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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Zur Naturgeschichte des Richters

Wieners in dem kleinen Fabrikort mehr zugemutet als diesem. Da läßt sich un¬
endlich viel thun, und zwar bald, ohne neue Gesetze. Nur die voetor"Z8
rvrnm noviu-um müssen die Finger davon lassen.




Zur Naturgeschichte des Richters

aruin hat die hehre Themis die Augen durch eine Binde ver¬
hüllt? Sie soll die Personen nicht ansehn, deren Rechte sie ab¬
wägt. Wie erkennt sie dann aber das Sinken und Steigen der
Wagschalen? Nur durch das Gefühl ihrer Hand, mit der sie
das Zünglein der Wage berührt. Schade, daß sie auf andre
Art außer Stande zu sein glaubt, ohne Ansehn der Person zu entscheiden!
Denn mit verbundnen Augen sieht sie leider auch das nicht, was ihr zu sehn
not thut, und wer bürgt dafür, daß ihre Hand leicht genug an das Zünglein
rührt, um es nicht zu bewegen und dadurch das Gewichtsverhältnis zu stören?

Aber es ist nun einmal so, und ihre Jünger folgen ihrem Vorbilde: sie
wissen das Recht, und wenn sie es in den einzelnen Fällen des praktischen
Lebens finden und anwenden sollen, dann legen sie die Binde vor die Augen
und lassen sich lediglich von ihrem juristischen Feingefühl leiten. Reicht dieses
aber aus, deu einzelnen Fall so zu entscheiden, wie er entschieden werden muß?
wenn das Leben nichts weiter wäre als ein Rechtssystem, wenn sich jeder
euizelne Fall seiner Besonderheit entkleiden und als bloße Nummer unter die
Praktischen Beispiele dieses oder jenes Paragraphen einreihen ließe! wenn er
nicht nußer seiner rechtlichen Seite, die oft ziemlich wenig hervortritt, noch
verschiedne andre Seiten Hütte, die sittliche, die gesellschaftliche, die wirtschaft¬
liche, die politische, die psychologische, von denen die eine oder andre ihm oft
gerade sein eigentümliches Aussehen giebt, und die jedenfalls nur in ihrer Ge¬
samtheit seine Besonderheit ausmachen! Wie kann er richtig aufgefaßt und
beurteilt werden, wenn das nur vom juristischen Standpunkte aus geschieht?
Freilich muß er ja, wenn er "im Wege Rechtens" entschieden werden soll, auch
nach dem Rechte beurteilt werden, aber wenn das suminuni Ms nicht unter
Umständen sunimg. ii^'uria, sein soll, doch nicht nach dem Rechte allein, sondern
unter Mitwirkung aller andern in Betracht kommenden Mächte objektiver Art.
Geschieht das, so wird der Richterspruch sicherlich anders ausfallen, als wenn
nur die rechtliche Seite des Falles unter die Lupe genommen wird. Aber da
s'tzt es eben. Der echte, schlichte Richter nimmt den Fall, wie er im Gesetz-


Grenzboten II 18ö? 3
Zur Naturgeschichte des Richters

Wieners in dem kleinen Fabrikort mehr zugemutet als diesem. Da läßt sich un¬
endlich viel thun, und zwar bald, ohne neue Gesetze. Nur die voetor«Z8
rvrnm noviu-um müssen die Finger davon lassen.




Zur Naturgeschichte des Richters

aruin hat die hehre Themis die Augen durch eine Binde ver¬
hüllt? Sie soll die Personen nicht ansehn, deren Rechte sie ab¬
wägt. Wie erkennt sie dann aber das Sinken und Steigen der
Wagschalen? Nur durch das Gefühl ihrer Hand, mit der sie
das Zünglein der Wage berührt. Schade, daß sie auf andre
Art außer Stande zu sein glaubt, ohne Ansehn der Person zu entscheiden!
Denn mit verbundnen Augen sieht sie leider auch das nicht, was ihr zu sehn
not thut, und wer bürgt dafür, daß ihre Hand leicht genug an das Zünglein
rührt, um es nicht zu bewegen und dadurch das Gewichtsverhältnis zu stören?

Aber es ist nun einmal so, und ihre Jünger folgen ihrem Vorbilde: sie
wissen das Recht, und wenn sie es in den einzelnen Fällen des praktischen
Lebens finden und anwenden sollen, dann legen sie die Binde vor die Augen
und lassen sich lediglich von ihrem juristischen Feingefühl leiten. Reicht dieses
aber aus, deu einzelnen Fall so zu entscheiden, wie er entschieden werden muß?
wenn das Leben nichts weiter wäre als ein Rechtssystem, wenn sich jeder
euizelne Fall seiner Besonderheit entkleiden und als bloße Nummer unter die
Praktischen Beispiele dieses oder jenes Paragraphen einreihen ließe! wenn er
nicht nußer seiner rechtlichen Seite, die oft ziemlich wenig hervortritt, noch
verschiedne andre Seiten Hütte, die sittliche, die gesellschaftliche, die wirtschaft¬
liche, die politische, die psychologische, von denen die eine oder andre ihm oft
gerade sein eigentümliches Aussehen giebt, und die jedenfalls nur in ihrer Ge¬
samtheit seine Besonderheit ausmachen! Wie kann er richtig aufgefaßt und
beurteilt werden, wenn das nur vom juristischen Standpunkte aus geschieht?
Freilich muß er ja, wenn er „im Wege Rechtens" entschieden werden soll, auch
nach dem Rechte beurteilt werden, aber wenn das suminuni Ms nicht unter
Umständen sunimg. ii^'uria, sein soll, doch nicht nach dem Rechte allein, sondern
unter Mitwirkung aller andern in Betracht kommenden Mächte objektiver Art.
Geschieht das, so wird der Richterspruch sicherlich anders ausfallen, als wenn
nur die rechtliche Seite des Falles unter die Lupe genommen wird. Aber da
s'tzt es eben. Der echte, schlichte Richter nimmt den Fall, wie er im Gesetz-


Grenzboten II 18ö? 3
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[0025] Zur Naturgeschichte des Richters Wieners in dem kleinen Fabrikort mehr zugemutet als diesem. Da läßt sich un¬ endlich viel thun, und zwar bald, ohne neue Gesetze. Nur die voetor«Z8 rvrnm noviu-um müssen die Finger davon lassen. Zur Naturgeschichte des Richters aruin hat die hehre Themis die Augen durch eine Binde ver¬ hüllt? Sie soll die Personen nicht ansehn, deren Rechte sie ab¬ wägt. Wie erkennt sie dann aber das Sinken und Steigen der Wagschalen? Nur durch das Gefühl ihrer Hand, mit der sie das Zünglein der Wage berührt. Schade, daß sie auf andre Art außer Stande zu sein glaubt, ohne Ansehn der Person zu entscheiden! Denn mit verbundnen Augen sieht sie leider auch das nicht, was ihr zu sehn not thut, und wer bürgt dafür, daß ihre Hand leicht genug an das Zünglein rührt, um es nicht zu bewegen und dadurch das Gewichtsverhältnis zu stören? Aber es ist nun einmal so, und ihre Jünger folgen ihrem Vorbilde: sie wissen das Recht, und wenn sie es in den einzelnen Fällen des praktischen Lebens finden und anwenden sollen, dann legen sie die Binde vor die Augen und lassen sich lediglich von ihrem juristischen Feingefühl leiten. Reicht dieses aber aus, deu einzelnen Fall so zu entscheiden, wie er entschieden werden muß? wenn das Leben nichts weiter wäre als ein Rechtssystem, wenn sich jeder euizelne Fall seiner Besonderheit entkleiden und als bloße Nummer unter die Praktischen Beispiele dieses oder jenes Paragraphen einreihen ließe! wenn er nicht nußer seiner rechtlichen Seite, die oft ziemlich wenig hervortritt, noch verschiedne andre Seiten Hütte, die sittliche, die gesellschaftliche, die wirtschaft¬ liche, die politische, die psychologische, von denen die eine oder andre ihm oft gerade sein eigentümliches Aussehen giebt, und die jedenfalls nur in ihrer Ge¬ samtheit seine Besonderheit ausmachen! Wie kann er richtig aufgefaßt und beurteilt werden, wenn das nur vom juristischen Standpunkte aus geschieht? Freilich muß er ja, wenn er „im Wege Rechtens" entschieden werden soll, auch nach dem Rechte beurteilt werden, aber wenn das suminuni Ms nicht unter Umständen sunimg. ii^'uria, sein soll, doch nicht nach dem Rechte allein, sondern unter Mitwirkung aller andern in Betracht kommenden Mächte objektiver Art. Geschieht das, so wird der Richterspruch sicherlich anders ausfallen, als wenn nur die rechtliche Seite des Falles unter die Lupe genommen wird. Aber da s'tzt es eben. Der echte, schlichte Richter nimmt den Fall, wie er im Gesetz- Grenzboten II 18ö? 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/25>, abgerufen am 23.07.2024.