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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

das abgesandte Geld von ihm zu fordern hat, oder irgend eines bei der Sache
interessirten Dritten sichern wollte, doch noch vor Ablauf der sechs Monate eine
Empfangsbekenntnis des Adressaten verschaffen, denn sonst könnte es eben nie und
niemand gegenüber behaupten, daß das Geld an den Adressaten gelangt sei! So
lange also einem Postschein nicht die Bedeutung einer Quittung des Adressaten
gesetzlich beigelegt ist, bleibt der Vorschlag des Herrn Einsenders des Artikels
in Heft 16 unannehmbar. Gegen ein Gesetz solchen Inhalts Würde sich die Post
aber sehr energisch verwahren, und das würde ihr auch nicht zu verdenken sein.




Litteratur
Minderjährige Verbrecher. (Versuch einer strasgerichtlichcn Psychologie.) Mit Originnl-
Gutnchtcn von Bercnini, Brusa, Colnjmmi, Negri, Nordnu, Piernntoni, Von Cav. Lino
Ferriani, Stnntsamvnlt in Como, Deutsch von Alfred Nuhemann, Autorisirte AuSgnve.
Berlin, Siegfried Cronbach, 1896

Etwas neues kann ein Buch über junge Verbrecher nicht mehr bringen.
Wir wissen alle längst, daß die Verbrechen, soweit sie aus sozialen Übelständen
hervorgehen -- und das ist bei denen der Kinder und Jünglinge meistens der
Fall --, nicht dnrch die Strafrechtspflege, sondern nur durch die Beseitigung jener
Übelstände vermindert werden können, und in welchen Punkten die kriminalrechtliche
Behandlung der jungen Verbrecher, so weit sie nicht entbehrt werden kann,
der Verbesserung bedürftig ist. Das vorliegende, leider elend übersetzte Buch ist
aber dennoch sehr empfehlenswert, weil es eine überreiche Beispielsammlung enthält,
die Psychologischen Fragen im allgemeinen richtig behandelt, und weil der Verfasser,
auf seine reichen Erfahrungen gestützt, den feinen Herren und Damen energisch zu
Leibe geht, die sich anstellen, als wenn sie von der Wirklichkeit nichts hörten und
sähen, und die die Schilderungen realistischer Romane für übertrieben oder unwahr
erklären. Er seinerseits behauptet, daß auch die düstersten Schilderungen noch hinter
der Wirklichkeit zurückblieben, empfiehlt die realistischen Romane einschließlich derer
von Zola und hält dafür, daß Dichter wie Carducci und Ada Negri mehr Segen
stifteten als Abhandlungen und Moralpredigten. Daß Ferriani Staatsanwalt ist
und seine Erfahrungen in der Ausübung gerade dieses Berufs gesammelt hat, ver¬
leiht seinen Worten ein besondres Gewicht.


Kleine Lyrik. Zum Licht!

heißt eine Sammlung von Gedichten von
Wilhelm Holzamer (Berlin, Schuster und Löffler). Es sind gute Verse in guter,
bezeichnender Sprache. Damit ist aber für eiuen großen Teil alles gesagt, denn
ste behandeln erdachte Sachen, keine erlebten Gegenstände. Ein andrer Teil enthält
innerlich Erlebtes, ist aber ganz polemisch: ans der einen Seite steht der Verfasser
mit seinen Freunden und Führern (Nietzsche), mit seinen besondern Anschauungen
und Ansprüche", auf der andern die ganze übrige Menschheit, die ihm alles das
nicht zugesteht und darum möglichst von oben herab abgekanzelt wird. Daß es
jemand unter Umstände" eine gewisse Befriedigung gewähren kauu, dergleichen
in Verse zu bringen und drucken zu lassen, ist begreiflich. Ob er aber auf andre


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das abgesandte Geld von ihm zu fordern hat, oder irgend eines bei der Sache
interessirten Dritten sichern wollte, doch noch vor Ablauf der sechs Monate eine
Empfangsbekenntnis des Adressaten verschaffen, denn sonst könnte es eben nie und
niemand gegenüber behaupten, daß das Geld an den Adressaten gelangt sei! So
lange also einem Postschein nicht die Bedeutung einer Quittung des Adressaten
gesetzlich beigelegt ist, bleibt der Vorschlag des Herrn Einsenders des Artikels
in Heft 16 unannehmbar. Gegen ein Gesetz solchen Inhalts Würde sich die Post
aber sehr energisch verwahren, und das würde ihr auch nicht zu verdenken sein.




Litteratur
Minderjährige Verbrecher. (Versuch einer strasgerichtlichcn Psychologie.) Mit Originnl-
Gutnchtcn von Bercnini, Brusa, Colnjmmi, Negri, Nordnu, Piernntoni, Von Cav. Lino
Ferriani, Stnntsamvnlt in Como, Deutsch von Alfred Nuhemann, Autorisirte AuSgnve.
Berlin, Siegfried Cronbach, 1896

Etwas neues kann ein Buch über junge Verbrecher nicht mehr bringen.
Wir wissen alle längst, daß die Verbrechen, soweit sie aus sozialen Übelständen
hervorgehen — und das ist bei denen der Kinder und Jünglinge meistens der
Fall —, nicht dnrch die Strafrechtspflege, sondern nur durch die Beseitigung jener
Übelstände vermindert werden können, und in welchen Punkten die kriminalrechtliche
Behandlung der jungen Verbrecher, so weit sie nicht entbehrt werden kann,
der Verbesserung bedürftig ist. Das vorliegende, leider elend übersetzte Buch ist
aber dennoch sehr empfehlenswert, weil es eine überreiche Beispielsammlung enthält,
die Psychologischen Fragen im allgemeinen richtig behandelt, und weil der Verfasser,
auf seine reichen Erfahrungen gestützt, den feinen Herren und Damen energisch zu
Leibe geht, die sich anstellen, als wenn sie von der Wirklichkeit nichts hörten und
sähen, und die die Schilderungen realistischer Romane für übertrieben oder unwahr
erklären. Er seinerseits behauptet, daß auch die düstersten Schilderungen noch hinter
der Wirklichkeit zurückblieben, empfiehlt die realistischen Romane einschließlich derer
von Zola und hält dafür, daß Dichter wie Carducci und Ada Negri mehr Segen
stifteten als Abhandlungen und Moralpredigten. Daß Ferriani Staatsanwalt ist
und seine Erfahrungen in der Ausübung gerade dieses Berufs gesammelt hat, ver¬
leiht seinen Worten ein besondres Gewicht.


Kleine Lyrik. Zum Licht!

heißt eine Sammlung von Gedichten von
Wilhelm Holzamer (Berlin, Schuster und Löffler). Es sind gute Verse in guter,
bezeichnender Sprache. Damit ist aber für eiuen großen Teil alles gesagt, denn
ste behandeln erdachte Sachen, keine erlebten Gegenstände. Ein andrer Teil enthält
innerlich Erlebtes, ist aber ganz polemisch: ans der einen Seite steht der Verfasser
mit seinen Freunden und Führern (Nietzsche), mit seinen besondern Anschauungen
und Ansprüche», auf der andern die ganze übrige Menschheit, die ihm alles das
nicht zugesteht und darum möglichst von oben herab abgekanzelt wird. Daß es
jemand unter Umstände» eine gewisse Befriedigung gewähren kauu, dergleichen
in Verse zu bringen und drucken zu lassen, ist begreiflich. Ob er aber auf andre


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[0503] Litteratur das abgesandte Geld von ihm zu fordern hat, oder irgend eines bei der Sache interessirten Dritten sichern wollte, doch noch vor Ablauf der sechs Monate eine Empfangsbekenntnis des Adressaten verschaffen, denn sonst könnte es eben nie und niemand gegenüber behaupten, daß das Geld an den Adressaten gelangt sei! So lange also einem Postschein nicht die Bedeutung einer Quittung des Adressaten gesetzlich beigelegt ist, bleibt der Vorschlag des Herrn Einsenders des Artikels in Heft 16 unannehmbar. Gegen ein Gesetz solchen Inhalts Würde sich die Post aber sehr energisch verwahren, und das würde ihr auch nicht zu verdenken sein. Litteratur Minderjährige Verbrecher. (Versuch einer strasgerichtlichcn Psychologie.) Mit Originnl- Gutnchtcn von Bercnini, Brusa, Colnjmmi, Negri, Nordnu, Piernntoni, Von Cav. Lino Ferriani, Stnntsamvnlt in Como, Deutsch von Alfred Nuhemann, Autorisirte AuSgnve. Berlin, Siegfried Cronbach, 1896 Etwas neues kann ein Buch über junge Verbrecher nicht mehr bringen. Wir wissen alle längst, daß die Verbrechen, soweit sie aus sozialen Übelständen hervorgehen — und das ist bei denen der Kinder und Jünglinge meistens der Fall —, nicht dnrch die Strafrechtspflege, sondern nur durch die Beseitigung jener Übelstände vermindert werden können, und in welchen Punkten die kriminalrechtliche Behandlung der jungen Verbrecher, so weit sie nicht entbehrt werden kann, der Verbesserung bedürftig ist. Das vorliegende, leider elend übersetzte Buch ist aber dennoch sehr empfehlenswert, weil es eine überreiche Beispielsammlung enthält, die Psychologischen Fragen im allgemeinen richtig behandelt, und weil der Verfasser, auf seine reichen Erfahrungen gestützt, den feinen Herren und Damen energisch zu Leibe geht, die sich anstellen, als wenn sie von der Wirklichkeit nichts hörten und sähen, und die die Schilderungen realistischer Romane für übertrieben oder unwahr erklären. Er seinerseits behauptet, daß auch die düstersten Schilderungen noch hinter der Wirklichkeit zurückblieben, empfiehlt die realistischen Romane einschließlich derer von Zola und hält dafür, daß Dichter wie Carducci und Ada Negri mehr Segen stifteten als Abhandlungen und Moralpredigten. Daß Ferriani Staatsanwalt ist und seine Erfahrungen in der Ausübung gerade dieses Berufs gesammelt hat, ver¬ leiht seinen Worten ein besondres Gewicht. Kleine Lyrik. Zum Licht! heißt eine Sammlung von Gedichten von Wilhelm Holzamer (Berlin, Schuster und Löffler). Es sind gute Verse in guter, bezeichnender Sprache. Damit ist aber für eiuen großen Teil alles gesagt, denn ste behandeln erdachte Sachen, keine erlebten Gegenstände. Ein andrer Teil enthält innerlich Erlebtes, ist aber ganz polemisch: ans der einen Seite steht der Verfasser mit seinen Freunden und Führern (Nietzsche), mit seinen besondern Anschauungen und Ansprüche», auf der andern die ganze übrige Menschheit, die ihm alles das nicht zugesteht und darum möglichst von oben herab abgekanzelt wird. Daß es jemand unter Umstände» eine gewisse Befriedigung gewähren kauu, dergleichen in Verse zu bringen und drucken zu lassen, ist begreiflich. Ob er aber auf andre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/503>, abgerufen am 23.07.2024.