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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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planen und Wallonen

Belgier durch den Einfluß der französirten höhern Stände dahin kamen, ihre
Muttersprache kaum noch im öffentlichen Leben und in der Litteratur anzu¬
wenden, und es ist auch wahr, daß später ein kleinlicher Streit um die Recht¬
schreibung ausbrach, der es verhinderte, daß man auf den ersten Blick sehen
konnte, daß nordniedcrlnndische und südniederländische Sprache eine Einheit
bilden. Man kaun auch nicht leugnen, daß Verschiedenheiten in der Schreib¬
weise zwischen beiden Völkern auch heute noch bestehen, aber diese landschaft¬
lichen Unterschiede, die etwa in der Art zu denken sind wie die zwischen
dänischen und norwegischen Schriftstellern, sind nicht so groß, daß man von
einer holländischen und einer Mimischen Sprache reden könnte. Die Mundarten
in Vlamland sind allerdings verschieden genug -- je uach der ursprünglichen
Abstammung der Bevölkerung --, sodaß ein Bewohner von Brügge, wenn er
nach Brüssel kommt, oft die dortigen Einwohner nicht versteht; aber bei größerer
Berücksichtigung der Schriftsprache in der Schule wird sich das ausgleichen.

Die Vlamen könnten mit mehr Recht den Spieß umdrehen und den
Wallonen vorwerfen, sie bedienten sich der Sprache eines fremden Volks, denn
sie haben zur Bildung des neufranzösischen wenig genug beigetragen. Aber
die Mehrzahl der Vlämiuge steht noch so nnter dem Einfluß ihrer französischen
Erziehung, daß sie nicht daran denkt, das Joch der französischen Kultur ab¬
zuschütteln. Die Vläminge wollen bis jetzt nur gleiche Verteilung von Licht
und Schatten, und die meisten verehren noch, wenn sie den gebildeten Ständen
angehören, die französische Litteratur und behaupten, daß gerade durch das
Zusammenwirken beider Nationalitäten mehr geleistet werde, als wenn die
Vlamen ganz für sich stünden. Allerdings läßt sich nicht beurteilen, was die
Vlamen hätten leisten können, wenn sie nicht unter französischem Einfluß ge¬
standen hätten, und es ist nicht zu bezweifeln, daß die französische Kultur, als
die höhere, in einer Zeit nationaler Erschlaffung viel zur geistigen Entwicklung
der Vlamen beigetragen hat, ebenso wie das eifrige Studium des Lateinischen und
Französischen in Deutschland manches Gute gewirkt hat; die deutschen Klassiker
standen ja auch -- vielleicht ohne daß es ihnen selbst deutlich zum Bewußtsein
kam -- nnter dein Einflüsse der französischen Litteratur. Aber eine zu große
Beeinflussung durch eine fremde Nationalität hemmt natürlich die eigne
Entwicklung. Ist die Erziehung vollendet, dann macht sich jede Nation selb¬
ständig, und hat sie sich einmal selbst gefunden, dann pflegt sie sich auch eine Zeit
lang instinktiv gegen fremden Einfluß abzuschließen. Dann ist es aber auch
bedenklich, wenn eine zweite Landessprache mit ihrem Einflüsse diese natürliche
Entwicklung unterbricht und hemmt.

Wir sehen in Böhmen, in Ungarn, in Krain, ja in Preußisch-Polen, wie
sich die früher unterdrückte Volksmasse gegen den überlegnen geistigen Einfluß
des Deutschen auflehnt und sich mit allen Mitteln von ihm zu befreien sucht.
Die Deutschen Pflegen das natürlich -- ebenso wie die Franzosen bei Belgien --


planen und Wallonen

Belgier durch den Einfluß der französirten höhern Stände dahin kamen, ihre
Muttersprache kaum noch im öffentlichen Leben und in der Litteratur anzu¬
wenden, und es ist auch wahr, daß später ein kleinlicher Streit um die Recht¬
schreibung ausbrach, der es verhinderte, daß man auf den ersten Blick sehen
konnte, daß nordniedcrlnndische und südniederländische Sprache eine Einheit
bilden. Man kaun auch nicht leugnen, daß Verschiedenheiten in der Schreib¬
weise zwischen beiden Völkern auch heute noch bestehen, aber diese landschaft¬
lichen Unterschiede, die etwa in der Art zu denken sind wie die zwischen
dänischen und norwegischen Schriftstellern, sind nicht so groß, daß man von
einer holländischen und einer Mimischen Sprache reden könnte. Die Mundarten
in Vlamland sind allerdings verschieden genug — je uach der ursprünglichen
Abstammung der Bevölkerung —, sodaß ein Bewohner von Brügge, wenn er
nach Brüssel kommt, oft die dortigen Einwohner nicht versteht; aber bei größerer
Berücksichtigung der Schriftsprache in der Schule wird sich das ausgleichen.

Die Vlamen könnten mit mehr Recht den Spieß umdrehen und den
Wallonen vorwerfen, sie bedienten sich der Sprache eines fremden Volks, denn
sie haben zur Bildung des neufranzösischen wenig genug beigetragen. Aber
die Mehrzahl der Vlämiuge steht noch so nnter dem Einfluß ihrer französischen
Erziehung, daß sie nicht daran denkt, das Joch der französischen Kultur ab¬
zuschütteln. Die Vläminge wollen bis jetzt nur gleiche Verteilung von Licht
und Schatten, und die meisten verehren noch, wenn sie den gebildeten Ständen
angehören, die französische Litteratur und behaupten, daß gerade durch das
Zusammenwirken beider Nationalitäten mehr geleistet werde, als wenn die
Vlamen ganz für sich stünden. Allerdings läßt sich nicht beurteilen, was die
Vlamen hätten leisten können, wenn sie nicht unter französischem Einfluß ge¬
standen hätten, und es ist nicht zu bezweifeln, daß die französische Kultur, als
die höhere, in einer Zeit nationaler Erschlaffung viel zur geistigen Entwicklung
der Vlamen beigetragen hat, ebenso wie das eifrige Studium des Lateinischen und
Französischen in Deutschland manches Gute gewirkt hat; die deutschen Klassiker
standen ja auch — vielleicht ohne daß es ihnen selbst deutlich zum Bewußtsein
kam — nnter dein Einflüsse der französischen Litteratur. Aber eine zu große
Beeinflussung durch eine fremde Nationalität hemmt natürlich die eigne
Entwicklung. Ist die Erziehung vollendet, dann macht sich jede Nation selb¬
ständig, und hat sie sich einmal selbst gefunden, dann pflegt sie sich auch eine Zeit
lang instinktiv gegen fremden Einfluß abzuschließen. Dann ist es aber auch
bedenklich, wenn eine zweite Landessprache mit ihrem Einflüsse diese natürliche
Entwicklung unterbricht und hemmt.

Wir sehen in Böhmen, in Ungarn, in Krain, ja in Preußisch-Polen, wie
sich die früher unterdrückte Volksmasse gegen den überlegnen geistigen Einfluß
des Deutschen auflehnt und sich mit allen Mitteln von ihm zu befreien sucht.
Die Deutschen Pflegen das natürlich — ebenso wie die Franzosen bei Belgien —


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[0247] planen und Wallonen Belgier durch den Einfluß der französirten höhern Stände dahin kamen, ihre Muttersprache kaum noch im öffentlichen Leben und in der Litteratur anzu¬ wenden, und es ist auch wahr, daß später ein kleinlicher Streit um die Recht¬ schreibung ausbrach, der es verhinderte, daß man auf den ersten Blick sehen konnte, daß nordniedcrlnndische und südniederländische Sprache eine Einheit bilden. Man kaun auch nicht leugnen, daß Verschiedenheiten in der Schreib¬ weise zwischen beiden Völkern auch heute noch bestehen, aber diese landschaft¬ lichen Unterschiede, die etwa in der Art zu denken sind wie die zwischen dänischen und norwegischen Schriftstellern, sind nicht so groß, daß man von einer holländischen und einer Mimischen Sprache reden könnte. Die Mundarten in Vlamland sind allerdings verschieden genug — je uach der ursprünglichen Abstammung der Bevölkerung —, sodaß ein Bewohner von Brügge, wenn er nach Brüssel kommt, oft die dortigen Einwohner nicht versteht; aber bei größerer Berücksichtigung der Schriftsprache in der Schule wird sich das ausgleichen. Die Vlamen könnten mit mehr Recht den Spieß umdrehen und den Wallonen vorwerfen, sie bedienten sich der Sprache eines fremden Volks, denn sie haben zur Bildung des neufranzösischen wenig genug beigetragen. Aber die Mehrzahl der Vlämiuge steht noch so nnter dem Einfluß ihrer französischen Erziehung, daß sie nicht daran denkt, das Joch der französischen Kultur ab¬ zuschütteln. Die Vläminge wollen bis jetzt nur gleiche Verteilung von Licht und Schatten, und die meisten verehren noch, wenn sie den gebildeten Ständen angehören, die französische Litteratur und behaupten, daß gerade durch das Zusammenwirken beider Nationalitäten mehr geleistet werde, als wenn die Vlamen ganz für sich stünden. Allerdings läßt sich nicht beurteilen, was die Vlamen hätten leisten können, wenn sie nicht unter französischem Einfluß ge¬ standen hätten, und es ist nicht zu bezweifeln, daß die französische Kultur, als die höhere, in einer Zeit nationaler Erschlaffung viel zur geistigen Entwicklung der Vlamen beigetragen hat, ebenso wie das eifrige Studium des Lateinischen und Französischen in Deutschland manches Gute gewirkt hat; die deutschen Klassiker standen ja auch — vielleicht ohne daß es ihnen selbst deutlich zum Bewußtsein kam — nnter dein Einflüsse der französischen Litteratur. Aber eine zu große Beeinflussung durch eine fremde Nationalität hemmt natürlich die eigne Entwicklung. Ist die Erziehung vollendet, dann macht sich jede Nation selb¬ ständig, und hat sie sich einmal selbst gefunden, dann pflegt sie sich auch eine Zeit lang instinktiv gegen fremden Einfluß abzuschließen. Dann ist es aber auch bedenklich, wenn eine zweite Landessprache mit ihrem Einflüsse diese natürliche Entwicklung unterbricht und hemmt. Wir sehen in Böhmen, in Ungarn, in Krain, ja in Preußisch-Polen, wie sich die früher unterdrückte Volksmasse gegen den überlegnen geistigen Einfluß des Deutschen auflehnt und sich mit allen Mitteln von ihm zu befreien sucht. Die Deutschen Pflegen das natürlich — ebenso wie die Franzosen bei Belgien —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/247>, abgerufen am 23.07.2024.