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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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München und 'Konstanz

Menschen; außer dem Lande auch die Leute genauer kennen zu lernen und
sie über ihre Verhältnisse auszuforschen, das wäre von der größten Wichtig¬
keit namentlich für meine volkswirtschaftlichen Studien; und das würde weitere
und längere Reisen nach den verschiedensten, auch landschaftlich und historisch
uninteressanter Gegenden rechtfertigen. Aber damit ist es leider vorbei; wenn
schon die Unterhaltung in der Muttersprache Schwierigkeiten macht, so gehts
in einer fremden erst recht nicht. (Zwischen Muttersprache und Muttersprache
ist freilich ein Unterschied; das herausgeschmetterte eincirmirw eines Jtalieners
versteht auch ein halbtanber Deutscher noch besser als das gegurgelte "Drießch
Noppe" eines Schweizer Maidli oder Moitschi oder das Wildkilchli, mit
gutturalem l, des Appenzellers.)

Es war einer der glücklichsten Augenblicke meines Lebens, als ich an einem
regnerischen Augustmorgen -- ich war um vier Uhr von Hospenthal aufge¬
brochen -- an die Stelle der Gotthardstraße kam, wo sich die Aussicht uach
Süden öffnet. Die Wolkendecke schnitt genau mit der Wasserscheide ab; die
nördliche Hälfte des Himmelsgewölbes war grau, die südliche blau; bekanntlich
wird einem nicht gerade an jedem Morgen die Vorstellung vom sonnigen
Süden in so auffälliger Weise bestätigt. Mit Jauchzen begrüßte ich den
Tieino zur Rechten, der blendend weiß die schwärzliche Felswand herabstürzt,
und der Schlott, in dem sich die Windungen der Straße zur schwindelnden
Tiefe hinabsenken, erschien mir nicht bloß als die Pforte zum Paradiese,
sondern mit seinem blauen Hintergründe als das Paradies selbst. Wie thöricht
diese Vorstellung sei, machte mir bald darauf der Junge, der mir mein Nänzchen
trug, klar. Er sah gar nicht italienisch aus, hatte rote Haare und ein un¬
schönes Gesicht. (Der Junge, der mir in einer Arbeiterkantinc oberhalb Airolo
den Morgenimbiß brachte, hatte ein wahrhaft Raffaelisches Engelsgesicht; er
schlug vor Verwunderung die Hände überm Kopf zusammen, als er hörte, daß
ich einen Frank Tragelohn bis Faido geben wolle, aber, rief er bedauernd,
lo non xo8S0, iononposso! er Werdemir einen andern besorgen, und da kam
eben der rothaarige.) Das Benehmen freilich war ganz italienisch. Als ich nun
ein paar Redensarten über die herrliche Gegend vorbrachte, protestierte er aufs
lebhafteste; 0 rin orridils pÄöss, rief er; auöst' inve-mo ö <zg,cwtÄ ura vickanM,
eel lo (jedes Wort mit dramatischer Betonung einzeln herausstoßend und mit
Gestus begleitend) sono stecko <M! Drunten in Varese, von wo ans seine
Eltern der Arbeit am Bahnbau wegen heraufgezogen seien, da sei es schön
gewesen. Von da ab wurde mir nach und nach klar, einen wie großen Anteil
ein unserm Genuß landschaftlicher Schönheiten die Phantasie, allerlei Gedanken¬
verbindungen und äußere Umstände haben. Es ist gar nicht zu verwundern,
daß man die Schönheit der Berge erst von der Zeit ab zu entdecken ange¬
fangen hat, wo die Anlage von Straßen und Wirtshäusern das Reisen weniger
beschwerlich machte. Bei Hunger, Müdigkeit, Frostbeulen, Hautschürfuugen


München und 'Konstanz

Menschen; außer dem Lande auch die Leute genauer kennen zu lernen und
sie über ihre Verhältnisse auszuforschen, das wäre von der größten Wichtig¬
keit namentlich für meine volkswirtschaftlichen Studien; und das würde weitere
und längere Reisen nach den verschiedensten, auch landschaftlich und historisch
uninteressanter Gegenden rechtfertigen. Aber damit ist es leider vorbei; wenn
schon die Unterhaltung in der Muttersprache Schwierigkeiten macht, so gehts
in einer fremden erst recht nicht. (Zwischen Muttersprache und Muttersprache
ist freilich ein Unterschied; das herausgeschmetterte eincirmirw eines Jtalieners
versteht auch ein halbtanber Deutscher noch besser als das gegurgelte „Drießch
Noppe" eines Schweizer Maidli oder Moitschi oder das Wildkilchli, mit
gutturalem l, des Appenzellers.)

Es war einer der glücklichsten Augenblicke meines Lebens, als ich an einem
regnerischen Augustmorgen — ich war um vier Uhr von Hospenthal aufge¬
brochen — an die Stelle der Gotthardstraße kam, wo sich die Aussicht uach
Süden öffnet. Die Wolkendecke schnitt genau mit der Wasserscheide ab; die
nördliche Hälfte des Himmelsgewölbes war grau, die südliche blau; bekanntlich
wird einem nicht gerade an jedem Morgen die Vorstellung vom sonnigen
Süden in so auffälliger Weise bestätigt. Mit Jauchzen begrüßte ich den
Tieino zur Rechten, der blendend weiß die schwärzliche Felswand herabstürzt,
und der Schlott, in dem sich die Windungen der Straße zur schwindelnden
Tiefe hinabsenken, erschien mir nicht bloß als die Pforte zum Paradiese,
sondern mit seinem blauen Hintergründe als das Paradies selbst. Wie thöricht
diese Vorstellung sei, machte mir bald darauf der Junge, der mir mein Nänzchen
trug, klar. Er sah gar nicht italienisch aus, hatte rote Haare und ein un¬
schönes Gesicht. (Der Junge, der mir in einer Arbeiterkantinc oberhalb Airolo
den Morgenimbiß brachte, hatte ein wahrhaft Raffaelisches Engelsgesicht; er
schlug vor Verwunderung die Hände überm Kopf zusammen, als er hörte, daß
ich einen Frank Tragelohn bis Faido geben wolle, aber, rief er bedauernd,
lo non xo8S0, iononposso! er Werdemir einen andern besorgen, und da kam
eben der rothaarige.) Das Benehmen freilich war ganz italienisch. Als ich nun
ein paar Redensarten über die herrliche Gegend vorbrachte, protestierte er aufs
lebhafteste; 0 rin orridils pÄöss, rief er; auöst' inve-mo ö <zg,cwtÄ ura vickanM,
eel lo (jedes Wort mit dramatischer Betonung einzeln herausstoßend und mit
Gestus begleitend) sono stecko <M! Drunten in Varese, von wo ans seine
Eltern der Arbeit am Bahnbau wegen heraufgezogen seien, da sei es schön
gewesen. Von da ab wurde mir nach und nach klar, einen wie großen Anteil
ein unserm Genuß landschaftlicher Schönheiten die Phantasie, allerlei Gedanken¬
verbindungen und äußere Umstände haben. Es ist gar nicht zu verwundern,
daß man die Schönheit der Berge erst von der Zeit ab zu entdecken ange¬
fangen hat, wo die Anlage von Straßen und Wirtshäusern das Reisen weniger
beschwerlich machte. Bei Hunger, Müdigkeit, Frostbeulen, Hautschürfuugen


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[0439] München und 'Konstanz Menschen; außer dem Lande auch die Leute genauer kennen zu lernen und sie über ihre Verhältnisse auszuforschen, das wäre von der größten Wichtig¬ keit namentlich für meine volkswirtschaftlichen Studien; und das würde weitere und längere Reisen nach den verschiedensten, auch landschaftlich und historisch uninteressanter Gegenden rechtfertigen. Aber damit ist es leider vorbei; wenn schon die Unterhaltung in der Muttersprache Schwierigkeiten macht, so gehts in einer fremden erst recht nicht. (Zwischen Muttersprache und Muttersprache ist freilich ein Unterschied; das herausgeschmetterte eincirmirw eines Jtalieners versteht auch ein halbtanber Deutscher noch besser als das gegurgelte „Drießch Noppe" eines Schweizer Maidli oder Moitschi oder das Wildkilchli, mit gutturalem l, des Appenzellers.) Es war einer der glücklichsten Augenblicke meines Lebens, als ich an einem regnerischen Augustmorgen — ich war um vier Uhr von Hospenthal aufge¬ brochen — an die Stelle der Gotthardstraße kam, wo sich die Aussicht uach Süden öffnet. Die Wolkendecke schnitt genau mit der Wasserscheide ab; die nördliche Hälfte des Himmelsgewölbes war grau, die südliche blau; bekanntlich wird einem nicht gerade an jedem Morgen die Vorstellung vom sonnigen Süden in so auffälliger Weise bestätigt. Mit Jauchzen begrüßte ich den Tieino zur Rechten, der blendend weiß die schwärzliche Felswand herabstürzt, und der Schlott, in dem sich die Windungen der Straße zur schwindelnden Tiefe hinabsenken, erschien mir nicht bloß als die Pforte zum Paradiese, sondern mit seinem blauen Hintergründe als das Paradies selbst. Wie thöricht diese Vorstellung sei, machte mir bald darauf der Junge, der mir mein Nänzchen trug, klar. Er sah gar nicht italienisch aus, hatte rote Haare und ein un¬ schönes Gesicht. (Der Junge, der mir in einer Arbeiterkantinc oberhalb Airolo den Morgenimbiß brachte, hatte ein wahrhaft Raffaelisches Engelsgesicht; er schlug vor Verwunderung die Hände überm Kopf zusammen, als er hörte, daß ich einen Frank Tragelohn bis Faido geben wolle, aber, rief er bedauernd, lo non xo8S0, iononposso! er Werdemir einen andern besorgen, und da kam eben der rothaarige.) Das Benehmen freilich war ganz italienisch. Als ich nun ein paar Redensarten über die herrliche Gegend vorbrachte, protestierte er aufs lebhafteste; 0 rin orridils pÄöss, rief er; auöst' inve-mo ö <zg,cwtÄ ura vickanM, eel lo (jedes Wort mit dramatischer Betonung einzeln herausstoßend und mit Gestus begleitend) sono stecko <M! Drunten in Varese, von wo ans seine Eltern der Arbeit am Bahnbau wegen heraufgezogen seien, da sei es schön gewesen. Von da ab wurde mir nach und nach klar, einen wie großen Anteil ein unserm Genuß landschaftlicher Schönheiten die Phantasie, allerlei Gedanken¬ verbindungen und äußere Umstände haben. Es ist gar nicht zu verwundern, daß man die Schönheit der Berge erst von der Zeit ab zu entdecken ange¬ fangen hat, wo die Anlage von Straßen und Wirtshäusern das Reisen weniger beschwerlich machte. Bei Hunger, Müdigkeit, Frostbeulen, Hautschürfuugen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/439>, abgerufen am 23.07.2024.