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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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München und Konstanz

Diese Fragen wiederholte er bis zum Schluß unsers Mahles. Nach einigen
Tagen schien er sich endlich darein gefunden zu haben, daß ich ihn verträte,
und er wechselte nun das Gesprächsthema. "Wo sind Sie diese" Morgen
gewesen, Herr Collega?" -- Im Gymnasium. -- "Im Gymnasium! Nicht
wahr, es sind dort recht liebe Knaben? Sie haben mich niemals geärgert.
(Nach einer Pause.) Und wenn sie mich auch einmal geärgert haben sollten,
so haben sie es doch nicht aus bösem Willen gethan. -- Wo sind Sie diesen
Morgen gewesen, Herr Collega?" -- Im Gymnasium. -- "Im Gymnasium!
Nicht wahr, es sind recht liebe Knaben u. s. f. bis zum Ende der Mahlzeit,
und so alle Tage. Da hatte ich den Schlüssel zu seiner Krankheit. Die Gym¬
nasiallehrer sagten mir nämlich, daß ihn die Jungen furchtbar geärgert hätten,
und daß er einigemal genötigt gewesen sei, die Hilfe des Direktors anzurufen.
Nun sind sechzehn bis zwanzig Religionsstunden die Woche -- so viel waren
dort an vier Schulen und in einem Waisenhause zu geben -- an sich eine
sehr bedeutende Anstrengung, denn der Religionsunterricht, das weiß ich aus
vielseitiger eigenster Erfahrung, ist der allerschwierigste. Eine deutsche Sprach¬
stunde, eine Geographie- oder Lateinstuudc ist ein Spiel dagegen; nur der
Rechenunterricht strengt -- auf ganz andre Weise -- annähernd in demselben
Grade an, der Geschichtsunterricht dann, wenn man, wie ich immer in der
Kirchengeschichtsstunde gethan habe, ganz frei vorträgt und hierauf aus dem
Kopfe diktirt. Kommen noch Schwierigkeiten der Disziplin dazu, so ists arg.
Für die Disziplin macht es einen bedeutenden Unterschied, welche amtliche
Stellung man einnimmt. Als Pfarrer oder Kaplan in einer römisch-katholischen
Gemeinde ist man bei den Volksschülcrn so angesehen, daß man auch bei
körperlichen Mängeln noch ganz leicht fertig wird. Dagegen als Religionslehrer
für eine Schülerminderheit an einer höhern Lehranstalt leidet man unter dem
Umstände, daß sich die Schüler sagen: dessen Zensur zieht nicht; bei dem
können wirs uns bequem machen. Nun ist es allerdings möglich, den Unter¬
richt so anziehend zu gestalten, daß gar keine Disziplinargewalt notwendig
ist;*) aber selbst wenn man das vermöchte, und in jeder Stunde vermöchte,
würde dieses Vermögen an unsern Lehranstalten nur schwer zur Geltung kommen.
Es würde vollständig wirken, wenn die Teilnahme in das Belieben der Schüler
gestellt wäre, und jede Unterrichtsstunde auf einer freiwilligen Verabredung
zwischen dem Lehrer und den Schülern beruhte. Aber da unsre Unterrichts-
nnstalten Zwangsanstalten sind und der Zwang stets einen lästigen Druck
ausübt, so liegt den Schülern der Wunsch, den Druck zu lockern, näher als
dus Interesse am Unterrichtsgegenstände, und erst bei den Schülern der Ober¬
tassen überwiegt dieses, und bei einem neuen Lehrer ist die Aufmerksamkeit



Man denke sich einuial die militärische Erziehung und den militärischen Umerricht ohne
jede Spur von Disziplinargewalt!
Grenzboten II 1897 !>I
München und Konstanz

Diese Fragen wiederholte er bis zum Schluß unsers Mahles. Nach einigen
Tagen schien er sich endlich darein gefunden zu haben, daß ich ihn verträte,
und er wechselte nun das Gesprächsthema. „Wo sind Sie diese» Morgen
gewesen, Herr Collega?" — Im Gymnasium. — „Im Gymnasium! Nicht
wahr, es sind dort recht liebe Knaben? Sie haben mich niemals geärgert.
(Nach einer Pause.) Und wenn sie mich auch einmal geärgert haben sollten,
so haben sie es doch nicht aus bösem Willen gethan. — Wo sind Sie diesen
Morgen gewesen, Herr Collega?" — Im Gymnasium. — „Im Gymnasium!
Nicht wahr, es sind recht liebe Knaben u. s. f. bis zum Ende der Mahlzeit,
und so alle Tage. Da hatte ich den Schlüssel zu seiner Krankheit. Die Gym¬
nasiallehrer sagten mir nämlich, daß ihn die Jungen furchtbar geärgert hätten,
und daß er einigemal genötigt gewesen sei, die Hilfe des Direktors anzurufen.
Nun sind sechzehn bis zwanzig Religionsstunden die Woche — so viel waren
dort an vier Schulen und in einem Waisenhause zu geben — an sich eine
sehr bedeutende Anstrengung, denn der Religionsunterricht, das weiß ich aus
vielseitiger eigenster Erfahrung, ist der allerschwierigste. Eine deutsche Sprach¬
stunde, eine Geographie- oder Lateinstuudc ist ein Spiel dagegen; nur der
Rechenunterricht strengt — auf ganz andre Weise — annähernd in demselben
Grade an, der Geschichtsunterricht dann, wenn man, wie ich immer in der
Kirchengeschichtsstunde gethan habe, ganz frei vorträgt und hierauf aus dem
Kopfe diktirt. Kommen noch Schwierigkeiten der Disziplin dazu, so ists arg.
Für die Disziplin macht es einen bedeutenden Unterschied, welche amtliche
Stellung man einnimmt. Als Pfarrer oder Kaplan in einer römisch-katholischen
Gemeinde ist man bei den Volksschülcrn so angesehen, daß man auch bei
körperlichen Mängeln noch ganz leicht fertig wird. Dagegen als Religionslehrer
für eine Schülerminderheit an einer höhern Lehranstalt leidet man unter dem
Umstände, daß sich die Schüler sagen: dessen Zensur zieht nicht; bei dem
können wirs uns bequem machen. Nun ist es allerdings möglich, den Unter¬
richt so anziehend zu gestalten, daß gar keine Disziplinargewalt notwendig
ist;*) aber selbst wenn man das vermöchte, und in jeder Stunde vermöchte,
würde dieses Vermögen an unsern Lehranstalten nur schwer zur Geltung kommen.
Es würde vollständig wirken, wenn die Teilnahme in das Belieben der Schüler
gestellt wäre, und jede Unterrichtsstunde auf einer freiwilligen Verabredung
zwischen dem Lehrer und den Schülern beruhte. Aber da unsre Unterrichts-
nnstalten Zwangsanstalten sind und der Zwang stets einen lästigen Druck
ausübt, so liegt den Schülern der Wunsch, den Druck zu lockern, näher als
dus Interesse am Unterrichtsgegenstände, und erst bei den Schülern der Ober¬
tassen überwiegt dieses, und bei einem neuen Lehrer ist die Aufmerksamkeit



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jede Spur von Disziplinargewalt!
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[0433] München und Konstanz Diese Fragen wiederholte er bis zum Schluß unsers Mahles. Nach einigen Tagen schien er sich endlich darein gefunden zu haben, daß ich ihn verträte, und er wechselte nun das Gesprächsthema. „Wo sind Sie diese» Morgen gewesen, Herr Collega?" — Im Gymnasium. — „Im Gymnasium! Nicht wahr, es sind dort recht liebe Knaben? Sie haben mich niemals geärgert. (Nach einer Pause.) Und wenn sie mich auch einmal geärgert haben sollten, so haben sie es doch nicht aus bösem Willen gethan. — Wo sind Sie diesen Morgen gewesen, Herr Collega?" — Im Gymnasium. — „Im Gymnasium! Nicht wahr, es sind recht liebe Knaben u. s. f. bis zum Ende der Mahlzeit, und so alle Tage. Da hatte ich den Schlüssel zu seiner Krankheit. Die Gym¬ nasiallehrer sagten mir nämlich, daß ihn die Jungen furchtbar geärgert hätten, und daß er einigemal genötigt gewesen sei, die Hilfe des Direktors anzurufen. Nun sind sechzehn bis zwanzig Religionsstunden die Woche — so viel waren dort an vier Schulen und in einem Waisenhause zu geben — an sich eine sehr bedeutende Anstrengung, denn der Religionsunterricht, das weiß ich aus vielseitiger eigenster Erfahrung, ist der allerschwierigste. Eine deutsche Sprach¬ stunde, eine Geographie- oder Lateinstuudc ist ein Spiel dagegen; nur der Rechenunterricht strengt — auf ganz andre Weise — annähernd in demselben Grade an, der Geschichtsunterricht dann, wenn man, wie ich immer in der Kirchengeschichtsstunde gethan habe, ganz frei vorträgt und hierauf aus dem Kopfe diktirt. Kommen noch Schwierigkeiten der Disziplin dazu, so ists arg. Für die Disziplin macht es einen bedeutenden Unterschied, welche amtliche Stellung man einnimmt. Als Pfarrer oder Kaplan in einer römisch-katholischen Gemeinde ist man bei den Volksschülcrn so angesehen, daß man auch bei körperlichen Mängeln noch ganz leicht fertig wird. Dagegen als Religionslehrer für eine Schülerminderheit an einer höhern Lehranstalt leidet man unter dem Umstände, daß sich die Schüler sagen: dessen Zensur zieht nicht; bei dem können wirs uns bequem machen. Nun ist es allerdings möglich, den Unter¬ richt so anziehend zu gestalten, daß gar keine Disziplinargewalt notwendig ist;*) aber selbst wenn man das vermöchte, und in jeder Stunde vermöchte, würde dieses Vermögen an unsern Lehranstalten nur schwer zur Geltung kommen. Es würde vollständig wirken, wenn die Teilnahme in das Belieben der Schüler gestellt wäre, und jede Unterrichtsstunde auf einer freiwilligen Verabredung zwischen dem Lehrer und den Schülern beruhte. Aber da unsre Unterrichts- nnstalten Zwangsanstalten sind und der Zwang stets einen lästigen Druck ausübt, so liegt den Schülern der Wunsch, den Druck zu lockern, näher als dus Interesse am Unterrichtsgegenstände, und erst bei den Schülern der Ober¬ tassen überwiegt dieses, und bei einem neuen Lehrer ist die Aufmerksamkeit Man denke sich einuial die militärische Erziehung und den militärischen Umerricht ohne jede Spur von Disziplinargewalt! Grenzboten II 1897 !>I

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/433>, abgerufen am 23.07.2024.