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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Die Memoiren von Paul Barras

verzichtet und folglich um die Republik noch etwas mehr Verdienst hat als
sie. Dieser Pharisäismus ist ein ihm anhaftender Zug, den wir uns merken
müssen, weil er für die Beurteilung seiner Aussagen in Betracht kommt. Jeder
will vielleicht, wenn er von sich spricht oder schreibt, möglichst gut erscheinen,
aber das ist noch etwas besondres. Der ehemalige Vicomte, nunmehr General
Paul Barras -- oder, wie er sich bis an sein Ende gern nennen ließ,
der Vürgergeneral -- war also seit 1799 Privatmann. Er beschloß bald,
in irgend einer Form sein Andenken festzulegen, und fing 1819 an, seine
Memoiren zu schreiben. Zehn Jahre darauf starb er, und bald darnach, im
Jahre 1830, war alles fertig, abgeschlossen durch einen Freund, der ihm schon
bei der Redaktion geholfen hatte.

Dieser, Nvusselin de Samt Albin, ebenfalls ein Anhänger der Revolution
aus einem vornehmen Geschlechte und mit Barras entfernt verwandt, war
während des Direktoriums Sekretär des Kriegsministers Bernadotte gewesen
und wurde, wie Barras, ein Gegner des Kaisers Napoleon. Er mußte sich
zunächst mit der Witwe und zwei andern Erben des verstorbnen Freundes
auseinandersetzen, und nachdem das endlich geschehen war (1834), hielt ihn
das Bedenken seines Rechtsbeistandes zurück, das "Nest von Strafprozessen"
der Öffentlichkeit zu übergeben. Er schloß das Manuskript, das gleich nach
Barras Tode nur durch List vor den Nachstellungen der Regierung geborgen
werden konnte, in seinen Schreibtisch, und da lag es bis an seinen Tod (1847).
Sein Sohn, ein angesehener Politiker, Beamter und sogar Schriftsteller von
Geschmack, konnte sich ebenso wenig entschließen, das Werk herauszugeben; er
fürchtete bei der schlechten Beurteilung des ersten Kaisers litterarische Repressalien
von feiten der Bonapartisten, die dem Andenken seines Vaters und Barras
schaden könnten. Nur ein kleines Stück ließ er 1873 in einer Zeitschrift
drucken. Nach seinem Tode (1877) kamen die Memoiren durch Erbschaft in
die Hände eines glühenden Verehrers von Napoleon, der sich nun die
Frage vorlegte, was er mit dem Pamphlet, denn etwas andres war es
in seinen Angen nicht, machen sollte. Es zu vernichten, wie mau ein
giftiges Tier zertritt, meinte er als Historiker nicht das Recht zu haben,
denn jede Kundgebung muß gehört werden, weil die Wissenschaft nichts
zu verbergen hat. Aber er wollte das Gift wenigstens erkennbar machen,
und so hat er zur Rechtfertigung seines Helden Napoleon Einleitungen und
Anmerkungen hinzugefügt, die den geschichtlichen Wert der Memoiren bedeutend
erhöhen. Wir sehen die Revolution in zweierlei Beleuchtung und ebenso das
Kaisertum, das aus ihr hervorging. Auf der einen Seite steht Barras, und
mit ihm stimmt der ältere Herr von Samt Albin wesentlich überein, auf der
andern der Herausgeber, George Duruy, der Sohn des bekannten Historikers
und Unterrichtsministers unter Napoleon III. Das Werk ist in vier Bänden,
mit Karten und Bildnissen ausgestattet, in autorisirter Übersetzung in der


Die Memoiren von Paul Barras

verzichtet und folglich um die Republik noch etwas mehr Verdienst hat als
sie. Dieser Pharisäismus ist ein ihm anhaftender Zug, den wir uns merken
müssen, weil er für die Beurteilung seiner Aussagen in Betracht kommt. Jeder
will vielleicht, wenn er von sich spricht oder schreibt, möglichst gut erscheinen,
aber das ist noch etwas besondres. Der ehemalige Vicomte, nunmehr General
Paul Barras — oder, wie er sich bis an sein Ende gern nennen ließ,
der Vürgergeneral — war also seit 1799 Privatmann. Er beschloß bald,
in irgend einer Form sein Andenken festzulegen, und fing 1819 an, seine
Memoiren zu schreiben. Zehn Jahre darauf starb er, und bald darnach, im
Jahre 1830, war alles fertig, abgeschlossen durch einen Freund, der ihm schon
bei der Redaktion geholfen hatte.

Dieser, Nvusselin de Samt Albin, ebenfalls ein Anhänger der Revolution
aus einem vornehmen Geschlechte und mit Barras entfernt verwandt, war
während des Direktoriums Sekretär des Kriegsministers Bernadotte gewesen
und wurde, wie Barras, ein Gegner des Kaisers Napoleon. Er mußte sich
zunächst mit der Witwe und zwei andern Erben des verstorbnen Freundes
auseinandersetzen, und nachdem das endlich geschehen war (1834), hielt ihn
das Bedenken seines Rechtsbeistandes zurück, das „Nest von Strafprozessen"
der Öffentlichkeit zu übergeben. Er schloß das Manuskript, das gleich nach
Barras Tode nur durch List vor den Nachstellungen der Regierung geborgen
werden konnte, in seinen Schreibtisch, und da lag es bis an seinen Tod (1847).
Sein Sohn, ein angesehener Politiker, Beamter und sogar Schriftsteller von
Geschmack, konnte sich ebenso wenig entschließen, das Werk herauszugeben; er
fürchtete bei der schlechten Beurteilung des ersten Kaisers litterarische Repressalien
von feiten der Bonapartisten, die dem Andenken seines Vaters und Barras
schaden könnten. Nur ein kleines Stück ließ er 1873 in einer Zeitschrift
drucken. Nach seinem Tode (1877) kamen die Memoiren durch Erbschaft in
die Hände eines glühenden Verehrers von Napoleon, der sich nun die
Frage vorlegte, was er mit dem Pamphlet, denn etwas andres war es
in seinen Angen nicht, machen sollte. Es zu vernichten, wie mau ein
giftiges Tier zertritt, meinte er als Historiker nicht das Recht zu haben,
denn jede Kundgebung muß gehört werden, weil die Wissenschaft nichts
zu verbergen hat. Aber er wollte das Gift wenigstens erkennbar machen,
und so hat er zur Rechtfertigung seines Helden Napoleon Einleitungen und
Anmerkungen hinzugefügt, die den geschichtlichen Wert der Memoiren bedeutend
erhöhen. Wir sehen die Revolution in zweierlei Beleuchtung und ebenso das
Kaisertum, das aus ihr hervorging. Auf der einen Seite steht Barras, und
mit ihm stimmt der ältere Herr von Samt Albin wesentlich überein, auf der
andern der Herausgeber, George Duruy, der Sohn des bekannten Historikers
und Unterrichtsministers unter Napoleon III. Das Werk ist in vier Bänden,
mit Karten und Bildnissen ausgestattet, in autorisirter Übersetzung in der


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[0032] Die Memoiren von Paul Barras verzichtet und folglich um die Republik noch etwas mehr Verdienst hat als sie. Dieser Pharisäismus ist ein ihm anhaftender Zug, den wir uns merken müssen, weil er für die Beurteilung seiner Aussagen in Betracht kommt. Jeder will vielleicht, wenn er von sich spricht oder schreibt, möglichst gut erscheinen, aber das ist noch etwas besondres. Der ehemalige Vicomte, nunmehr General Paul Barras — oder, wie er sich bis an sein Ende gern nennen ließ, der Vürgergeneral — war also seit 1799 Privatmann. Er beschloß bald, in irgend einer Form sein Andenken festzulegen, und fing 1819 an, seine Memoiren zu schreiben. Zehn Jahre darauf starb er, und bald darnach, im Jahre 1830, war alles fertig, abgeschlossen durch einen Freund, der ihm schon bei der Redaktion geholfen hatte. Dieser, Nvusselin de Samt Albin, ebenfalls ein Anhänger der Revolution aus einem vornehmen Geschlechte und mit Barras entfernt verwandt, war während des Direktoriums Sekretär des Kriegsministers Bernadotte gewesen und wurde, wie Barras, ein Gegner des Kaisers Napoleon. Er mußte sich zunächst mit der Witwe und zwei andern Erben des verstorbnen Freundes auseinandersetzen, und nachdem das endlich geschehen war (1834), hielt ihn das Bedenken seines Rechtsbeistandes zurück, das „Nest von Strafprozessen" der Öffentlichkeit zu übergeben. Er schloß das Manuskript, das gleich nach Barras Tode nur durch List vor den Nachstellungen der Regierung geborgen werden konnte, in seinen Schreibtisch, und da lag es bis an seinen Tod (1847). Sein Sohn, ein angesehener Politiker, Beamter und sogar Schriftsteller von Geschmack, konnte sich ebenso wenig entschließen, das Werk herauszugeben; er fürchtete bei der schlechten Beurteilung des ersten Kaisers litterarische Repressalien von feiten der Bonapartisten, die dem Andenken seines Vaters und Barras schaden könnten. Nur ein kleines Stück ließ er 1873 in einer Zeitschrift drucken. Nach seinem Tode (1877) kamen die Memoiren durch Erbschaft in die Hände eines glühenden Verehrers von Napoleon, der sich nun die Frage vorlegte, was er mit dem Pamphlet, denn etwas andres war es in seinen Angen nicht, machen sollte. Es zu vernichten, wie mau ein giftiges Tier zertritt, meinte er als Historiker nicht das Recht zu haben, denn jede Kundgebung muß gehört werden, weil die Wissenschaft nichts zu verbergen hat. Aber er wollte das Gift wenigstens erkennbar machen, und so hat er zur Rechtfertigung seines Helden Napoleon Einleitungen und Anmerkungen hinzugefügt, die den geschichtlichen Wert der Memoiren bedeutend erhöhen. Wir sehen die Revolution in zweierlei Beleuchtung und ebenso das Kaisertum, das aus ihr hervorging. Auf der einen Seite steht Barras, und mit ihm stimmt der ältere Herr von Samt Albin wesentlich überein, auf der andern der Herausgeber, George Duruy, der Sohn des bekannten Historikers und Unterrichtsministers unter Napoleon III. Das Werk ist in vier Bänden, mit Karten und Bildnissen ausgestattet, in autorisirter Übersetzung in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/32>, abgerufen am 23.07.2024.