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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Neue Erzählungen

germanische Kultur über den Haufen, um sich nicht wieder aufzurappeln.
Amen!

Die Handlung, soweit davon die Rede sein kann, spielt teils in Refvie,
teils in Malmö im Redaktionszimmer oder in einem Frühstückslokal. Einige
Menschen werden noch vorgeführt, aber nicht lange genug der Beachtung ge¬
würdigt, um uns näher treten zu können; nach etlichen anzüglichen Bemerkungen
werden sie wieder entlassen. Schließlich heiratet der eine grüne Redakteur
ein hübsches Arbeitermädchen, das der "Schutzengel," ohne daß mans weiß,
an Kindesstatt angenommen und zur Erbin seines Vermögens gemacht hat.
Die langweilige, ehrbare Meinung der Stadt hält den "Schutzengel" sür den
Abschaum von Frivolität und Unsitte; er ist überzeugt, daß er allein der
wahren Sittlichkeit dient, und hat wenigstens das sür sich, daß er inter¬
essanter ist als die tugendhaften Leute, wenigstens soweit sie in Malmö vor¬
handen sind.

Die Erzählung ("Roman" beruht auf Vcgriffsverwechslung) ist nicht
etwa aus dem Schwedischen übersetzt, sondern für deutsche Leser geschrieben.
Haben denn aber diese wirklich soviel Interesse an dieser gewiß sehr treu ge¬
schilderten Gesellschaft von Spießbürgern und Nouvs? Daraus einen Roman
zusammenzudichten, ist jedenfalls eine Verirrung; als Kulturbild, wenn auch
keins vou den besten, wollten wirs uns gefallen lassen.

Unter Ola Hanssons Menschen fängt jedes neue Zusammensein mit irgend
einer leiblichen Stärkung an, und weil immer gegessen und getrunken wird,
so bleibt für abstraktere Dinge nicht viel Raum; es ist merkwürdig, wie wenig
Gedanken sich diese Leute mitzuteilen haben, innerhalb eines Umfangs von
beinahe zweihundert Buchseiten kaum eine einzige ordentliche Unterhaltung!
Dagegen giebt uns Clara Sudermann einen der bekannten neudeutschen
Liebesromane mit viel Unterhaltung und mehr zurücktretender Schilderung:
Die Siegerin (Verlag der "Wiener Mode"). Wir werden in ein ost¬
preußisches Försterhaus geführt. Die älteste Tochter ist mit einem sehr reichen
adlichen Gutsbesitzer unglücklich verheiratet; sie hat ihn nnr seines Geldes
wegen genommen, liebt ihn nicht und wird recht schlecht von ihm behandelt.
Ihre Liebe war ein ebenfalls adlicher Offizier, auf dessen Hand sie aber ver¬
zichten mußte, weil er arm war. Dieser ist nun plötzlich durch Erbschaft Be¬
sitzer großer Güter geworden und möchte mit Hilfe des alten Oberförsters
seine neuerworbnen Waldungen aufforsten lassen. Durch Vermittlung der
jüngern Schwester sucht er sich seiner einstigen Braut zu nähern, die zum Un¬
glück gerade ihrem Mann davongelaufen und im Försterhause mit ihren beiden
Kindern eingetroffen ist. Diese jüngere -- die "Siegerin" -- ist ein Aus¬
bund von kecker, anziehender Anmut und Gescheitheit, die tanzenden Herren
reißen sich förmlich um sie, wenn sie in den Gesellschaften der benachbarten
Gutsbesitzer als erster Stern, "wie gewöhnlich," erscheint. Sie ist immer


Neue Erzählungen

germanische Kultur über den Haufen, um sich nicht wieder aufzurappeln.
Amen!

Die Handlung, soweit davon die Rede sein kann, spielt teils in Refvie,
teils in Malmö im Redaktionszimmer oder in einem Frühstückslokal. Einige
Menschen werden noch vorgeführt, aber nicht lange genug der Beachtung ge¬
würdigt, um uns näher treten zu können; nach etlichen anzüglichen Bemerkungen
werden sie wieder entlassen. Schließlich heiratet der eine grüne Redakteur
ein hübsches Arbeitermädchen, das der „Schutzengel," ohne daß mans weiß,
an Kindesstatt angenommen und zur Erbin seines Vermögens gemacht hat.
Die langweilige, ehrbare Meinung der Stadt hält den „Schutzengel" sür den
Abschaum von Frivolität und Unsitte; er ist überzeugt, daß er allein der
wahren Sittlichkeit dient, und hat wenigstens das sür sich, daß er inter¬
essanter ist als die tugendhaften Leute, wenigstens soweit sie in Malmö vor¬
handen sind.

Die Erzählung („Roman" beruht auf Vcgriffsverwechslung) ist nicht
etwa aus dem Schwedischen übersetzt, sondern für deutsche Leser geschrieben.
Haben denn aber diese wirklich soviel Interesse an dieser gewiß sehr treu ge¬
schilderten Gesellschaft von Spießbürgern und Nouvs? Daraus einen Roman
zusammenzudichten, ist jedenfalls eine Verirrung; als Kulturbild, wenn auch
keins vou den besten, wollten wirs uns gefallen lassen.

Unter Ola Hanssons Menschen fängt jedes neue Zusammensein mit irgend
einer leiblichen Stärkung an, und weil immer gegessen und getrunken wird,
so bleibt für abstraktere Dinge nicht viel Raum; es ist merkwürdig, wie wenig
Gedanken sich diese Leute mitzuteilen haben, innerhalb eines Umfangs von
beinahe zweihundert Buchseiten kaum eine einzige ordentliche Unterhaltung!
Dagegen giebt uns Clara Sudermann einen der bekannten neudeutschen
Liebesromane mit viel Unterhaltung und mehr zurücktretender Schilderung:
Die Siegerin (Verlag der „Wiener Mode"). Wir werden in ein ost¬
preußisches Försterhaus geführt. Die älteste Tochter ist mit einem sehr reichen
adlichen Gutsbesitzer unglücklich verheiratet; sie hat ihn nnr seines Geldes
wegen genommen, liebt ihn nicht und wird recht schlecht von ihm behandelt.
Ihre Liebe war ein ebenfalls adlicher Offizier, auf dessen Hand sie aber ver¬
zichten mußte, weil er arm war. Dieser ist nun plötzlich durch Erbschaft Be¬
sitzer großer Güter geworden und möchte mit Hilfe des alten Oberförsters
seine neuerworbnen Waldungen aufforsten lassen. Durch Vermittlung der
jüngern Schwester sucht er sich seiner einstigen Braut zu nähern, die zum Un¬
glück gerade ihrem Mann davongelaufen und im Försterhause mit ihren beiden
Kindern eingetroffen ist. Diese jüngere — die „Siegerin" — ist ein Aus¬
bund von kecker, anziehender Anmut und Gescheitheit, die tanzenden Herren
reißen sich förmlich um sie, wenn sie in den Gesellschaften der benachbarten
Gutsbesitzer als erster Stern, „wie gewöhnlich," erscheint. Sie ist immer


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[0198] Neue Erzählungen germanische Kultur über den Haufen, um sich nicht wieder aufzurappeln. Amen! Die Handlung, soweit davon die Rede sein kann, spielt teils in Refvie, teils in Malmö im Redaktionszimmer oder in einem Frühstückslokal. Einige Menschen werden noch vorgeführt, aber nicht lange genug der Beachtung ge¬ würdigt, um uns näher treten zu können; nach etlichen anzüglichen Bemerkungen werden sie wieder entlassen. Schließlich heiratet der eine grüne Redakteur ein hübsches Arbeitermädchen, das der „Schutzengel," ohne daß mans weiß, an Kindesstatt angenommen und zur Erbin seines Vermögens gemacht hat. Die langweilige, ehrbare Meinung der Stadt hält den „Schutzengel" sür den Abschaum von Frivolität und Unsitte; er ist überzeugt, daß er allein der wahren Sittlichkeit dient, und hat wenigstens das sür sich, daß er inter¬ essanter ist als die tugendhaften Leute, wenigstens soweit sie in Malmö vor¬ handen sind. Die Erzählung („Roman" beruht auf Vcgriffsverwechslung) ist nicht etwa aus dem Schwedischen übersetzt, sondern für deutsche Leser geschrieben. Haben denn aber diese wirklich soviel Interesse an dieser gewiß sehr treu ge¬ schilderten Gesellschaft von Spießbürgern und Nouvs? Daraus einen Roman zusammenzudichten, ist jedenfalls eine Verirrung; als Kulturbild, wenn auch keins vou den besten, wollten wirs uns gefallen lassen. Unter Ola Hanssons Menschen fängt jedes neue Zusammensein mit irgend einer leiblichen Stärkung an, und weil immer gegessen und getrunken wird, so bleibt für abstraktere Dinge nicht viel Raum; es ist merkwürdig, wie wenig Gedanken sich diese Leute mitzuteilen haben, innerhalb eines Umfangs von beinahe zweihundert Buchseiten kaum eine einzige ordentliche Unterhaltung! Dagegen giebt uns Clara Sudermann einen der bekannten neudeutschen Liebesromane mit viel Unterhaltung und mehr zurücktretender Schilderung: Die Siegerin (Verlag der „Wiener Mode"). Wir werden in ein ost¬ preußisches Försterhaus geführt. Die älteste Tochter ist mit einem sehr reichen adlichen Gutsbesitzer unglücklich verheiratet; sie hat ihn nnr seines Geldes wegen genommen, liebt ihn nicht und wird recht schlecht von ihm behandelt. Ihre Liebe war ein ebenfalls adlicher Offizier, auf dessen Hand sie aber ver¬ zichten mußte, weil er arm war. Dieser ist nun plötzlich durch Erbschaft Be¬ sitzer großer Güter geworden und möchte mit Hilfe des alten Oberförsters seine neuerworbnen Waldungen aufforsten lassen. Durch Vermittlung der jüngern Schwester sucht er sich seiner einstigen Braut zu nähern, die zum Un¬ glück gerade ihrem Mann davongelaufen und im Försterhause mit ihren beiden Kindern eingetroffen ist. Diese jüngere — die „Siegerin" — ist ein Aus¬ bund von kecker, anziehender Anmut und Gescheitheit, die tanzenden Herren reißen sich förmlich um sie, wenn sie in den Gesellschaften der benachbarten Gutsbesitzer als erster Stern, „wie gewöhnlich," erscheint. Sie ist immer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/198>, abgerufen am 23.07.2024.