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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

Agitatoren im Hauptberuf über kurz oder laug von der Bühne verschwunden sein
werden, wenn die national-soziale Firma wieder gelöscht sein wird, dann wird,
so fürchten wir, die böse Saat der kathedersozialistischen Einseitigkeit noch lange
Jahre unter den gebildeten Deutschen böse Früchte zeitigen und mehr als alle
Übertreibungen der Schlotbarone den Staat in der Weiterführung sozialer
Reformen lahmen und hemmen. Die sozialistische Modenarrheit ist eben gar
zu verlockend, gar zu bequem. Der widerlichste Klatsch unzufriedner Arbeiter
und Arbeiterhetzblätter ist eine reichlich fließende, pikante Quelle sozialpolitischer
Erkenntnis, und die vielgerühmten ethischen Postulate der kathedersozialistischen
Staatswisfenschcift lassen der persönlichen Eigensucht und Lieblosigkeit des rück¬
sichtslosesten Strebertums durchaus freien Spielraum. Selbst der ausgesuchteste
Geldprotz und Schlemmer in Berlin-West kann hier ohne irgend welche Un¬
bequemlichkeit mitmachen oder doch die Herren Söhne, auch Frauen und
Töchter mitmachen lassen. Wir leben der Zuversicht, daß die Wahrheit und
Gerechtigkeit, das ist das Gegenteil der Einseitigkeit und Übertreibung, bei uns
auch in der Wissenschaft und Praxis der Sozialpolitik obenaufkommen wird,
und im Kampfe für diese Wahrheit nach rechts wie nach links hoffen auch
wir mit Herrn Bosse ein gutes Gewissen zu behalten.




Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig fahren
V. Milferstaedt von

ofort nach Beendigung des Krieges von 1870/71 wurde von der
französischen Nationalversammlung eine Kommission eingesetzt, die
unter dem Vorsitz des Deputirten Saint-Marc Girardin die Ur¬
sachen der Niederlagen ermitteln sollte. Auf Grund des von
dieser Kommission erstatteten Berichts sah sich der damalige
Kriegsminister de Cissey gezwungen, die Untersuchung gegen den Marschall
Bazaine einzuleiten. Dies geschah durch einen Befehl vom 7. Mai 1872.

Bei dem Maugel an hohen Offizieren, die nach dem Gesetz über einen
Marschall von Frankreich zu urteilen berufen gewesen wären, mußte erst durch
ein besondres Gesetz (vom 16. Mai 1872) bestimmt werden, daß in solchen
Fällen auch Admiräle und Generale, die vor dem Feinde kommandirt hätten,
den Gerichtshof über einen Marschall bilden, und daß ein Divisionsgeneral die


Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren

Agitatoren im Hauptberuf über kurz oder laug von der Bühne verschwunden sein
werden, wenn die national-soziale Firma wieder gelöscht sein wird, dann wird,
so fürchten wir, die böse Saat der kathedersozialistischen Einseitigkeit noch lange
Jahre unter den gebildeten Deutschen böse Früchte zeitigen und mehr als alle
Übertreibungen der Schlotbarone den Staat in der Weiterführung sozialer
Reformen lahmen und hemmen. Die sozialistische Modenarrheit ist eben gar
zu verlockend, gar zu bequem. Der widerlichste Klatsch unzufriedner Arbeiter
und Arbeiterhetzblätter ist eine reichlich fließende, pikante Quelle sozialpolitischer
Erkenntnis, und die vielgerühmten ethischen Postulate der kathedersozialistischen
Staatswisfenschcift lassen der persönlichen Eigensucht und Lieblosigkeit des rück¬
sichtslosesten Strebertums durchaus freien Spielraum. Selbst der ausgesuchteste
Geldprotz und Schlemmer in Berlin-West kann hier ohne irgend welche Un¬
bequemlichkeit mitmachen oder doch die Herren Söhne, auch Frauen und
Töchter mitmachen lassen. Wir leben der Zuversicht, daß die Wahrheit und
Gerechtigkeit, das ist das Gegenteil der Einseitigkeit und Übertreibung, bei uns
auch in der Wissenschaft und Praxis der Sozialpolitik obenaufkommen wird,
und im Kampfe für diese Wahrheit nach rechts wie nach links hoffen auch
wir mit Herrn Bosse ein gutes Gewissen zu behalten.




Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig fahren
V. Milferstaedt von

ofort nach Beendigung des Krieges von 1870/71 wurde von der
französischen Nationalversammlung eine Kommission eingesetzt, die
unter dem Vorsitz des Deputirten Saint-Marc Girardin die Ur¬
sachen der Niederlagen ermitteln sollte. Auf Grund des von
dieser Kommission erstatteten Berichts sah sich der damalige
Kriegsminister de Cissey gezwungen, die Untersuchung gegen den Marschall
Bazaine einzuleiten. Dies geschah durch einen Befehl vom 7. Mai 1872.

Bei dem Maugel an hohen Offizieren, die nach dem Gesetz über einen
Marschall von Frankreich zu urteilen berufen gewesen wären, mußte erst durch
ein besondres Gesetz (vom 16. Mai 1872) bestimmt werden, daß in solchen
Fällen auch Admiräle und Generale, die vor dem Feinde kommandirt hätten,
den Gerichtshof über einen Marschall bilden, und daß ein Divisionsgeneral die


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[0512] Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig Jahren Agitatoren im Hauptberuf über kurz oder laug von der Bühne verschwunden sein werden, wenn die national-soziale Firma wieder gelöscht sein wird, dann wird, so fürchten wir, die böse Saat der kathedersozialistischen Einseitigkeit noch lange Jahre unter den gebildeten Deutschen böse Früchte zeitigen und mehr als alle Übertreibungen der Schlotbarone den Staat in der Weiterführung sozialer Reformen lahmen und hemmen. Die sozialistische Modenarrheit ist eben gar zu verlockend, gar zu bequem. Der widerlichste Klatsch unzufriedner Arbeiter und Arbeiterhetzblätter ist eine reichlich fließende, pikante Quelle sozialpolitischer Erkenntnis, und die vielgerühmten ethischen Postulate der kathedersozialistischen Staatswisfenschcift lassen der persönlichen Eigensucht und Lieblosigkeit des rück¬ sichtslosesten Strebertums durchaus freien Spielraum. Selbst der ausgesuchteste Geldprotz und Schlemmer in Berlin-West kann hier ohne irgend welche Un¬ bequemlichkeit mitmachen oder doch die Herren Söhne, auch Frauen und Töchter mitmachen lassen. Wir leben der Zuversicht, daß die Wahrheit und Gerechtigkeit, das ist das Gegenteil der Einseitigkeit und Übertreibung, bei uns auch in der Wissenschaft und Praxis der Sozialpolitik obenaufkommen wird, und im Kampfe für diese Wahrheit nach rechts wie nach links hoffen auch wir mit Herrn Bosse ein gutes Gewissen zu behalten. Der Prozeß Bazaine nach fünfundzwanzig fahren V. Milferstaedt von ofort nach Beendigung des Krieges von 1870/71 wurde von der französischen Nationalversammlung eine Kommission eingesetzt, die unter dem Vorsitz des Deputirten Saint-Marc Girardin die Ur¬ sachen der Niederlagen ermitteln sollte. Auf Grund des von dieser Kommission erstatteten Berichts sah sich der damalige Kriegsminister de Cissey gezwungen, die Untersuchung gegen den Marschall Bazaine einzuleiten. Dies geschah durch einen Befehl vom 7. Mai 1872. Bei dem Maugel an hohen Offizieren, die nach dem Gesetz über einen Marschall von Frankreich zu urteilen berufen gewesen wären, mußte erst durch ein besondres Gesetz (vom 16. Mai 1872) bestimmt werden, daß in solchen Fällen auch Admiräle und Generale, die vor dem Feinde kommandirt hätten, den Gerichtshof über einen Marschall bilden, und daß ein Divisionsgeneral die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/512>, abgerufen am 23.07.2024.