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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Phädrus, auf diesem Wege die dahinsiechende Kunstgattung zu retten. Das
Lehrhafte, woran beide Dichter festhielten, widerstreitet allzusehr dem innersten
Wesen der Dichtkunst.

Aber freilich hatte auch als Lehrmittel die Fabel noch eine Zukunft, so
lange es rohere Völker gab, die sich anschickten, den Lehrgang der klassischen
Völker nun ihrerseits zu durchlaufen. Die Deutschen des Mittelalters nahmen
die Fabel, die ihnen in sehr entstellter, zum Teil in orientalisch beeinflußter
Form zukam, beifällig auf und bereicherten mit ihr das heimische Tierepos,
das noch seine jugendliche Frische bewahrt hatte. Im achtzehnten Jahrhundert
schien es gar, als ob die verkannte Fabel endlich wieder den ihr gebührenden
Platz einnehmen sollte: Lafontaine machte sie durch eine Dosis witziger Ge¬
schwätzigkeit dem Geschmack seiner Zeit genießbar, und das Lehrhafte der Fabel
konnte unmöglich ein Geschlecht abstoßen, das die Moral als Kern der Religion
wie der Dichtung ansah, und dem noch Schiller Betrachtungen über die Schau¬
bühne als moralische Anstalt widmete. Ihre größten Erfolge hatte die Fabel¬
dichtung in Deutschland; hier bildete sich an ihr das beschränkte und philiströse
Bürgertum, und es mag damals so manche Familie gegeben haben, deren
Hausbibliothek aus der Bibel, dem Gesangbuch und Gellerts Fabeln bestand.
Lessing endlich wollte den letzten Schritt thun, die antike Fcibeldichtuug er¬
neuern und der neuen Kunstform eine dauernde Stätte bereiten. Aber schon
war der ganze künstliche Bau wieder morsch geworden; das deutsche Volk, un¬
aufhaltsam vorwärts gedrängt in seiner geistigen Entwicklung, warf die Fabeln
beiseite wie eine kindische Fibel der ersten Schuljahre und zeigte sich reif für
die Meisterwerke der Dichtung unsrer Klassiker. Wieder aber sielen die Fabeln
nun den Kindern anheim, der Lehrer erläuterte an ihnen abermals gleichzeitig
Grammatik und Sittlichkeit, und wer noch Lust hatte, Fabeln zu erdichten, der
wandte sich lieber gleich unmittelbar an die Kinder, denn bei den Erwachsenen
machte er sicher kein Glück mehr damit.

Den raschen Verfall der Fabel konnte auch der Umstand nicht aufhalten,
daß sie sich im Laufe ihrer Entwicklung aufs engste mit Witz und Komik ver¬
bunden hatte. Wahrscheinlich schon im Altertum, sicher aber im vorigen Jahr¬
hundert verdankte sie allerdings dem Witz einen großen Teil ihres Erfolgs.
Die harmlosen Scherze der Gellertschen Fabeln hoben doch das deutsche
Philisterium ein wenig aus seiner platten Nüchternheit heraus, gaben ihm ein
Gefühl spielender Überlegenheit über den eignen dumpfen Zustand und zeigten
ihm den Weg höherer und verfeinerter Kulturentwicklung. Aber der Witz ist
so wenig von dauernder Wirkung wie die lehrhafte Dichtung, mit der er in
seinen Erfolgen eine gewisse Verwandtschaft zeigt. Das freudige Gefühl über¬
legner Einsicht und Kraft, das ein gelungner Witz einflößt, wirkt nur einmal
mit voller Macht, um dann rasch abzunehmen. Auch der beste Witz kann
schon an und sür sich zu Tode gehetzt werden; noch mehr aber ändert sich
mit steigender Kultur das ganze Gebiet der Komik, und je mehr sich das Ver-


Die Tierfabel

Phädrus, auf diesem Wege die dahinsiechende Kunstgattung zu retten. Das
Lehrhafte, woran beide Dichter festhielten, widerstreitet allzusehr dem innersten
Wesen der Dichtkunst.

Aber freilich hatte auch als Lehrmittel die Fabel noch eine Zukunft, so
lange es rohere Völker gab, die sich anschickten, den Lehrgang der klassischen
Völker nun ihrerseits zu durchlaufen. Die Deutschen des Mittelalters nahmen
die Fabel, die ihnen in sehr entstellter, zum Teil in orientalisch beeinflußter
Form zukam, beifällig auf und bereicherten mit ihr das heimische Tierepos,
das noch seine jugendliche Frische bewahrt hatte. Im achtzehnten Jahrhundert
schien es gar, als ob die verkannte Fabel endlich wieder den ihr gebührenden
Platz einnehmen sollte: Lafontaine machte sie durch eine Dosis witziger Ge¬
schwätzigkeit dem Geschmack seiner Zeit genießbar, und das Lehrhafte der Fabel
konnte unmöglich ein Geschlecht abstoßen, das die Moral als Kern der Religion
wie der Dichtung ansah, und dem noch Schiller Betrachtungen über die Schau¬
bühne als moralische Anstalt widmete. Ihre größten Erfolge hatte die Fabel¬
dichtung in Deutschland; hier bildete sich an ihr das beschränkte und philiströse
Bürgertum, und es mag damals so manche Familie gegeben haben, deren
Hausbibliothek aus der Bibel, dem Gesangbuch und Gellerts Fabeln bestand.
Lessing endlich wollte den letzten Schritt thun, die antike Fcibeldichtuug er¬
neuern und der neuen Kunstform eine dauernde Stätte bereiten. Aber schon
war der ganze künstliche Bau wieder morsch geworden; das deutsche Volk, un¬
aufhaltsam vorwärts gedrängt in seiner geistigen Entwicklung, warf die Fabeln
beiseite wie eine kindische Fibel der ersten Schuljahre und zeigte sich reif für
die Meisterwerke der Dichtung unsrer Klassiker. Wieder aber sielen die Fabeln
nun den Kindern anheim, der Lehrer erläuterte an ihnen abermals gleichzeitig
Grammatik und Sittlichkeit, und wer noch Lust hatte, Fabeln zu erdichten, der
wandte sich lieber gleich unmittelbar an die Kinder, denn bei den Erwachsenen
machte er sicher kein Glück mehr damit.

Den raschen Verfall der Fabel konnte auch der Umstand nicht aufhalten,
daß sie sich im Laufe ihrer Entwicklung aufs engste mit Witz und Komik ver¬
bunden hatte. Wahrscheinlich schon im Altertum, sicher aber im vorigen Jahr¬
hundert verdankte sie allerdings dem Witz einen großen Teil ihres Erfolgs.
Die harmlosen Scherze der Gellertschen Fabeln hoben doch das deutsche
Philisterium ein wenig aus seiner platten Nüchternheit heraus, gaben ihm ein
Gefühl spielender Überlegenheit über den eignen dumpfen Zustand und zeigten
ihm den Weg höherer und verfeinerter Kulturentwicklung. Aber der Witz ist
so wenig von dauernder Wirkung wie die lehrhafte Dichtung, mit der er in
seinen Erfolgen eine gewisse Verwandtschaft zeigt. Das freudige Gefühl über¬
legner Einsicht und Kraft, das ein gelungner Witz einflößt, wirkt nur einmal
mit voller Macht, um dann rasch abzunehmen. Auch der beste Witz kann
schon an und sür sich zu Tode gehetzt werden; noch mehr aber ändert sich
mit steigender Kultur das ganze Gebiet der Komik, und je mehr sich das Ver-


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[0487] Die Tierfabel Phädrus, auf diesem Wege die dahinsiechende Kunstgattung zu retten. Das Lehrhafte, woran beide Dichter festhielten, widerstreitet allzusehr dem innersten Wesen der Dichtkunst. Aber freilich hatte auch als Lehrmittel die Fabel noch eine Zukunft, so lange es rohere Völker gab, die sich anschickten, den Lehrgang der klassischen Völker nun ihrerseits zu durchlaufen. Die Deutschen des Mittelalters nahmen die Fabel, die ihnen in sehr entstellter, zum Teil in orientalisch beeinflußter Form zukam, beifällig auf und bereicherten mit ihr das heimische Tierepos, das noch seine jugendliche Frische bewahrt hatte. Im achtzehnten Jahrhundert schien es gar, als ob die verkannte Fabel endlich wieder den ihr gebührenden Platz einnehmen sollte: Lafontaine machte sie durch eine Dosis witziger Ge¬ schwätzigkeit dem Geschmack seiner Zeit genießbar, und das Lehrhafte der Fabel konnte unmöglich ein Geschlecht abstoßen, das die Moral als Kern der Religion wie der Dichtung ansah, und dem noch Schiller Betrachtungen über die Schau¬ bühne als moralische Anstalt widmete. Ihre größten Erfolge hatte die Fabel¬ dichtung in Deutschland; hier bildete sich an ihr das beschränkte und philiströse Bürgertum, und es mag damals so manche Familie gegeben haben, deren Hausbibliothek aus der Bibel, dem Gesangbuch und Gellerts Fabeln bestand. Lessing endlich wollte den letzten Schritt thun, die antike Fcibeldichtuug er¬ neuern und der neuen Kunstform eine dauernde Stätte bereiten. Aber schon war der ganze künstliche Bau wieder morsch geworden; das deutsche Volk, un¬ aufhaltsam vorwärts gedrängt in seiner geistigen Entwicklung, warf die Fabeln beiseite wie eine kindische Fibel der ersten Schuljahre und zeigte sich reif für die Meisterwerke der Dichtung unsrer Klassiker. Wieder aber sielen die Fabeln nun den Kindern anheim, der Lehrer erläuterte an ihnen abermals gleichzeitig Grammatik und Sittlichkeit, und wer noch Lust hatte, Fabeln zu erdichten, der wandte sich lieber gleich unmittelbar an die Kinder, denn bei den Erwachsenen machte er sicher kein Glück mehr damit. Den raschen Verfall der Fabel konnte auch der Umstand nicht aufhalten, daß sie sich im Laufe ihrer Entwicklung aufs engste mit Witz und Komik ver¬ bunden hatte. Wahrscheinlich schon im Altertum, sicher aber im vorigen Jahr¬ hundert verdankte sie allerdings dem Witz einen großen Teil ihres Erfolgs. Die harmlosen Scherze der Gellertschen Fabeln hoben doch das deutsche Philisterium ein wenig aus seiner platten Nüchternheit heraus, gaben ihm ein Gefühl spielender Überlegenheit über den eignen dumpfen Zustand und zeigten ihm den Weg höherer und verfeinerter Kulturentwicklung. Aber der Witz ist so wenig von dauernder Wirkung wie die lehrhafte Dichtung, mit der er in seinen Erfolgen eine gewisse Verwandtschaft zeigt. Das freudige Gefühl über¬ legner Einsicht und Kraft, das ein gelungner Witz einflößt, wirkt nur einmal mit voller Macht, um dann rasch abzunehmen. Auch der beste Witz kann schon an und sür sich zu Tode gehetzt werden; noch mehr aber ändert sich mit steigender Kultur das ganze Gebiet der Komik, und je mehr sich das Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/487>, abgerufen am 23.07.2024.