Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.Die Tierfabel Lebens mit Hilfe zauberhafter Kräfte die menschliche Hülle zeitweilig ablegen Früher hätte man sich wohl, nachdem man bis zu dieser Erkenntnis ge¬ In diesem Sinne ist die Fabel der Naturvölker ein Teil ihrer Mythologie, Die Tierfabel Lebens mit Hilfe zauberhafter Kräfte die menschliche Hülle zeitweilig ablegen Früher hätte man sich wohl, nachdem man bis zu dieser Erkenntnis ge¬ In diesem Sinne ist die Fabel der Naturvölker ein Teil ihrer Mythologie, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0397" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/225325"/> <fw type="header" place="top"> Die Tierfabel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1318" prev="#ID_1317"> Lebens mit Hilfe zauberhafter Kräfte die menschliche Hülle zeitweilig ablegen<lb/> und in Tiergestalt umherschweifen zu können. Und wie er selbst, so ver¬<lb/> schmähen auch Götter und Geister nicht die Metamorphose in Tiere.</p><lb/> <p xml:id="ID_1319"> Früher hätte man sich wohl, nachdem man bis zu dieser Erkenntnis ge¬<lb/> langt war, mit der billigen Erklärung beruhigt, daß die Tierfabel aus reli¬<lb/> giösen Vorstellungen erwachsen sei. Mit dem Worte „Religion" ist den pri¬<lb/> mitiven Anschauungen und Verhältnissen gegenüber viel Unheil gestiftet worden,<lb/> denn Religion, wie wir das Wort nun einmal herköimnlicherweise brauchen,<lb/> ist eine Kulturerrungenschaft, ein sehr zusammengesetzter, ans verschiednen<lb/> Quellen zu einer neuen Einheit zusammengeflossener Begriff. Suchen wir nach<lb/> ihm bei Naturvölkern, so finden wir wohl einzelne Züge des Ganzen, aber<lb/> niemals die Vereinigung aller, und der unfruchtbare Streit, ob es religions¬<lb/> lose Völker gebe oder nicht, ist nur eine Folge dieses verkehrten Verfahrens.<lb/> Vielleicht ist der Vorschlag, die drei Hauptquellen der Religion als Mythologie,<lb/> Kultus und Mystik auseinanderzuhnlteu, vorläufig der beste. Unter dem Namen<lb/> Mythologie wären dann alle Versuche zusammenzufassen, das Welträtsel im<lb/> ganzen und die vielen Rätsel des Daseins im einzelnen durch mehr oder<lb/> weniger phantastische und launenhafte Erklärungen zu lösen oder richtiger in<lb/> derselben Weise zu verhüllen, wie wir die geheimnisvolle Tiefe eines Theaters<lb/> durch einen buntbemalten Vorhang verstecken.</p><lb/> <p xml:id="ID_1320" next="#ID_1321"> In diesem Sinne ist die Fabel der Naturvölker ein Teil ihrer Mythologie,<lb/> denn als ein Versuch, rätselhafte Eigentümlichkeiten der Tiere zu deuten, tritt<lb/> sie uns in ihrer einfachsten Form entgegen. Diese Erklärungen sehen freilich<lb/> ganz anders aus als die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen der Gegen¬<lb/> wart, aber sie sind doch im Grunde nicht nur Anfänge religiöser Glaubens¬<lb/> formen, sondern auch die ersten Spuren der Wissenschaft; die beiden sonst oft<lb/> so feindlichen Brüder, Wissenschaft und Religion, sind eben in ihren Keimen nicht<lb/> zu trennen. Phantastische Deutungen, wie sie die Tierfabel giebt, haben auch<lb/> noch lange der wirklichen Forschung zu schaffen gemacht. Die chinesische so¬<lb/> genannte Wissenschaft giebt neben wenigen vernünftigen noch eine Unmasse Er¬<lb/> klärungen natürlicher Vorgänge, die es zwar nicht an Phantasie, aber doch<lb/> an Sinnlosigkeit mit den Fabeln der Naturvölker aufnehmen können, und die<lb/> Wissenschaft des europäischen Mittelalters bleibt in diesem Punkte nicht zurück.<lb/> Von diesem Standpunkte aus kaun man die Tierfabeln auch als die ersten<lb/> kindlichen Anfänge der Naturforschung bezeichnen. Der Drang, die Ursachen<lb/> der Dinge zu erkunden, ist die vorzüglichste Eigenschaft des Menschen, die ihn<lb/> vor allen andern Geschöpfen des Erdballs auszeichnet, und die der höchsten Ent¬<lb/> wicklung fähig ist. Auch der primitivste Mensch fühlt, daß in diesem Suchen<lb/> nach den Ursachen seine Stärke und die Zukunft seiner Rasse liegt. Wir sind<lb/> ja an sich nicht als besonders kraftvolle oder mit furchtbaren natürlichen Waffen<lb/> versehene Wesen auf diese Erde gestellt, im Gegenteil, wir könnten wenig ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0397]
Die Tierfabel
Lebens mit Hilfe zauberhafter Kräfte die menschliche Hülle zeitweilig ablegen
und in Tiergestalt umherschweifen zu können. Und wie er selbst, so ver¬
schmähen auch Götter und Geister nicht die Metamorphose in Tiere.
Früher hätte man sich wohl, nachdem man bis zu dieser Erkenntnis ge¬
langt war, mit der billigen Erklärung beruhigt, daß die Tierfabel aus reli¬
giösen Vorstellungen erwachsen sei. Mit dem Worte „Religion" ist den pri¬
mitiven Anschauungen und Verhältnissen gegenüber viel Unheil gestiftet worden,
denn Religion, wie wir das Wort nun einmal herköimnlicherweise brauchen,
ist eine Kulturerrungenschaft, ein sehr zusammengesetzter, ans verschiednen
Quellen zu einer neuen Einheit zusammengeflossener Begriff. Suchen wir nach
ihm bei Naturvölkern, so finden wir wohl einzelne Züge des Ganzen, aber
niemals die Vereinigung aller, und der unfruchtbare Streit, ob es religions¬
lose Völker gebe oder nicht, ist nur eine Folge dieses verkehrten Verfahrens.
Vielleicht ist der Vorschlag, die drei Hauptquellen der Religion als Mythologie,
Kultus und Mystik auseinanderzuhnlteu, vorläufig der beste. Unter dem Namen
Mythologie wären dann alle Versuche zusammenzufassen, das Welträtsel im
ganzen und die vielen Rätsel des Daseins im einzelnen durch mehr oder
weniger phantastische und launenhafte Erklärungen zu lösen oder richtiger in
derselben Weise zu verhüllen, wie wir die geheimnisvolle Tiefe eines Theaters
durch einen buntbemalten Vorhang verstecken.
In diesem Sinne ist die Fabel der Naturvölker ein Teil ihrer Mythologie,
denn als ein Versuch, rätselhafte Eigentümlichkeiten der Tiere zu deuten, tritt
sie uns in ihrer einfachsten Form entgegen. Diese Erklärungen sehen freilich
ganz anders aus als die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen der Gegen¬
wart, aber sie sind doch im Grunde nicht nur Anfänge religiöser Glaubens¬
formen, sondern auch die ersten Spuren der Wissenschaft; die beiden sonst oft
so feindlichen Brüder, Wissenschaft und Religion, sind eben in ihren Keimen nicht
zu trennen. Phantastische Deutungen, wie sie die Tierfabel giebt, haben auch
noch lange der wirklichen Forschung zu schaffen gemacht. Die chinesische so¬
genannte Wissenschaft giebt neben wenigen vernünftigen noch eine Unmasse Er¬
klärungen natürlicher Vorgänge, die es zwar nicht an Phantasie, aber doch
an Sinnlosigkeit mit den Fabeln der Naturvölker aufnehmen können, und die
Wissenschaft des europäischen Mittelalters bleibt in diesem Punkte nicht zurück.
Von diesem Standpunkte aus kaun man die Tierfabeln auch als die ersten
kindlichen Anfänge der Naturforschung bezeichnen. Der Drang, die Ursachen
der Dinge zu erkunden, ist die vorzüglichste Eigenschaft des Menschen, die ihn
vor allen andern Geschöpfen des Erdballs auszeichnet, und die der höchsten Ent¬
wicklung fähig ist. Auch der primitivste Mensch fühlt, daß in diesem Suchen
nach den Ursachen seine Stärke und die Zukunft seiner Rasse liegt. Wir sind
ja an sich nicht als besonders kraftvolle oder mit furchtbaren natürlichen Waffen
versehene Wesen auf diese Erde gestellt, im Gegenteil, wir könnten wenig ge-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |