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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Kunstgenuß des Laien

die mit übernatürlicher Gewalt unsre Seele lösen und sie durch wunderbar
einschießende Erkenntnisse fördern. Die Kunst vor allem oder, im Sinne
Schillers, sie allein sührt diese Augenblicke, wenigstens die Möglichkeit, sie zu
erleben, für uns herbei; sie ist unsre Seelenlöserin. Sie mag, minder gewaltig
ergreifend, vielen liebenswürdig beschränkten Gemütern etwa die Trauer und
die Sorgen durch anmutige Zerstreuung verscheuchen: auch das ist dankenswert.
Heilig aber ist sie dem, dessen Grundtiefen sie erreicht und erschüttert. Dort ebeu
wirkt sie das eigentlich Lösende, uümlich das geistig Sieghafte, das elementar
Sittliche. Nicht indem sie etwa eine aufgeregte Schwärmerei anstiftete, nein,
sie ordnet, klärt und stärkt. Echte Kunst beruht stets auf vollendeter Har¬
monie, und von ihr, die unserm Wesen nie vollkommen beschieden ist, verleiht
sie uns, wenn wir sie mit Hingebung begreifen, einen Abglanz, eine Ahnung.
Und diese Ahnung beseligt. Indem wir ein wahres, in sich harmonisches
Kunstwerk mit verlangenden, weit geöffneten Organen in uns aufnehmen, indem
wir dadurch miterleben, was des Künstlers Phantasie aus der Summe seiner
Existenz übersinnlich und gewissermaßen unbewußt empfing und bewußt in die
sinnfälligen Formen umsetzte, erlangen wir Anteil an einem geistigen Leben,
das sich reiner und höher entwickelt, als es sich in dem engen Raume der Wirklich¬
keit zwischen den stoßenden, drängenden Körpern und körperhaften Interessen
abspielt; an einem idealen Leben, das, weniger abstrakt als mathematische
Wahrheiten, die ausschließlich den Verstand beschäftigen, nämlich unter Erregung
und Vermittlung der Sinne und also nnter Durchdringung unsers gesamten
sinnlich-geistigen Organismus, uns genußreich ahnen läßt, daß wir bedingten
Geschöpfe trotz allem Teilhaber und Mitglieder einer alles umfassenden, daher
nie zerspaltenen, einer einheitlichen und im höchsten Maße zusammenklingenden,
harmonischen Schöpfung sind. Diese Anschauung -- und in trcinseendentalen
Dingen wird die Ahnung, das unmittelbare Empfinden, der Glaube zur Er¬
kenntnis -- beseligt aber deshalb, weil sie uns mit Gott verbindet. Mag er
sich in welches Dogma er wolle verhüllen, mag er dem Resignirten jenseits
der Schranken des Verstehens als eine unfaßliche Existenz vorhanden sein, er
ist die Ewigkeit und die Wahrheit, deren Schleier zu lüften, mit der uns zu
vereinigen das göttliche Teil in uns unablässig beflissen ist oder wenigstens
sein sollte. Solange wir an unserm Körper haften, wird uns das zu erreichen
wohl nnr in frommem Selbstbetrug? beschieden sein: das Ewige bleibt uner¬
meßlich. Aber jede noch so beschränkte Offenbarung aus der übermenschlichen
Sphäre (und eine solche Offenbarung ist, im tiefsten Wesen gefaßt, die dnrch
Phantasie beseelte Kunst) trägt bei zu unsrer innern Vollendung; bringen wir
die Harmonie, die wir ahnend begreifen, soweit es uns möglich ist, in unser
sittliches Wollen und Handeln, so erweisen wir uns als würdige Verwalter
des Gutes, das uns das Schicksal, als es uns so viele andre Güter vorenthielt,
in der Kunst geschenkt hat.


Der Kunstgenuß des Laien

die mit übernatürlicher Gewalt unsre Seele lösen und sie durch wunderbar
einschießende Erkenntnisse fördern. Die Kunst vor allem oder, im Sinne
Schillers, sie allein sührt diese Augenblicke, wenigstens die Möglichkeit, sie zu
erleben, für uns herbei; sie ist unsre Seelenlöserin. Sie mag, minder gewaltig
ergreifend, vielen liebenswürdig beschränkten Gemütern etwa die Trauer und
die Sorgen durch anmutige Zerstreuung verscheuchen: auch das ist dankenswert.
Heilig aber ist sie dem, dessen Grundtiefen sie erreicht und erschüttert. Dort ebeu
wirkt sie das eigentlich Lösende, uümlich das geistig Sieghafte, das elementar
Sittliche. Nicht indem sie etwa eine aufgeregte Schwärmerei anstiftete, nein,
sie ordnet, klärt und stärkt. Echte Kunst beruht stets auf vollendeter Har¬
monie, und von ihr, die unserm Wesen nie vollkommen beschieden ist, verleiht
sie uns, wenn wir sie mit Hingebung begreifen, einen Abglanz, eine Ahnung.
Und diese Ahnung beseligt. Indem wir ein wahres, in sich harmonisches
Kunstwerk mit verlangenden, weit geöffneten Organen in uns aufnehmen, indem
wir dadurch miterleben, was des Künstlers Phantasie aus der Summe seiner
Existenz übersinnlich und gewissermaßen unbewußt empfing und bewußt in die
sinnfälligen Formen umsetzte, erlangen wir Anteil an einem geistigen Leben,
das sich reiner und höher entwickelt, als es sich in dem engen Raume der Wirklich¬
keit zwischen den stoßenden, drängenden Körpern und körperhaften Interessen
abspielt; an einem idealen Leben, das, weniger abstrakt als mathematische
Wahrheiten, die ausschließlich den Verstand beschäftigen, nämlich unter Erregung
und Vermittlung der Sinne und also nnter Durchdringung unsers gesamten
sinnlich-geistigen Organismus, uns genußreich ahnen läßt, daß wir bedingten
Geschöpfe trotz allem Teilhaber und Mitglieder einer alles umfassenden, daher
nie zerspaltenen, einer einheitlichen und im höchsten Maße zusammenklingenden,
harmonischen Schöpfung sind. Diese Anschauung — und in trcinseendentalen
Dingen wird die Ahnung, das unmittelbare Empfinden, der Glaube zur Er¬
kenntnis — beseligt aber deshalb, weil sie uns mit Gott verbindet. Mag er
sich in welches Dogma er wolle verhüllen, mag er dem Resignirten jenseits
der Schranken des Verstehens als eine unfaßliche Existenz vorhanden sein, er
ist die Ewigkeit und die Wahrheit, deren Schleier zu lüften, mit der uns zu
vereinigen das göttliche Teil in uns unablässig beflissen ist oder wenigstens
sein sollte. Solange wir an unserm Körper haften, wird uns das zu erreichen
wohl nnr in frommem Selbstbetrug? beschieden sein: das Ewige bleibt uner¬
meßlich. Aber jede noch so beschränkte Offenbarung aus der übermenschlichen
Sphäre (und eine solche Offenbarung ist, im tiefsten Wesen gefaßt, die dnrch
Phantasie beseelte Kunst) trägt bei zu unsrer innern Vollendung; bringen wir
die Harmonie, die wir ahnend begreifen, soweit es uns möglich ist, in unser
sittliches Wollen und Handeln, so erweisen wir uns als würdige Verwalter
des Gutes, das uns das Schicksal, als es uns so viele andre Güter vorenthielt,
in der Kunst geschenkt hat.


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[0402] Der Kunstgenuß des Laien die mit übernatürlicher Gewalt unsre Seele lösen und sie durch wunderbar einschießende Erkenntnisse fördern. Die Kunst vor allem oder, im Sinne Schillers, sie allein sührt diese Augenblicke, wenigstens die Möglichkeit, sie zu erleben, für uns herbei; sie ist unsre Seelenlöserin. Sie mag, minder gewaltig ergreifend, vielen liebenswürdig beschränkten Gemütern etwa die Trauer und die Sorgen durch anmutige Zerstreuung verscheuchen: auch das ist dankenswert. Heilig aber ist sie dem, dessen Grundtiefen sie erreicht und erschüttert. Dort ebeu wirkt sie das eigentlich Lösende, uümlich das geistig Sieghafte, das elementar Sittliche. Nicht indem sie etwa eine aufgeregte Schwärmerei anstiftete, nein, sie ordnet, klärt und stärkt. Echte Kunst beruht stets auf vollendeter Har¬ monie, und von ihr, die unserm Wesen nie vollkommen beschieden ist, verleiht sie uns, wenn wir sie mit Hingebung begreifen, einen Abglanz, eine Ahnung. Und diese Ahnung beseligt. Indem wir ein wahres, in sich harmonisches Kunstwerk mit verlangenden, weit geöffneten Organen in uns aufnehmen, indem wir dadurch miterleben, was des Künstlers Phantasie aus der Summe seiner Existenz übersinnlich und gewissermaßen unbewußt empfing und bewußt in die sinnfälligen Formen umsetzte, erlangen wir Anteil an einem geistigen Leben, das sich reiner und höher entwickelt, als es sich in dem engen Raume der Wirklich¬ keit zwischen den stoßenden, drängenden Körpern und körperhaften Interessen abspielt; an einem idealen Leben, das, weniger abstrakt als mathematische Wahrheiten, die ausschließlich den Verstand beschäftigen, nämlich unter Erregung und Vermittlung der Sinne und also nnter Durchdringung unsers gesamten sinnlich-geistigen Organismus, uns genußreich ahnen läßt, daß wir bedingten Geschöpfe trotz allem Teilhaber und Mitglieder einer alles umfassenden, daher nie zerspaltenen, einer einheitlichen und im höchsten Maße zusammenklingenden, harmonischen Schöpfung sind. Diese Anschauung — und in trcinseendentalen Dingen wird die Ahnung, das unmittelbare Empfinden, der Glaube zur Er¬ kenntnis — beseligt aber deshalb, weil sie uns mit Gott verbindet. Mag er sich in welches Dogma er wolle verhüllen, mag er dem Resignirten jenseits der Schranken des Verstehens als eine unfaßliche Existenz vorhanden sein, er ist die Ewigkeit und die Wahrheit, deren Schleier zu lüften, mit der uns zu vereinigen das göttliche Teil in uns unablässig beflissen ist oder wenigstens sein sollte. Solange wir an unserm Körper haften, wird uns das zu erreichen wohl nnr in frommem Selbstbetrug? beschieden sein: das Ewige bleibt uner¬ meßlich. Aber jede noch so beschränkte Offenbarung aus der übermenschlichen Sphäre (und eine solche Offenbarung ist, im tiefsten Wesen gefaßt, die dnrch Phantasie beseelte Kunst) trägt bei zu unsrer innern Vollendung; bringen wir die Harmonie, die wir ahnend begreifen, soweit es uns möglich ist, in unser sittliches Wollen und Handeln, so erweisen wir uns als würdige Verwalter des Gutes, das uns das Schicksal, als es uns so viele andre Güter vorenthielt, in der Kunst geschenkt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/402>, abgerufen am 26.06.2024.