis dieser bis in
das Allerkleinste gehenden Verhandlungen ist lediglich negativ, denn es ist nichts
sichres festzustellen. Aber welch ein Bild unendlicher Verwirrung und ge¬
ringer Pflichttreue entrollt sich aus diesen Vernehmungen! Wir Deutschen
würden es ganz unbegreiflich finden, wenn ein Chef des Generalstabs aus per¬
sönlicher Empfindlichkeit einem Untergebnen ohne Nachprüfung überließe, die
Pläne und Befehle für ein wichtiges Gefecht aufzustellen und auszuarbeiten,
uns wäre ein Oberst unverständlich, dem eine mit Mühe und Gefahr durch
die Feinde gebrachte wichtige Meldung überbracht würde, und der. ohne sich
in seinem Frühstück stören zu lassen, sie in die Tasche steckt und seinem General
einfach nicht mitteilt. Und wie würde bei uns ein Adjutant behandelt werden,
den sein General zum Kaiser geschickt Hütte und der, wenn er erführe, daß die
Eisenbahn unterbrochen sei, einfach die Rückkehr aufgäbe und nicht einmal
versuchte, durch die noch lückenhaften Linien der Feinde zu seinem General zu
gelangen, zu einer Zeit, wo nachweislich noch jeder Spaziergänger durchkonnte?
Ähnliche Vorgänge wären, das darf wohl kühn behauptet werdeu, auch nach
schweren Niederlagen im deutschen Heere unmöglich gewesen.

Gleiche Verwirrung, gleiche Ungenauigkeit der Meldungen, gleiche Saum¬
seligkeit und dabei die kleinlichsten Eifersüchteleien zeigen sich in den Verwal-
tungs- und Verpflegungszweigen. Wie sonderbar mutet es uns endlich an, wenn
Beamte in leitender Stellung auf die Frage des Vorsitzenden: Haben Sie denn
nicht gesehen, wie arg dies oder das Versehen das Ganze bedrohte, und haben
Sie sich nicht verpflichtet gefühlt, den Oberbefehlshaber darauf aufmerksam zu
machen, da er doch schließlich nicht alles sehen kann? mit voller Seelenruhe
antworten: Ja, bemerkt habe ich es wohl, aber das war nicht meine Sache!

Äußerste Verwirrung und mangelhafte Ausführung gegebner Befehle einer¬
seits, aber auch ehrliches Festhalten an den Bedingungen der nun einmal ab¬
geschlossenen Kapitulation andrerseits erklärt auch, wie es der Marschall unter¬
lassen konnte, Fahnen und Kriegsmaterial zu vernichten. Tagelang drehen sich
die Verhandlungen um den erlassenen, dann wieder zurückgenommnen, dann
wiederholten, schließlich nicht ausgeführten Befehl zur Verbrennung der Fahnen.
Die Ansichten der ältern Führer darüber, ob es geboten oder nützlich gewesen


Grenzboten II 1897 M
Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

herrschenden Unwetters, rückgängig gemacht worden sei, wird als notwendig
nachgewiesen. Die Behauptung Bazaines, daß, wenn es ihm auch gelungen
wäre, am 30. August oder 1. September die preußischen Linien in der Richtung
auf Thionville zu durchbrechen, er doch vom Feinde in den nächsten Tagen
gestellt und vernichtet worden wäre, wird ebenfalls von allen erfahrnen
Generalen bestätigt.

Mehrere Sitzungen hindurch drehen sich die Vernehmungen darum, ob
und wann Bazaine die von Mac Mahon abgesandten Mitteilungen über seinen
verhängnisvollen Abmarsch nach Norden erhalten habe, und was er hätte thun
müssen, um dem Entsatzheere entgegenzukommen. Das Ergebnis dieser bis in
das Allerkleinste gehenden Verhandlungen ist lediglich negativ, denn es ist nichts
sichres festzustellen. Aber welch ein Bild unendlicher Verwirrung und ge¬
ringer Pflichttreue entrollt sich aus diesen Vernehmungen! Wir Deutschen
würden es ganz unbegreiflich finden, wenn ein Chef des Generalstabs aus per¬
sönlicher Empfindlichkeit einem Untergebnen ohne Nachprüfung überließe, die
Pläne und Befehle für ein wichtiges Gefecht aufzustellen und auszuarbeiten,
uns wäre ein Oberst unverständlich, dem eine mit Mühe und Gefahr durch
die Feinde gebrachte wichtige Meldung überbracht würde, und der. ohne sich
in seinem Frühstück stören zu lassen, sie in die Tasche steckt und seinem General
einfach nicht mitteilt. Und wie würde bei uns ein Adjutant behandelt werden,
den sein General zum Kaiser geschickt Hütte und der, wenn er erführe, daß die
Eisenbahn unterbrochen sei, einfach die Rückkehr aufgäbe und nicht einmal
versuchte, durch die noch lückenhaften Linien der Feinde zu seinem General zu
gelangen, zu einer Zeit, wo nachweislich noch jeder Spaziergänger durchkonnte?
Ähnliche Vorgänge wären, das darf wohl kühn behauptet werdeu, auch nach
schweren Niederlagen im deutschen Heere unmöglich gewesen.

Gleiche Verwirrung, gleiche Ungenauigkeit der Meldungen, gleiche Saum¬
seligkeit und dabei die kleinlichsten Eifersüchteleien zeigen sich in den Verwal-
tungs- und Verpflegungszweigen. Wie sonderbar mutet es uns endlich an, wenn
Beamte in leitender Stellung auf die Frage des Vorsitzenden: Haben Sie denn
nicht gesehen, wie arg dies oder das Versehen das Ganze bedrohte, und haben
Sie sich nicht verpflichtet gefühlt, den Oberbefehlshaber darauf aufmerksam zu
machen, da er doch schließlich nicht alles sehen kann? mit voller Seelenruhe
antworten: Ja, bemerkt habe ich es wohl, aber das war nicht meine Sache!

Äußerste Verwirrung und mangelhafte Ausführung gegebner Befehle einer¬
seits, aber auch ehrliches Festhalten an den Bedingungen der nun einmal ab¬
geschlossenen Kapitulation andrerseits erklärt auch, wie es der Marschall unter¬
lassen konnte, Fahnen und Kriegsmaterial zu vernichten. Tagelang drehen sich
die Verhandlungen um den erlassenen, dann wieder zurückgenommnen, dann
wiederholten, schließlich nicht ausgeführten Befehl zur Verbrennung der Fahnen.
Die Ansichten der ältern Führer darüber, ob es geboten oder nützlich gewesen


Grenzboten II 1897 M
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[0521] Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren herrschenden Unwetters, rückgängig gemacht worden sei, wird als notwendig nachgewiesen. Die Behauptung Bazaines, daß, wenn es ihm auch gelungen wäre, am 30. August oder 1. September die preußischen Linien in der Richtung auf Thionville zu durchbrechen, er doch vom Feinde in den nächsten Tagen gestellt und vernichtet worden wäre, wird ebenfalls von allen erfahrnen Generalen bestätigt. Mehrere Sitzungen hindurch drehen sich die Vernehmungen darum, ob und wann Bazaine die von Mac Mahon abgesandten Mitteilungen über seinen verhängnisvollen Abmarsch nach Norden erhalten habe, und was er hätte thun müssen, um dem Entsatzheere entgegenzukommen. Das Ergebnis dieser bis in das Allerkleinste gehenden Verhandlungen ist lediglich negativ, denn es ist nichts sichres festzustellen. Aber welch ein Bild unendlicher Verwirrung und ge¬ ringer Pflichttreue entrollt sich aus diesen Vernehmungen! Wir Deutschen würden es ganz unbegreiflich finden, wenn ein Chef des Generalstabs aus per¬ sönlicher Empfindlichkeit einem Untergebnen ohne Nachprüfung überließe, die Pläne und Befehle für ein wichtiges Gefecht aufzustellen und auszuarbeiten, uns wäre ein Oberst unverständlich, dem eine mit Mühe und Gefahr durch die Feinde gebrachte wichtige Meldung überbracht würde, und der. ohne sich in seinem Frühstück stören zu lassen, sie in die Tasche steckt und seinem General einfach nicht mitteilt. Und wie würde bei uns ein Adjutant behandelt werden, den sein General zum Kaiser geschickt Hütte und der, wenn er erführe, daß die Eisenbahn unterbrochen sei, einfach die Rückkehr aufgäbe und nicht einmal versuchte, durch die noch lückenhaften Linien der Feinde zu seinem General zu gelangen, zu einer Zeit, wo nachweislich noch jeder Spaziergänger durchkonnte? Ähnliche Vorgänge wären, das darf wohl kühn behauptet werdeu, auch nach schweren Niederlagen im deutschen Heere unmöglich gewesen. Gleiche Verwirrung, gleiche Ungenauigkeit der Meldungen, gleiche Saum¬ seligkeit und dabei die kleinlichsten Eifersüchteleien zeigen sich in den Verwal- tungs- und Verpflegungszweigen. Wie sonderbar mutet es uns endlich an, wenn Beamte in leitender Stellung auf die Frage des Vorsitzenden: Haben Sie denn nicht gesehen, wie arg dies oder das Versehen das Ganze bedrohte, und haben Sie sich nicht verpflichtet gefühlt, den Oberbefehlshaber darauf aufmerksam zu machen, da er doch schließlich nicht alles sehen kann? mit voller Seelenruhe antworten: Ja, bemerkt habe ich es wohl, aber das war nicht meine Sache! Äußerste Verwirrung und mangelhafte Ausführung gegebner Befehle einer¬ seits, aber auch ehrliches Festhalten an den Bedingungen der nun einmal ab¬ geschlossenen Kapitulation andrerseits erklärt auch, wie es der Marschall unter¬ lassen konnte, Fahnen und Kriegsmaterial zu vernichten. Tagelang drehen sich die Verhandlungen um den erlassenen, dann wieder zurückgenommnen, dann wiederholten, schließlich nicht ausgeführten Befehl zur Verbrennung der Fahnen. Die Ansichten der ältern Führer darüber, ob es geboten oder nützlich gewesen Grenzboten II 1897 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/521>, abgerufen am 23.07.2024.