Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich Rekurs aus dem Elsaß, vertreten durch den Advokaten Cremieux, die Recht¬ Damit war die letzte Unterscheidung zwischen Juden portugiesischer und Eine Änderung der Dinge war aber auch insofern eingetreten, als die Wenn der katholische Klerus in Frankreich die antisemitische Bewegung, Grenzboten II 1397 Jg
Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich Rekurs aus dem Elsaß, vertreten durch den Advokaten Cremieux, die Recht¬ Damit war die letzte Unterscheidung zwischen Juden portugiesischer und Eine Änderung der Dinge war aber auch insofern eingetreten, als die Wenn der katholische Klerus in Frankreich die antisemitische Bewegung, Grenzboten II 1397 Jg
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Zur antisemitischen Bewegung in Frankreich
Rekurs aus dem Elsaß, vertreten durch den Advokaten Cremieux, die Recht¬
sprechung von Kolmar verworfen; der junge Advokat, der damals einen so
glänzenden Sieg erfocht, wurde später der Gründer der ^llianos universelle
Jörg,e1it><z.
Damit war die letzte Unterscheidung zwischen Juden portugiesischer und
deutscher Herkunft in Frankreich beseitigt. Im Elsaß und in den angrenzenden
Departements war man über diese Wendung der Dinge sehr bestürzt, und noch
kurz vor 1870 wurde in den zahlreichen Schriften über jüdischen Wucher im
Elsaß das Bedauern ausgesprochen, daß diese wirksamste Schranke der Aus¬
beutung der Landwirte gefallen sei. Im übrigen Frankreich blieb die Sache
ziemlich unbemerkt, da die „deutschen Juden" nur in geringer Anzahl in das
Innere Frankreichs zogen. In dieser Beziehung ist seit 1870 eine Änderung
der Dinge eingetreten. Seitdem Elsaß-Lothringen deutsch geworden ist, hat
sich die Zahl der Juden im Reichslande stetig verringert. 1871 waren in
der Gesamtbevölkerung des Reichslandes 40938 Juden gezählt worden; 1895
hat man nur 32859 ermittelt, während unter normalen Verhältnissen eine
starke Vermehrung sich Hütte ergeben sollen. Die Auswanderung war haupt¬
sächlich nach Frankreich (Paris und den östlichen Departements) gerichtet, da¬
neben auch nach Algier, Kanada, Argentinien usw.
Eine Änderung der Dinge war aber auch insofern eingetreten, als die
jüdische Einwanderung aus dem Elsaß und aus Deutschland sich bald in un¬
liebsamer Weise bemerkbar machte. Schon ehe die jüngsten Finanzskandale
offenkundig wurden, gab Abbe I. Lumann dem Präsidenten Carnot, dessen
Großvater für die Emcmzipirung der Juden in Frankreich gestimmt hatte, und
dessen Vater noch unter Ludwig Philipp als Abgeordneter beantragt hatte,
Frankreich möge sich an die Spitze einer Bewegung für die Durchführung der
Emanzipation in allen Ländern stellen, den Rat, er möge „den Elysepalast
von dem hebräischen Einflüsse frei halten, der ein Erbstück seiner Familie sei."
Wenn der katholische Klerus in Frankreich die antisemitische Bewegung,
und sei es auch nur in verschämter Zurückhaltung, fördert und unterstützt, so
ist ein solches Unternehmen schon aus dem Grunde begreiflich, weil es der
Kirche nicht gleichgiltig sein kann, wenn das dem Stuhle Petri Steuerpflichtige
Kapital mehr und mehr in die Hände von Ungläubigen gerät. Der Antisemitis¬
mus in Frankreich kann aber nur ein Ziel haben: er kann sich nicht gegen die
längst völlig rationalisirten Juden portugiesischen Ursprungs richten — das
würde man in Frankreich nicht recht begreifen; mit diesen haben sich die Mitbürger
und Zeitgenossen längst abgefunden. Der Antisemitismus in Frankreich kann
sich nur gegen die Juden deutscher und elsässischer Abstammung richten;
diese allein können als Eindringlinge betrachtet und bezeichnet werden. Sie
werden auch in den antisemitischen Schriften stets als Deutsche, als Preußen,
als Fremde bezeichnet, die eine Nation in der Nation, „einen Staat im Staate"
Grenzboten II 1397 Jg
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