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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht der Einzelnen

es den verschiednen "Systemen" der Wohlthätigkeit und Armenpflege gelungen
ist, es den Leuten abzugewöhnen, daß sie sich selbst um Wohl und Wehe des
armen Nächsten kümmern? Ist nicht diese Ordnung im Wohlthun, dieses
"karitative System," wie es die modernste Volkswirtschaft nennt, ein riesiger
Fortschritt? Ich bin wahrhaftig weit davon entfernt, dem gedankenlosen Bettel-
wcsen das Wort zu reden, ich begrüße alles, was dagegen geschieht, mit Freuden,
weil ich in dieser Züchtung von Bettelei und Vagabundentum im allgemeinen
eine Erscheinung von ganz entsetzlicher Lieblosigkeit erkannt habe, einen Aus¬
fluß vielfach des schlimmsten sozialen Hochmuts, der im Armen den Paria er¬
blickt, den das im Bettelbrote gereichte Gift gar nicht schlechter machen könne,
als er schon ist. Aber trotzdem halte ich das Aufsaugen des privaten, un¬
mittelbaren, persönlichen Wohlthuns dnrch die Vereine, wie es namentlich in den
Großstädten Platz gegriffen hat, für ein schweres soziales Unglück. Die freund¬
schaftliche, die nachbarliche Hilfe, die der Stärkere dem Schwächern, nicht immer
nur der Reiche dem Armem, und nicht immer in Geld und Geldeswert,
leistet, wo immer sich die Gelegenheit bietet, diese Freundschaftsdienste, bei denen
niemand an Almosen denkt, auch wenn dabei Leistung und Gegenleistung nicht
zu Buch gebracht wird, die hat man den Gebildeten und Besitzenden nur zu
erfolgreich als unpraktisch und schließlich gar als pflichtwidrig darzustellen
gewußt. Und nun, nachdem die Herzen beim wohllöblichen Publikum dein
Nächsten gegenüber zugeknöpft sind bis oben hinauf, nun denkt man dnrch die
großen Zahlen der "Helfer" und "Helferinnen," mit "Dezentralisation" und "In-
dividualisirung" in den "Systemen" den Fehler wieder gut machen zu können.
Viel Fleiß, viel Worte, auch viel Geld und viel Reklame hat man auf die
Sache verwendet, aber die hilfreiche Liebe, die vom Herzen kommt und allein
zum Herzen geht, hat man dadurch nicht zu ersetzen vermocht, der Riß zwischen
Arm und Reich, der Glaube an den unversöhnlichen Zwiespalt, an die unmög¬
liche Freundschaft zwischen Besitzenden und Besitzlosen ist größer statt kleiner
geworden. Ich freue mich auch über die freilich oft allzu geflissentlich an
die große Glocke gebrachte Zunahme der Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen einzelner
reicher Unternehmer; aber um so mehr bedaure ich, daß ihre versöhnende
Wirkung so häufig ganz vereitelt wird, weil die allein wirksame, persönliche,
unmittelbare Freundlichkeit fehlt, die auch hier bei weitem nicht immer große
Kapitalien und Stiftungen braucht und noch weniger immer mit Geldaufwand
abgemacht werden kann. Wie wenig die Millionen der Arbeiterversicherung,
dieser Verkörperung des "praktischen Christentums" in besondern: Sinne, die
Nächstenliebe, um die es sich heute handelt, zu fördern vermocht hat, so hoch
diese Staatsleistung an sich anch zu schätzen ist, weiß jeder, der die Augen offen
hat. Wohin wir eben sehen im Reiche, überall hemmt, lahmt, hindert etwas
die Wirkungen der sozialen Reformen und Bestrebungen der Gegenwart, überall
sehlt der Hauptfaktor, ohne den die Rechnung nicht stimmt und nicht


Die Pflicht der Einzelnen

es den verschiednen „Systemen" der Wohlthätigkeit und Armenpflege gelungen
ist, es den Leuten abzugewöhnen, daß sie sich selbst um Wohl und Wehe des
armen Nächsten kümmern? Ist nicht diese Ordnung im Wohlthun, dieses
„karitative System," wie es die modernste Volkswirtschaft nennt, ein riesiger
Fortschritt? Ich bin wahrhaftig weit davon entfernt, dem gedankenlosen Bettel-
wcsen das Wort zu reden, ich begrüße alles, was dagegen geschieht, mit Freuden,
weil ich in dieser Züchtung von Bettelei und Vagabundentum im allgemeinen
eine Erscheinung von ganz entsetzlicher Lieblosigkeit erkannt habe, einen Aus¬
fluß vielfach des schlimmsten sozialen Hochmuts, der im Armen den Paria er¬
blickt, den das im Bettelbrote gereichte Gift gar nicht schlechter machen könne,
als er schon ist. Aber trotzdem halte ich das Aufsaugen des privaten, un¬
mittelbaren, persönlichen Wohlthuns dnrch die Vereine, wie es namentlich in den
Großstädten Platz gegriffen hat, für ein schweres soziales Unglück. Die freund¬
schaftliche, die nachbarliche Hilfe, die der Stärkere dem Schwächern, nicht immer
nur der Reiche dem Armem, und nicht immer in Geld und Geldeswert,
leistet, wo immer sich die Gelegenheit bietet, diese Freundschaftsdienste, bei denen
niemand an Almosen denkt, auch wenn dabei Leistung und Gegenleistung nicht
zu Buch gebracht wird, die hat man den Gebildeten und Besitzenden nur zu
erfolgreich als unpraktisch und schließlich gar als pflichtwidrig darzustellen
gewußt. Und nun, nachdem die Herzen beim wohllöblichen Publikum dein
Nächsten gegenüber zugeknöpft sind bis oben hinauf, nun denkt man dnrch die
großen Zahlen der „Helfer" und „Helferinnen," mit „Dezentralisation" und „In-
dividualisirung" in den „Systemen" den Fehler wieder gut machen zu können.
Viel Fleiß, viel Worte, auch viel Geld und viel Reklame hat man auf die
Sache verwendet, aber die hilfreiche Liebe, die vom Herzen kommt und allein
zum Herzen geht, hat man dadurch nicht zu ersetzen vermocht, der Riß zwischen
Arm und Reich, der Glaube an den unversöhnlichen Zwiespalt, an die unmög¬
liche Freundschaft zwischen Besitzenden und Besitzlosen ist größer statt kleiner
geworden. Ich freue mich auch über die freilich oft allzu geflissentlich an
die große Glocke gebrachte Zunahme der Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen einzelner
reicher Unternehmer; aber um so mehr bedaure ich, daß ihre versöhnende
Wirkung so häufig ganz vereitelt wird, weil die allein wirksame, persönliche,
unmittelbare Freundlichkeit fehlt, die auch hier bei weitem nicht immer große
Kapitalien und Stiftungen braucht und noch weniger immer mit Geldaufwand
abgemacht werden kann. Wie wenig die Millionen der Arbeiterversicherung,
dieser Verkörperung des „praktischen Christentums" in besondern: Sinne, die
Nächstenliebe, um die es sich heute handelt, zu fördern vermocht hat, so hoch
diese Staatsleistung an sich anch zu schätzen ist, weiß jeder, der die Augen offen
hat. Wohin wir eben sehen im Reiche, überall hemmt, lahmt, hindert etwas
die Wirkungen der sozialen Reformen und Bestrebungen der Gegenwart, überall
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/196>, abgerufen am 20.10.2024.