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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

Prachtuovelleu als gleichwertige geistige Nahrung zu sich genommen. Aber
aus der Masse jener Erzählungen sind doch nach und nach die wirklich
dichterischen und vollendeten immer deutlicher hervorgetreten, und eine Ent¬
wicklung, an der ältere Dichter, wie Ed. Mörike mit dem Meisterstück "Mozart
auf der Reise nach Prag," noch ebensowohl Anteil gehabt haben, wie jüngere
Talente ihre ersten Erfolge in ihr errungen haben, hat der deutschen Litteratur
einen Reichtum vorzüglicher Novellen zugeführt, der noch nicht einmal genügend
gewürdigt ist. Seitdem hat zwar die Novellistik immer weitere Ausbreitung
gewonnen -- die Masse der Zeitungsfeuilletons, der illustrirten Familieublätter
und der Kalender steigert den Bedarf, wie es scheint, unablässig --, doch läßt
sich leicht erkennen, daß in Bezug auf Lebensfülle und seelische Vertiefung, auf
Anmut und Frische der Darstellung, auf Mannichfaltigkeit und Schlagkraft der
Charakteristik ein gewisser Rückgang eingetreten ist. Die besten gehen noch zu
Dreivierteln von Schriftstellern aus, die man nach unserm Sprachgebrauch
schon zu den Alten rechnet, weil sie vor 1860 geboren sind, und auf viele der
besser", die von jüngern Verfassern herrühren, wirken die Muster der fünfziger
und sechziger Jahre ein. Unsre neueste litterarhistorisch-kritische Methode, die
überall nur litterarische Einflüsse, direkte litterarische Überlieferung und Nach¬
ahmung sieht, von der Wirkung der Natur und des Lebeus ans die Dichtung
möglichst gering denkt, hat begreiflicherweise wenig Neigung, dem eigentümlichen
Umstände nachzugehen, daß es seitab von der Nachbildung eine vollkommen
lebendige, unmittelbare Kunst giebt, die der Natur uachschafft, aber ebeu diese
Natur in den Schranken und gleichsam mit den Augen vorausgegaugner
Meister sieht. Und ebenso wenig läßt sich diese Art von Kritik angelegen sein,
die Einwirkungen der Lebensverhältnisse auf die Phantasie der Erzähler un¬
abhängig von deren litterarischen Vorbildern zu untersuchen und zu würdigen.
Aber auch wo dies ausnahmsweise geschieht, wird das Urteil so lauten müssen,
daß die jüngste Novellistik eine starke Herabstimmung des poetischen Grundtons
und der innern Freudigkeit gegenüber der Novellistik vergangner Tage zeigt.

An Neuigkeiten fehlt es, wie gesagt, nicht, und auch bunt genug nehmen
sich diese Neuigkeiten aus. Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Novelle im
ganzen von den modischen Strömungen: der naturalistischen Elendsschilderung
und der cynischen Behandlung aller erotischen Elemente freier gehalten hat
als der gleichzeitige Roman. Das verbürgt wenigstens im Durchschnitt größere
Frische der äußern Schilderung, größere Feinheit der Motive. Trotzdem sind
nur wenige Novellen dem berechtigten Maßstabe gewachsen, der von einer
vollendeten Novelle tiefere Lebenswahrheit und überzeugende Kraft fordert.

Der Aberglaube, daß diese Vorzüge, die der Erzähler haben und zeigen
muß, durch eine gewisse Art von Stoffen verbürgt sei, spukt noch stark in den
Köpfen einzelner Schriftsteller und auch eines Teils des Publikums. Die
Novelle aus den Alpen beruht, wo sie nicht zum Spott werden soll, auf


Neue Novellen

Prachtuovelleu als gleichwertige geistige Nahrung zu sich genommen. Aber
aus der Masse jener Erzählungen sind doch nach und nach die wirklich
dichterischen und vollendeten immer deutlicher hervorgetreten, und eine Ent¬
wicklung, an der ältere Dichter, wie Ed. Mörike mit dem Meisterstück „Mozart
auf der Reise nach Prag," noch ebensowohl Anteil gehabt haben, wie jüngere
Talente ihre ersten Erfolge in ihr errungen haben, hat der deutschen Litteratur
einen Reichtum vorzüglicher Novellen zugeführt, der noch nicht einmal genügend
gewürdigt ist. Seitdem hat zwar die Novellistik immer weitere Ausbreitung
gewonnen — die Masse der Zeitungsfeuilletons, der illustrirten Familieublätter
und der Kalender steigert den Bedarf, wie es scheint, unablässig —, doch läßt
sich leicht erkennen, daß in Bezug auf Lebensfülle und seelische Vertiefung, auf
Anmut und Frische der Darstellung, auf Mannichfaltigkeit und Schlagkraft der
Charakteristik ein gewisser Rückgang eingetreten ist. Die besten gehen noch zu
Dreivierteln von Schriftstellern aus, die man nach unserm Sprachgebrauch
schon zu den Alten rechnet, weil sie vor 1860 geboren sind, und auf viele der
besser», die von jüngern Verfassern herrühren, wirken die Muster der fünfziger
und sechziger Jahre ein. Unsre neueste litterarhistorisch-kritische Methode, die
überall nur litterarische Einflüsse, direkte litterarische Überlieferung und Nach¬
ahmung sieht, von der Wirkung der Natur und des Lebeus ans die Dichtung
möglichst gering denkt, hat begreiflicherweise wenig Neigung, dem eigentümlichen
Umstände nachzugehen, daß es seitab von der Nachbildung eine vollkommen
lebendige, unmittelbare Kunst giebt, die der Natur uachschafft, aber ebeu diese
Natur in den Schranken und gleichsam mit den Augen vorausgegaugner
Meister sieht. Und ebenso wenig läßt sich diese Art von Kritik angelegen sein,
die Einwirkungen der Lebensverhältnisse auf die Phantasie der Erzähler un¬
abhängig von deren litterarischen Vorbildern zu untersuchen und zu würdigen.
Aber auch wo dies ausnahmsweise geschieht, wird das Urteil so lauten müssen,
daß die jüngste Novellistik eine starke Herabstimmung des poetischen Grundtons
und der innern Freudigkeit gegenüber der Novellistik vergangner Tage zeigt.

An Neuigkeiten fehlt es, wie gesagt, nicht, und auch bunt genug nehmen
sich diese Neuigkeiten aus. Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Novelle im
ganzen von den modischen Strömungen: der naturalistischen Elendsschilderung
und der cynischen Behandlung aller erotischen Elemente freier gehalten hat
als der gleichzeitige Roman. Das verbürgt wenigstens im Durchschnitt größere
Frische der äußern Schilderung, größere Feinheit der Motive. Trotzdem sind
nur wenige Novellen dem berechtigten Maßstabe gewachsen, der von einer
vollendeten Novelle tiefere Lebenswahrheit und überzeugende Kraft fordert.

Der Aberglaube, daß diese Vorzüge, die der Erzähler haben und zeigen
muß, durch eine gewisse Art von Stoffen verbürgt sei, spukt noch stark in den
Köpfen einzelner Schriftsteller und auch eines Teils des Publikums. Die
Novelle aus den Alpen beruht, wo sie nicht zum Spott werden soll, auf


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[0594] Neue Novellen Prachtuovelleu als gleichwertige geistige Nahrung zu sich genommen. Aber aus der Masse jener Erzählungen sind doch nach und nach die wirklich dichterischen und vollendeten immer deutlicher hervorgetreten, und eine Ent¬ wicklung, an der ältere Dichter, wie Ed. Mörike mit dem Meisterstück „Mozart auf der Reise nach Prag," noch ebensowohl Anteil gehabt haben, wie jüngere Talente ihre ersten Erfolge in ihr errungen haben, hat der deutschen Litteratur einen Reichtum vorzüglicher Novellen zugeführt, der noch nicht einmal genügend gewürdigt ist. Seitdem hat zwar die Novellistik immer weitere Ausbreitung gewonnen — die Masse der Zeitungsfeuilletons, der illustrirten Familieublätter und der Kalender steigert den Bedarf, wie es scheint, unablässig —, doch läßt sich leicht erkennen, daß in Bezug auf Lebensfülle und seelische Vertiefung, auf Anmut und Frische der Darstellung, auf Mannichfaltigkeit und Schlagkraft der Charakteristik ein gewisser Rückgang eingetreten ist. Die besten gehen noch zu Dreivierteln von Schriftstellern aus, die man nach unserm Sprachgebrauch schon zu den Alten rechnet, weil sie vor 1860 geboren sind, und auf viele der besser», die von jüngern Verfassern herrühren, wirken die Muster der fünfziger und sechziger Jahre ein. Unsre neueste litterarhistorisch-kritische Methode, die überall nur litterarische Einflüsse, direkte litterarische Überlieferung und Nach¬ ahmung sieht, von der Wirkung der Natur und des Lebeus ans die Dichtung möglichst gering denkt, hat begreiflicherweise wenig Neigung, dem eigentümlichen Umstände nachzugehen, daß es seitab von der Nachbildung eine vollkommen lebendige, unmittelbare Kunst giebt, die der Natur uachschafft, aber ebeu diese Natur in den Schranken und gleichsam mit den Augen vorausgegaugner Meister sieht. Und ebenso wenig läßt sich diese Art von Kritik angelegen sein, die Einwirkungen der Lebensverhältnisse auf die Phantasie der Erzähler un¬ abhängig von deren litterarischen Vorbildern zu untersuchen und zu würdigen. Aber auch wo dies ausnahmsweise geschieht, wird das Urteil so lauten müssen, daß die jüngste Novellistik eine starke Herabstimmung des poetischen Grundtons und der innern Freudigkeit gegenüber der Novellistik vergangner Tage zeigt. An Neuigkeiten fehlt es, wie gesagt, nicht, und auch bunt genug nehmen sich diese Neuigkeiten aus. Es ist nicht zu verkennen, daß sich die Novelle im ganzen von den modischen Strömungen: der naturalistischen Elendsschilderung und der cynischen Behandlung aller erotischen Elemente freier gehalten hat als der gleichzeitige Roman. Das verbürgt wenigstens im Durchschnitt größere Frische der äußern Schilderung, größere Feinheit der Motive. Trotzdem sind nur wenige Novellen dem berechtigten Maßstabe gewachsen, der von einer vollendeten Novelle tiefere Lebenswahrheit und überzeugende Kraft fordert. Der Aberglaube, daß diese Vorzüge, die der Erzähler haben und zeigen muß, durch eine gewisse Art von Stoffen verbürgt sei, spukt noch stark in den Köpfen einzelner Schriftsteller und auch eines Teils des Publikums. Die Novelle aus den Alpen beruht, wo sie nicht zum Spott werden soll, auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/594>, abgerufen am 29.06.2024.