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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Tiergeschichten, teilweise in ganz auffallend entwickelter Form und mit jenen
stehenden Typen, wie sie die äsopische Fabel und noch mehr das germanische
Tierepos aufweist, und aus denen Lessing die Verwendung der Tiere in mora¬
lischen Erzählungen herleitet. Ganze Fabelkreise haben sich in den verschiedensten
Teilen der Erde entwickelt, wobei meist einige bestimmte Tiere die Hauptrollen
übernehmen, gerade wie im deutschen Epos der Fuchs, der Wolf und der Löwe.
So hat Bleek in seinem bekannten Werke "Reineke Fuchs in Südafrika" eine
große Sammlung südafrikanischer Fabeln veröffentlicht, die an das germanische
Tierepos erinnern, in Japan findet sich die Fuchsfabel ebenfalls, wenn auch
in andrer Weise entwickelt, in Indien tritt der Schakal in den Vordergrund,
ebenso im Sudan und in Senegambien, im indischen Archipel teils der Elefant,
teils der Affe, bei manchen Jndianerstämmen der Coyote usw. Manche Tier¬
geschichte hat ihre schlagenden Parallelen in Europa, Asien und Afrika oder
selbst in Amerika, und so stehen wir denn, wie so oft bei völkerkundlichen
Forschungen, wieder einmal vor der schwierigen Frage, ob diese Geschichten
von Volk zu Volk gewandert oder ob sie an verschiednen Punkten der Erde
selbständig entstanden sind. Daß die Tierfabel besonders leicht und rasch von
Mund zu Mund geht, ist freilich erwiesen; bei Völkern, denen die Schrift fehlt,
vertreten Erzählungen dieser Art die geschriebne Litteratur, man bewahrt sie
sorgfältig im Gedächtnis und vermehrt den vorhandnen Schatz gern durch
gelegentliche Entlehnungen. Der Händler oder der Flüchtling, der in fremdem
Lande umherschweift, empfiehlt sich seinen Wirten durch nichts mehr als durch
neue Fabeln und Geschichten, und wer ein gutes Gedächtnis für dergleichen
hat und freigebig von seinem Reichtum mitteilt, darf überall auf freundlichere
Aufnahme rechnen als der stumme Gast, der den Mund nur aufthut, um
M essen.

Aber fast noch mehr als diese Ähnlichkeiten des Inhalts fällt ein gemein¬
samer Zug dieser einfachsten, überall vorhandnen Tierfabeln auf, die durch
litterarische Strömungen noch nicht verändert und verfälscht sind, ein Zug,
der im grellsten Widerspruch zur Fabeltheorie Lessings steht: die primitiven
Fabeln haben -- mit sehr wenigen Ausnahmen -- keine Moral. Und damit
bricht denn auch die Anschauung rettungslos zusammen, daß die Fabel als
eine Tochter der Sittenlehre, der moralische Inhalt als ihre Ursache und gleich¬
zeitig ihr Zweck zu betrachten sei.

Ganz unerwartet ist dieses Ergebnis freilich nicht. Schon die deutsche
Tierfabel wollte sich gar nicht recht dem Schema fügen; die Erzählung von
den Thaten des Reineke Fuchs, diese heitere "Weltbibel," wie sie Goethe ge¬
nannt hat, scheint eher das Lob der Schlauheit und Dreistigkeit zu singen, als
den Zweck zu haben, in sinnbildlicher Form Moral zu predigen, ja ein Sitten¬
lehrer jener unglücklichen beschränkten Art, der für Witz und Heiterkeit jeder
Sinn fehlt, müßte entschieden vor dem Reineke Fuchs als einer unwürdigen


Die Tierfabel

Tiergeschichten, teilweise in ganz auffallend entwickelter Form und mit jenen
stehenden Typen, wie sie die äsopische Fabel und noch mehr das germanische
Tierepos aufweist, und aus denen Lessing die Verwendung der Tiere in mora¬
lischen Erzählungen herleitet. Ganze Fabelkreise haben sich in den verschiedensten
Teilen der Erde entwickelt, wobei meist einige bestimmte Tiere die Hauptrollen
übernehmen, gerade wie im deutschen Epos der Fuchs, der Wolf und der Löwe.
So hat Bleek in seinem bekannten Werke „Reineke Fuchs in Südafrika" eine
große Sammlung südafrikanischer Fabeln veröffentlicht, die an das germanische
Tierepos erinnern, in Japan findet sich die Fuchsfabel ebenfalls, wenn auch
in andrer Weise entwickelt, in Indien tritt der Schakal in den Vordergrund,
ebenso im Sudan und in Senegambien, im indischen Archipel teils der Elefant,
teils der Affe, bei manchen Jndianerstämmen der Coyote usw. Manche Tier¬
geschichte hat ihre schlagenden Parallelen in Europa, Asien und Afrika oder
selbst in Amerika, und so stehen wir denn, wie so oft bei völkerkundlichen
Forschungen, wieder einmal vor der schwierigen Frage, ob diese Geschichten
von Volk zu Volk gewandert oder ob sie an verschiednen Punkten der Erde
selbständig entstanden sind. Daß die Tierfabel besonders leicht und rasch von
Mund zu Mund geht, ist freilich erwiesen; bei Völkern, denen die Schrift fehlt,
vertreten Erzählungen dieser Art die geschriebne Litteratur, man bewahrt sie
sorgfältig im Gedächtnis und vermehrt den vorhandnen Schatz gern durch
gelegentliche Entlehnungen. Der Händler oder der Flüchtling, der in fremdem
Lande umherschweift, empfiehlt sich seinen Wirten durch nichts mehr als durch
neue Fabeln und Geschichten, und wer ein gutes Gedächtnis für dergleichen
hat und freigebig von seinem Reichtum mitteilt, darf überall auf freundlichere
Aufnahme rechnen als der stumme Gast, der den Mund nur aufthut, um
M essen.

Aber fast noch mehr als diese Ähnlichkeiten des Inhalts fällt ein gemein¬
samer Zug dieser einfachsten, überall vorhandnen Tierfabeln auf, die durch
litterarische Strömungen noch nicht verändert und verfälscht sind, ein Zug,
der im grellsten Widerspruch zur Fabeltheorie Lessings steht: die primitiven
Fabeln haben — mit sehr wenigen Ausnahmen — keine Moral. Und damit
bricht denn auch die Anschauung rettungslos zusammen, daß die Fabel als
eine Tochter der Sittenlehre, der moralische Inhalt als ihre Ursache und gleich¬
zeitig ihr Zweck zu betrachten sei.

Ganz unerwartet ist dieses Ergebnis freilich nicht. Schon die deutsche
Tierfabel wollte sich gar nicht recht dem Schema fügen; die Erzählung von
den Thaten des Reineke Fuchs, diese heitere „Weltbibel," wie sie Goethe ge¬
nannt hat, scheint eher das Lob der Schlauheit und Dreistigkeit zu singen, als
den Zweck zu haben, in sinnbildlicher Form Moral zu predigen, ja ein Sitten¬
lehrer jener unglücklichen beschränkten Art, der für Witz und Heiterkeit jeder
Sinn fehlt, müßte entschieden vor dem Reineke Fuchs als einer unwürdigen


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[0395] Die Tierfabel Tiergeschichten, teilweise in ganz auffallend entwickelter Form und mit jenen stehenden Typen, wie sie die äsopische Fabel und noch mehr das germanische Tierepos aufweist, und aus denen Lessing die Verwendung der Tiere in mora¬ lischen Erzählungen herleitet. Ganze Fabelkreise haben sich in den verschiedensten Teilen der Erde entwickelt, wobei meist einige bestimmte Tiere die Hauptrollen übernehmen, gerade wie im deutschen Epos der Fuchs, der Wolf und der Löwe. So hat Bleek in seinem bekannten Werke „Reineke Fuchs in Südafrika" eine große Sammlung südafrikanischer Fabeln veröffentlicht, die an das germanische Tierepos erinnern, in Japan findet sich die Fuchsfabel ebenfalls, wenn auch in andrer Weise entwickelt, in Indien tritt der Schakal in den Vordergrund, ebenso im Sudan und in Senegambien, im indischen Archipel teils der Elefant, teils der Affe, bei manchen Jndianerstämmen der Coyote usw. Manche Tier¬ geschichte hat ihre schlagenden Parallelen in Europa, Asien und Afrika oder selbst in Amerika, und so stehen wir denn, wie so oft bei völkerkundlichen Forschungen, wieder einmal vor der schwierigen Frage, ob diese Geschichten von Volk zu Volk gewandert oder ob sie an verschiednen Punkten der Erde selbständig entstanden sind. Daß die Tierfabel besonders leicht und rasch von Mund zu Mund geht, ist freilich erwiesen; bei Völkern, denen die Schrift fehlt, vertreten Erzählungen dieser Art die geschriebne Litteratur, man bewahrt sie sorgfältig im Gedächtnis und vermehrt den vorhandnen Schatz gern durch gelegentliche Entlehnungen. Der Händler oder der Flüchtling, der in fremdem Lande umherschweift, empfiehlt sich seinen Wirten durch nichts mehr als durch neue Fabeln und Geschichten, und wer ein gutes Gedächtnis für dergleichen hat und freigebig von seinem Reichtum mitteilt, darf überall auf freundlichere Aufnahme rechnen als der stumme Gast, der den Mund nur aufthut, um M essen. Aber fast noch mehr als diese Ähnlichkeiten des Inhalts fällt ein gemein¬ samer Zug dieser einfachsten, überall vorhandnen Tierfabeln auf, die durch litterarische Strömungen noch nicht verändert und verfälscht sind, ein Zug, der im grellsten Widerspruch zur Fabeltheorie Lessings steht: die primitiven Fabeln haben — mit sehr wenigen Ausnahmen — keine Moral. Und damit bricht denn auch die Anschauung rettungslos zusammen, daß die Fabel als eine Tochter der Sittenlehre, der moralische Inhalt als ihre Ursache und gleich¬ zeitig ihr Zweck zu betrachten sei. Ganz unerwartet ist dieses Ergebnis freilich nicht. Schon die deutsche Tierfabel wollte sich gar nicht recht dem Schema fügen; die Erzählung von den Thaten des Reineke Fuchs, diese heitere „Weltbibel," wie sie Goethe ge¬ nannt hat, scheint eher das Lob der Schlauheit und Dreistigkeit zu singen, als den Zweck zu haben, in sinnbildlicher Form Moral zu predigen, ja ein Sitten¬ lehrer jener unglücklichen beschränkten Art, der für Witz und Heiterkeit jeder Sinn fehlt, müßte entschieden vor dem Reineke Fuchs als einer unwürdigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/395>, abgerufen am 23.07.2024.