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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Volkssprache zu sein, tot blieb, obwohl sie Jahrhunderte lang unter Gelehrten,
Diplomaten und bei manchen Höfen üblich war. Von der gesamten Rechts¬
wissenschaft sind die wichtigsten Strafgesetze wegen ihrer Natur oder vielleicht
auch wegen der allgemein verbreiteten Kenntnis der zehn Gebote der Volks-
vorstcllnng noch am ehesten zugänglich geblieben. Aber auch in dem Gebiete
des Strafrechts sind grane Theorien zur Herrschaft gelangt, die eine weit
ernstere kulturgeschichtliche Bedeutung haben als Mängel in Gesetzen oder
Nechtssprüchen, und die die Wissenschaft selbst in Frage stellen.

Unsre hervorragendsten Strafrechtslehrer, Liszt an der Spitze, folgen dem
Italiener Lombroso und leugnen die Willensfreiheit des Menschen. Wie der
Mensch nicht für die Beschaffenheit seiner Nase verantwortlich gemacht werden
kann, so soll er auch nicht für die Beschaffenheit seines Charakters verant¬
wortlich sein. Die freie Willensbestimmung soll ihm nicht nur bei Bewußt¬
losigkeit oder krankhafter Geistesstörung, sondern regelmäßig und ganz aus¬
nahmslos fehlen. Die Zurechnungsfähigkeit des Menschen wird damit grund¬
sätzlich geleugnet. Wenn Leute, die den Menschen für willensunfrei halten,
trotzdem von der Zurechnungsfähigkeit eines Verbrechers sprechen, so wollen
sie diese nur in einem bestimmten Sinne verstanden wissen. Sie meinen damit,
daß bei Ausübung der That der Verbrecher von keiner solchen Geistesstörung,
die eine Übereinstimmung seiner Vorstellung mit dein Vorgestellten verhindert
habe, befangen gewesen sei. Im übrigen betrachten sie aber den Verbrecher
als einen Kranken, der ein Opfer seiner ererbten Anlagen und der sozialen
Verhältnisse geworden sei, nnter denen er aufgewachsen ist. Auch die An¬
hänger der Willensunfreiheit wollen allgemein gegen einen in seinen Vor¬
stellungen geistcsklaren Verbrecher die Strafen aufrecht erhalten, aber nicht
etwa als Sühne und Vergeltung, sondern lediglich ans Zweckmäßigkeitsgründen
zur Sicherung der Gesellschaft oder zur Abschreckung des Verbrechers oder zu
dessen Besserung, wenn er überhaupt noch heilnngsfühig ist.

Ohne diese Lehren der Kriminalanthrvpologen eingehender zu würdigen,
wird man von vornherein behaupten müssen, daß sie das Ungemach, das auch
sie den Verbrechern zugefügt wissen wollen, nicht als Strafe bezeichnen dürfen.
Als Strafe ist begrifflich nnr eine Handlung der Vergeltung aufzufassen; ein
Ungemach aber, das lediglich ans andern Zwecken als dem der Vergeltung
zugefügt wird, ist keine Strafe. Strafe und Heilmittel sind begrifflich ver¬
schieden, und diese Verschiedenheit bleibt anch bei Anwendung eines sehr schmerz¬
haften Heilmittels vollständig bestehen. Ein Strafrecht im wahren Sinne des
Worts darf es nur geben, wenn der Mensch durchschnittlich für seine Hand¬
lungen wenigstens bis zu einem gewissen Grade verantwortlich ist. Es ist
früher erwähnt und durch eine Reihe von Beispielen belegt worden, daß es
unser Strafrecht nicht immer verstanden hat, sich von Strafverfolgungen für
Handlungen, die ohne eigentliche Verschuldung begangen worden sind, freizu-


Grcnzbotcn II 1897 23
Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Volkssprache zu sein, tot blieb, obwohl sie Jahrhunderte lang unter Gelehrten,
Diplomaten und bei manchen Höfen üblich war. Von der gesamten Rechts¬
wissenschaft sind die wichtigsten Strafgesetze wegen ihrer Natur oder vielleicht
auch wegen der allgemein verbreiteten Kenntnis der zehn Gebote der Volks-
vorstcllnng noch am ehesten zugänglich geblieben. Aber auch in dem Gebiete
des Strafrechts sind grane Theorien zur Herrschaft gelangt, die eine weit
ernstere kulturgeschichtliche Bedeutung haben als Mängel in Gesetzen oder
Nechtssprüchen, und die die Wissenschaft selbst in Frage stellen.

Unsre hervorragendsten Strafrechtslehrer, Liszt an der Spitze, folgen dem
Italiener Lombroso und leugnen die Willensfreiheit des Menschen. Wie der
Mensch nicht für die Beschaffenheit seiner Nase verantwortlich gemacht werden
kann, so soll er auch nicht für die Beschaffenheit seines Charakters verant¬
wortlich sein. Die freie Willensbestimmung soll ihm nicht nur bei Bewußt¬
losigkeit oder krankhafter Geistesstörung, sondern regelmäßig und ganz aus¬
nahmslos fehlen. Die Zurechnungsfähigkeit des Menschen wird damit grund¬
sätzlich geleugnet. Wenn Leute, die den Menschen für willensunfrei halten,
trotzdem von der Zurechnungsfähigkeit eines Verbrechers sprechen, so wollen
sie diese nur in einem bestimmten Sinne verstanden wissen. Sie meinen damit,
daß bei Ausübung der That der Verbrecher von keiner solchen Geistesstörung,
die eine Übereinstimmung seiner Vorstellung mit dein Vorgestellten verhindert
habe, befangen gewesen sei. Im übrigen betrachten sie aber den Verbrecher
als einen Kranken, der ein Opfer seiner ererbten Anlagen und der sozialen
Verhältnisse geworden sei, nnter denen er aufgewachsen ist. Auch die An¬
hänger der Willensunfreiheit wollen allgemein gegen einen in seinen Vor¬
stellungen geistcsklaren Verbrecher die Strafen aufrecht erhalten, aber nicht
etwa als Sühne und Vergeltung, sondern lediglich ans Zweckmäßigkeitsgründen
zur Sicherung der Gesellschaft oder zur Abschreckung des Verbrechers oder zu
dessen Besserung, wenn er überhaupt noch heilnngsfühig ist.

Ohne diese Lehren der Kriminalanthrvpologen eingehender zu würdigen,
wird man von vornherein behaupten müssen, daß sie das Ungemach, das auch
sie den Verbrechern zugefügt wissen wollen, nicht als Strafe bezeichnen dürfen.
Als Strafe ist begrifflich nnr eine Handlung der Vergeltung aufzufassen; ein
Ungemach aber, das lediglich ans andern Zwecken als dem der Vergeltung
zugefügt wird, ist keine Strafe. Strafe und Heilmittel sind begrifflich ver¬
schieden, und diese Verschiedenheit bleibt anch bei Anwendung eines sehr schmerz¬
haften Heilmittels vollständig bestehen. Ein Strafrecht im wahren Sinne des
Worts darf es nur geben, wenn der Mensch durchschnittlich für seine Hand¬
lungen wenigstens bis zu einem gewissen Grade verantwortlich ist. Es ist
früher erwähnt und durch eine Reihe von Beispielen belegt worden, daß es
unser Strafrecht nicht immer verstanden hat, sich von Strafverfolgungen für
Handlungen, die ohne eigentliche Verschuldung begangen worden sind, freizu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/185>, abgerufen am 23.07.2024.