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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

mutig unwahren Verherrlichung alles jüdischen Lebens und Treibens erfüllt,
der selbst die Geschichtsfälschung dienen muß. Die Erfindungen sind ziemlich
platt, die Zeichnung des geschichtlichen Hintergrundes ohne Anschaulichkeit
und Kraft, die Sprache durch Überladung mit dem entsetzlichen östlichen
Judendeutsch verunstaltet.

Viel lebensfrischer und anziehender sind die beiden kleinen Sammlungen
von Gustav Meinecke: Aus dem Krevlenlande und Texanisches und
Kreolisches (Berlin, Deutscher Kolonialverlag). Die Geschichten "Im
Mississippisumpf" und "In der letzten Stunde" mit ihrer Szenerie lesen sich
wie ein paar nachträgliche Kapitel zu Sealsfield, was für die Echtheit der
Beobachtungen und Bilder spricht. "In der letzten Stunde" ist eine sehr
lebendig erzählte Eifersuchtsgeschichte, in der der heißblutige Ehemann den
ihm unbekannten Bruder seiner Frau für deren Liebhaber hält. Unter den
Novellen der zweiten Sammlung bietet besonders "Nollins Plantage" eigen¬
tümliche Bilder aus dem Leben der seit der Aufhebung der Sklaverei herab¬
kommenden und verarmenden Pflanzer der Südstaaten der amerikanischen Union.

Die Türkischen Geschichten von Rudolf Lindau (Berlin. F. Fon¬
tane u. Comp., 1897) sind nach der Versicherung des Verfassers türkischen
Erzählern getreu nacherzählt. Ihr Realismus zeigt einen bemerkenswerten,
aber keinen zu schroffen Abstand von den Märchenerfindungen, die wir aus
"Tausend und eine Nacht" kennen. Denn nach wie vor entspricht der jähe
Schicksalswechsel, bei dem nach Allahs Willen das Hohe erniedrigt, das Niedrige
erhöht werden kann, dem Gläubigen aber alles zum Heil gereichen muß, der
Phantasie der Orientalen. Es waltet in diesen Geschichten vor die Freude
am Geschehen, über die Beweggründe "will," wie Lindau sagt, der Hörer selbst
nachdenken. Die buntesten Abenteuer folgen rasch aufeinander, aber der Sinn
für das Wirkliche und Wahrscheinliche verleugnet sich in Erzählungen wie
"Der grüne Schleier," "Die schöne Dschanfcda," "Gülmes Besir," "Der kluge
Toros Agda," "Der goldne Reif" keinen Augenblick. Welchen Anteil an der
klaren Durchsichtigkeit dieser Novellen, an ihrem fesselnden Vortrag der deutsche
Bearbeiter gehabt, vermögen wir nicht zu beurteilen. Jedenfalls haben die
"Türkischen Geschichten," ganz abgesehen von den gänzlich unaufdringlichen
Sittenschilderungen, schon durch ihre Erfindung einen Reiz, der auf zahlreiche
Leser wirken wird.

Eine besondre Gruppe nur selten erfreulicher Erscheinungen bilden die
Novellen, die vom Feuilleton ausgehen, auf das Feuilleton zugeschnitten sind
und sich in nicht eben geschmackvoller Übertragung der amerikanischen "dort
storiös als "Kurzgeschichten" bezeichnen. An und für sich kann die Novelle,
wo ihre besondre Aufgabe und ihre Form rein erfaßt wird, sehr wohl kurz
sein, die ältern italienischen und französischen Novellen sind fast alle von sehr
geringem Umfange. Aber um eine Wiederbelebung der ursprünglichsten Form,


Neue Novellen

mutig unwahren Verherrlichung alles jüdischen Lebens und Treibens erfüllt,
der selbst die Geschichtsfälschung dienen muß. Die Erfindungen sind ziemlich
platt, die Zeichnung des geschichtlichen Hintergrundes ohne Anschaulichkeit
und Kraft, die Sprache durch Überladung mit dem entsetzlichen östlichen
Judendeutsch verunstaltet.

Viel lebensfrischer und anziehender sind die beiden kleinen Sammlungen
von Gustav Meinecke: Aus dem Krevlenlande und Texanisches und
Kreolisches (Berlin, Deutscher Kolonialverlag). Die Geschichten „Im
Mississippisumpf" und „In der letzten Stunde" mit ihrer Szenerie lesen sich
wie ein paar nachträgliche Kapitel zu Sealsfield, was für die Echtheit der
Beobachtungen und Bilder spricht. „In der letzten Stunde" ist eine sehr
lebendig erzählte Eifersuchtsgeschichte, in der der heißblutige Ehemann den
ihm unbekannten Bruder seiner Frau für deren Liebhaber hält. Unter den
Novellen der zweiten Sammlung bietet besonders „Nollins Plantage" eigen¬
tümliche Bilder aus dem Leben der seit der Aufhebung der Sklaverei herab¬
kommenden und verarmenden Pflanzer der Südstaaten der amerikanischen Union.

Die Türkischen Geschichten von Rudolf Lindau (Berlin. F. Fon¬
tane u. Comp., 1897) sind nach der Versicherung des Verfassers türkischen
Erzählern getreu nacherzählt. Ihr Realismus zeigt einen bemerkenswerten,
aber keinen zu schroffen Abstand von den Märchenerfindungen, die wir aus
„Tausend und eine Nacht" kennen. Denn nach wie vor entspricht der jähe
Schicksalswechsel, bei dem nach Allahs Willen das Hohe erniedrigt, das Niedrige
erhöht werden kann, dem Gläubigen aber alles zum Heil gereichen muß, der
Phantasie der Orientalen. Es waltet in diesen Geschichten vor die Freude
am Geschehen, über die Beweggründe „will," wie Lindau sagt, der Hörer selbst
nachdenken. Die buntesten Abenteuer folgen rasch aufeinander, aber der Sinn
für das Wirkliche und Wahrscheinliche verleugnet sich in Erzählungen wie
„Der grüne Schleier," „Die schöne Dschanfcda," „Gülmes Besir," „Der kluge
Toros Agda," „Der goldne Reif" keinen Augenblick. Welchen Anteil an der
klaren Durchsichtigkeit dieser Novellen, an ihrem fesselnden Vortrag der deutsche
Bearbeiter gehabt, vermögen wir nicht zu beurteilen. Jedenfalls haben die
„Türkischen Geschichten," ganz abgesehen von den gänzlich unaufdringlichen
Sittenschilderungen, schon durch ihre Erfindung einen Reiz, der auf zahlreiche
Leser wirken wird.

Eine besondre Gruppe nur selten erfreulicher Erscheinungen bilden die
Novellen, die vom Feuilleton ausgehen, auf das Feuilleton zugeschnitten sind
und sich in nicht eben geschmackvoller Übertragung der amerikanischen «dort
storiös als „Kurzgeschichten" bezeichnen. An und für sich kann die Novelle,
wo ihre besondre Aufgabe und ihre Form rein erfaßt wird, sehr wohl kurz
sein, die ältern italienischen und französischen Novellen sind fast alle von sehr
geringem Umfange. Aber um eine Wiederbelebung der ursprünglichsten Form,


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[0597] Neue Novellen mutig unwahren Verherrlichung alles jüdischen Lebens und Treibens erfüllt, der selbst die Geschichtsfälschung dienen muß. Die Erfindungen sind ziemlich platt, die Zeichnung des geschichtlichen Hintergrundes ohne Anschaulichkeit und Kraft, die Sprache durch Überladung mit dem entsetzlichen östlichen Judendeutsch verunstaltet. Viel lebensfrischer und anziehender sind die beiden kleinen Sammlungen von Gustav Meinecke: Aus dem Krevlenlande und Texanisches und Kreolisches (Berlin, Deutscher Kolonialverlag). Die Geschichten „Im Mississippisumpf" und „In der letzten Stunde" mit ihrer Szenerie lesen sich wie ein paar nachträgliche Kapitel zu Sealsfield, was für die Echtheit der Beobachtungen und Bilder spricht. „In der letzten Stunde" ist eine sehr lebendig erzählte Eifersuchtsgeschichte, in der der heißblutige Ehemann den ihm unbekannten Bruder seiner Frau für deren Liebhaber hält. Unter den Novellen der zweiten Sammlung bietet besonders „Nollins Plantage" eigen¬ tümliche Bilder aus dem Leben der seit der Aufhebung der Sklaverei herab¬ kommenden und verarmenden Pflanzer der Südstaaten der amerikanischen Union. Die Türkischen Geschichten von Rudolf Lindau (Berlin. F. Fon¬ tane u. Comp., 1897) sind nach der Versicherung des Verfassers türkischen Erzählern getreu nacherzählt. Ihr Realismus zeigt einen bemerkenswerten, aber keinen zu schroffen Abstand von den Märchenerfindungen, die wir aus „Tausend und eine Nacht" kennen. Denn nach wie vor entspricht der jähe Schicksalswechsel, bei dem nach Allahs Willen das Hohe erniedrigt, das Niedrige erhöht werden kann, dem Gläubigen aber alles zum Heil gereichen muß, der Phantasie der Orientalen. Es waltet in diesen Geschichten vor die Freude am Geschehen, über die Beweggründe „will," wie Lindau sagt, der Hörer selbst nachdenken. Die buntesten Abenteuer folgen rasch aufeinander, aber der Sinn für das Wirkliche und Wahrscheinliche verleugnet sich in Erzählungen wie „Der grüne Schleier," „Die schöne Dschanfcda," „Gülmes Besir," „Der kluge Toros Agda," „Der goldne Reif" keinen Augenblick. Welchen Anteil an der klaren Durchsichtigkeit dieser Novellen, an ihrem fesselnden Vortrag der deutsche Bearbeiter gehabt, vermögen wir nicht zu beurteilen. Jedenfalls haben die „Türkischen Geschichten," ganz abgesehen von den gänzlich unaufdringlichen Sittenschilderungen, schon durch ihre Erfindung einen Reiz, der auf zahlreiche Leser wirken wird. Eine besondre Gruppe nur selten erfreulicher Erscheinungen bilden die Novellen, die vom Feuilleton ausgehen, auf das Feuilleton zugeschnitten sind und sich in nicht eben geschmackvoller Übertragung der amerikanischen «dort storiös als „Kurzgeschichten" bezeichnen. An und für sich kann die Novelle, wo ihre besondre Aufgabe und ihre Form rein erfaßt wird, sehr wohl kurz sein, die ältern italienischen und französischen Novellen sind fast alle von sehr geringem Umfange. Aber um eine Wiederbelebung der ursprünglichsten Form,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/597>, abgerufen am 29.06.2024.