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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Tierfabel

Form ist. "Die wahre Ursache, sagt Lessing wörtlich, warum der Fabulist
die Tiere oft zu seiner Absicht bequemer findet als die Menschen, setze ich in
die allgemein bekannte Bestandtheil der Charaktere. Gesetzt auch, es wäre
noch so leicht, in der Geschichte ein Exempel zu finden, in dem sich diese oder
jene moralische Wahrheit anschauend erkennen ließe, wird sie sich deswegen ohne
Ausnahme von jedem darin erkennen lassen? Auch von dem, der mit den
Charakteren der dabei interessirten Personen nicht vertraut ist? Unmöglich! . . .
Man hört: Britanniens und Nero, Wie viele wissen, was sie hören? Wer
war dieser? Wer jeuer? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einander?
Aber man hört: Der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er hört,
und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält." Als weitere Ursache,
warum der Fabeldichter die Tiere verwendet, führt dann Lessing noch an,
daß die Schicksale der Tiere weniger unsre leidenschaftliche Teilnahme erregen,
und daß sie deshalb geeigneter sind, unserm Verstand einen moralischen Satz
zu verdeutlichen. Im übrigen freilich hält er die Tiere keineswegs für un¬
entbehrliche Bestandteile der Fabel, von seinem Standpunkte aus mit Recht.
"Wenn wir, sagt er, einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern
Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und eine
Geschichte daraus dichten, in der man den allgemeinen Satz anschauend erkennt,
so heißt diese Erdichtung eine Fabel." Indem er dann noch die eben an¬
geführten Gründe für die Bevorzugung der Tiere hinzufügt, glaubt er nicht
nur erwiesen zu haben, wie die Fabel sein soll, sondern auch gleich ihrer ge¬
schichtlichen Entwicklung gerecht geworden zu sein -- ein Irrtum des Zeit¬
alters, dem sich auch dieser geniale Geist nicht zu entziehen vermochte.

Für Lessing war vom Standpunkte seiner Zeit die Frage nach dem Wesen
der Fabel durch seine Theorie in der That vollkommen erledigt; für den gegen¬
wärtigen Stand der Wissenschaft ist damit nur das Ergebnis einer langen
Entwicklung genau bezeichnet, aber gerade das, was für uns jetzt das an¬
ziehendste und lehrreichste ist, die Entwicklung selbst, völlig vernachlässigt. Es
giebt kaum ein besseres Beispiel als dies, um den Unterschied zu zeigen zwischen
der ältern philologisch-ästhetischen, im Grunde ganz subjektiven Betrachtungs-
weise litterarischer Dinge, und der neuern, die entscheidend von der natur¬
wissenschaftlichen, rein objektiven Untersnchungsart beeinflußt ist. Wir ant¬
worten nicht nur anders ans die Fragen, wir fragen schon anders, wenn wir
über Probleme der geistigen Kultur ins Klare kommen möchten. Dem Menschen
des vorigen Jahrhunderts, der vor dem Lichte der Aufklärung endlich die
Nacht der "mittelalterlichen Barbarei" weichen sah, lag vor allem daran, eine
Norm und ein Ziel seiner Bildung zu finden, zu lernen, wie er sich das
Wesen reinen und edeln Menschentums dauernd zu eigen machen könnte. Die
Kultur der Alten schwebte ihm als ein vielleicht erreichbares, aber schwerlich
zu übertreffendes Ideal vor Augen, als ein Maßstab aller Dinge, die mit der


Die Tierfabel

Form ist. „Die wahre Ursache, sagt Lessing wörtlich, warum der Fabulist
die Tiere oft zu seiner Absicht bequemer findet als die Menschen, setze ich in
die allgemein bekannte Bestandtheil der Charaktere. Gesetzt auch, es wäre
noch so leicht, in der Geschichte ein Exempel zu finden, in dem sich diese oder
jene moralische Wahrheit anschauend erkennen ließe, wird sie sich deswegen ohne
Ausnahme von jedem darin erkennen lassen? Auch von dem, der mit den
Charakteren der dabei interessirten Personen nicht vertraut ist? Unmöglich! . . .
Man hört: Britanniens und Nero, Wie viele wissen, was sie hören? Wer
war dieser? Wer jeuer? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einander?
Aber man hört: Der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er hört,
und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält." Als weitere Ursache,
warum der Fabeldichter die Tiere verwendet, führt dann Lessing noch an,
daß die Schicksale der Tiere weniger unsre leidenschaftliche Teilnahme erregen,
und daß sie deshalb geeigneter sind, unserm Verstand einen moralischen Satz
zu verdeutlichen. Im übrigen freilich hält er die Tiere keineswegs für un¬
entbehrliche Bestandteile der Fabel, von seinem Standpunkte aus mit Recht.
„Wenn wir, sagt er, einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern
Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und eine
Geschichte daraus dichten, in der man den allgemeinen Satz anschauend erkennt,
so heißt diese Erdichtung eine Fabel." Indem er dann noch die eben an¬
geführten Gründe für die Bevorzugung der Tiere hinzufügt, glaubt er nicht
nur erwiesen zu haben, wie die Fabel sein soll, sondern auch gleich ihrer ge¬
schichtlichen Entwicklung gerecht geworden zu sein — ein Irrtum des Zeit¬
alters, dem sich auch dieser geniale Geist nicht zu entziehen vermochte.

Für Lessing war vom Standpunkte seiner Zeit die Frage nach dem Wesen
der Fabel durch seine Theorie in der That vollkommen erledigt; für den gegen¬
wärtigen Stand der Wissenschaft ist damit nur das Ergebnis einer langen
Entwicklung genau bezeichnet, aber gerade das, was für uns jetzt das an¬
ziehendste und lehrreichste ist, die Entwicklung selbst, völlig vernachlässigt. Es
giebt kaum ein besseres Beispiel als dies, um den Unterschied zu zeigen zwischen
der ältern philologisch-ästhetischen, im Grunde ganz subjektiven Betrachtungs-
weise litterarischer Dinge, und der neuern, die entscheidend von der natur¬
wissenschaftlichen, rein objektiven Untersnchungsart beeinflußt ist. Wir ant¬
worten nicht nur anders ans die Fragen, wir fragen schon anders, wenn wir
über Probleme der geistigen Kultur ins Klare kommen möchten. Dem Menschen
des vorigen Jahrhunderts, der vor dem Lichte der Aufklärung endlich die
Nacht der „mittelalterlichen Barbarei" weichen sah, lag vor allem daran, eine
Norm und ein Ziel seiner Bildung zu finden, zu lernen, wie er sich das
Wesen reinen und edeln Menschentums dauernd zu eigen machen könnte. Die
Kultur der Alten schwebte ihm als ein vielleicht erreichbares, aber schwerlich
zu übertreffendes Ideal vor Augen, als ein Maßstab aller Dinge, die mit der


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[0390] Die Tierfabel Form ist. „Die wahre Ursache, sagt Lessing wörtlich, warum der Fabulist die Tiere oft zu seiner Absicht bequemer findet als die Menschen, setze ich in die allgemein bekannte Bestandtheil der Charaktere. Gesetzt auch, es wäre noch so leicht, in der Geschichte ein Exempel zu finden, in dem sich diese oder jene moralische Wahrheit anschauend erkennen ließe, wird sie sich deswegen ohne Ausnahme von jedem darin erkennen lassen? Auch von dem, der mit den Charakteren der dabei interessirten Personen nicht vertraut ist? Unmöglich! . . . Man hört: Britanniens und Nero, Wie viele wissen, was sie hören? Wer war dieser? Wer jeuer? In welchem Verhältnisse stehen sie gegen einander? Aber man hört: Der Wolf und das Lamm; sogleich weiß jeder, was er hört, und weiß, wie sich das eine zu dem andern verhält." Als weitere Ursache, warum der Fabeldichter die Tiere verwendet, führt dann Lessing noch an, daß die Schicksale der Tiere weniger unsre leidenschaftliche Teilnahme erregen, und daß sie deshalb geeigneter sind, unserm Verstand einen moralischen Satz zu verdeutlichen. Im übrigen freilich hält er die Tiere keineswegs für un¬ entbehrliche Bestandteile der Fabel, von seinem Standpunkte aus mit Recht. „Wenn wir, sagt er, einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besondern Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen und eine Geschichte daraus dichten, in der man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel." Indem er dann noch die eben an¬ geführten Gründe für die Bevorzugung der Tiere hinzufügt, glaubt er nicht nur erwiesen zu haben, wie die Fabel sein soll, sondern auch gleich ihrer ge¬ schichtlichen Entwicklung gerecht geworden zu sein — ein Irrtum des Zeit¬ alters, dem sich auch dieser geniale Geist nicht zu entziehen vermochte. Für Lessing war vom Standpunkte seiner Zeit die Frage nach dem Wesen der Fabel durch seine Theorie in der That vollkommen erledigt; für den gegen¬ wärtigen Stand der Wissenschaft ist damit nur das Ergebnis einer langen Entwicklung genau bezeichnet, aber gerade das, was für uns jetzt das an¬ ziehendste und lehrreichste ist, die Entwicklung selbst, völlig vernachlässigt. Es giebt kaum ein besseres Beispiel als dies, um den Unterschied zu zeigen zwischen der ältern philologisch-ästhetischen, im Grunde ganz subjektiven Betrachtungs- weise litterarischer Dinge, und der neuern, die entscheidend von der natur¬ wissenschaftlichen, rein objektiven Untersnchungsart beeinflußt ist. Wir ant¬ worten nicht nur anders ans die Fragen, wir fragen schon anders, wenn wir über Probleme der geistigen Kultur ins Klare kommen möchten. Dem Menschen des vorigen Jahrhunderts, der vor dem Lichte der Aufklärung endlich die Nacht der „mittelalterlichen Barbarei" weichen sah, lag vor allem daran, eine Norm und ein Ziel seiner Bildung zu finden, zu lernen, wie er sich das Wesen reinen und edeln Menschentums dauernd zu eigen machen könnte. Die Kultur der Alten schwebte ihm als ein vielleicht erreichbares, aber schwerlich zu übertreffendes Ideal vor Augen, als ein Maßstab aller Dinge, die mit der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/390>, abgerufen am 23.07.2024.