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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht der Einzelnen

der Gesetzgebung ringende Kampf der wirtschaftlichen Sonderinteressen, das
Haß und Neid, Selbstgerechtigkeit und Anmaßung fördernde Treiben im sozial¬
politischen Parteileben, dazu die Unduldsamkeit und Herrschsucht in den kirch¬
lichen und religiösen Bewegungen stehen im schroffsten Gegensatz zu dieser
Aufgabe. Man eifert gegen Mcmchestertum und Individualismus, aber die
Lieblosigkeit im Einzelnen, die alles stört und alles verdirbt, tastet man nicht
an; man preist die Liebe zum Ganzen, zum Staate, zur Zunft, man fordert
die Liebe zu Kaiser und Reich und hofft davon die Rettung aus allen Nöten,
aber die Liebe zum Nächsten, die allen, vom Kaiser bis zum Bettelmann, am
nächsten liegt, viel näher als die Liebe zum Ganzen, diese Liebe vom Nächsten
zum Nächsten, die allem vorangeht und für alles Voraussetzung ist, die ist
und bleibt eine alte abgethane Sache, mit der die moderne Volkswirtschaft und
Sozialpolitik gar nichts zu thun hat.

"statistisch" läßt es sich natürlich nicht nachweisen, auch nicht mit Ur¬
kunden belegen, wenn ich der alten Schule vorwerfe, den Einzelnen die Über¬
zeugung beigebracht zu haben, daß sie im wirtschaftlichen Leben nur die
Selbstsucht als Triebfeder anzusehen hätten, wenn ich ihr die Hauptschuld
beimesse an dem tiefen Verfall des Pflichtgefühls im Volke. Es kann
dabei immer nur von persönlicher Erfahrung und Beurteilung des Erlebten
die Rede sein, die der Leser nach dem, was er selbst wahrgenommen hat, prüfen
möge. Nur auf einen Gewährsmann will ich mich berufen, auf Albert Lange,
der über das, woran ich hier erinnern möchte, vor mehr als zwanzig Jahren
folgendes geschrieben hat: "Die Idee, daß es ein besondres Lebcnsgebiet gebe
für das Handeln nach Interessen und wieder ein andres für die Übung der
Tugend, gehört noch heute zu den Lieblingsideen des oberflächlichen Liberalis¬
mus, und in weit verbreiteten populären Schriften, wie Schutzes Arbeiter¬
katechismus, wird sie ganz unverhohlen gepredigt. Ja man hat gar eine Art
Pflichtenlehre daraus gemacht, die man im täglichen Leben viel häufiger hört
als in der Litteratur. Wer es unterläßt, eine ihm zustehende Schuldforderung
nötigenfalls mit aller Strenge des Gesetzes einzutreiben, der muß entweder
ein reicher Mann sein, der sich dergleichen erlauben kann, oder er unterliegt
dem schärfsten Tadel. Dieser Tadel richtet sich nicht nur gegen seinen Ver¬
stand, gegen seine Charakterschwäche oder überflüssige Gutmütigkeit, sondern
geradezu gegen seine Sittlichkeit. Er ist ein leichtsinniger, nachlässiger Mensch,
der seine Interessen nicht pflichtmäßig wahrnimmt, und wenn er Frau und
Kinder hat, so ist er, auch ohne daß diese schon Mangel empfinden müßten,
ein gewissenloser Hausvater." Und was sagte Schulze-Delitzsch in dem an¬
geführten Buche? "Nur in dem Bedürfnis, lehrte er, liegt der Sporn, die
Trägheit zu überwinden und den Menschen zur Anstrengung zu vermögen.
Aber auch so thut er nicht gern mehr, als er muß, obschon er in Beziehung
auf seine Bedürfnisse den brennenden Wunsch hegt, sie so vollkommen als


Grenzbotim I 1397 L4
Die Pflicht der Einzelnen

der Gesetzgebung ringende Kampf der wirtschaftlichen Sonderinteressen, das
Haß und Neid, Selbstgerechtigkeit und Anmaßung fördernde Treiben im sozial¬
politischen Parteileben, dazu die Unduldsamkeit und Herrschsucht in den kirch¬
lichen und religiösen Bewegungen stehen im schroffsten Gegensatz zu dieser
Aufgabe. Man eifert gegen Mcmchestertum und Individualismus, aber die
Lieblosigkeit im Einzelnen, die alles stört und alles verdirbt, tastet man nicht
an; man preist die Liebe zum Ganzen, zum Staate, zur Zunft, man fordert
die Liebe zu Kaiser und Reich und hofft davon die Rettung aus allen Nöten,
aber die Liebe zum Nächsten, die allen, vom Kaiser bis zum Bettelmann, am
nächsten liegt, viel näher als die Liebe zum Ganzen, diese Liebe vom Nächsten
zum Nächsten, die allem vorangeht und für alles Voraussetzung ist, die ist
und bleibt eine alte abgethane Sache, mit der die moderne Volkswirtschaft und
Sozialpolitik gar nichts zu thun hat.

„statistisch" läßt es sich natürlich nicht nachweisen, auch nicht mit Ur¬
kunden belegen, wenn ich der alten Schule vorwerfe, den Einzelnen die Über¬
zeugung beigebracht zu haben, daß sie im wirtschaftlichen Leben nur die
Selbstsucht als Triebfeder anzusehen hätten, wenn ich ihr die Hauptschuld
beimesse an dem tiefen Verfall des Pflichtgefühls im Volke. Es kann
dabei immer nur von persönlicher Erfahrung und Beurteilung des Erlebten
die Rede sein, die der Leser nach dem, was er selbst wahrgenommen hat, prüfen
möge. Nur auf einen Gewährsmann will ich mich berufen, auf Albert Lange,
der über das, woran ich hier erinnern möchte, vor mehr als zwanzig Jahren
folgendes geschrieben hat: „Die Idee, daß es ein besondres Lebcnsgebiet gebe
für das Handeln nach Interessen und wieder ein andres für die Übung der
Tugend, gehört noch heute zu den Lieblingsideen des oberflächlichen Liberalis¬
mus, und in weit verbreiteten populären Schriften, wie Schutzes Arbeiter¬
katechismus, wird sie ganz unverhohlen gepredigt. Ja man hat gar eine Art
Pflichtenlehre daraus gemacht, die man im täglichen Leben viel häufiger hört
als in der Litteratur. Wer es unterläßt, eine ihm zustehende Schuldforderung
nötigenfalls mit aller Strenge des Gesetzes einzutreiben, der muß entweder
ein reicher Mann sein, der sich dergleichen erlauben kann, oder er unterliegt
dem schärfsten Tadel. Dieser Tadel richtet sich nicht nur gegen seinen Ver¬
stand, gegen seine Charakterschwäche oder überflüssige Gutmütigkeit, sondern
geradezu gegen seine Sittlichkeit. Er ist ein leichtsinniger, nachlässiger Mensch,
der seine Interessen nicht pflichtmäßig wahrnimmt, und wenn er Frau und
Kinder hat, so ist er, auch ohne daß diese schon Mangel empfinden müßten,
ein gewissenloser Hausvater." Und was sagte Schulze-Delitzsch in dem an¬
geführten Buche? „Nur in dem Bedürfnis, lehrte er, liegt der Sporn, die
Trägheit zu überwinden und den Menschen zur Anstrengung zu vermögen.
Aber auch so thut er nicht gern mehr, als er muß, obschon er in Beziehung
auf seine Bedürfnisse den brennenden Wunsch hegt, sie so vollkommen als


Grenzbotim I 1397 L4
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[0193] Die Pflicht der Einzelnen der Gesetzgebung ringende Kampf der wirtschaftlichen Sonderinteressen, das Haß und Neid, Selbstgerechtigkeit und Anmaßung fördernde Treiben im sozial¬ politischen Parteileben, dazu die Unduldsamkeit und Herrschsucht in den kirch¬ lichen und religiösen Bewegungen stehen im schroffsten Gegensatz zu dieser Aufgabe. Man eifert gegen Mcmchestertum und Individualismus, aber die Lieblosigkeit im Einzelnen, die alles stört und alles verdirbt, tastet man nicht an; man preist die Liebe zum Ganzen, zum Staate, zur Zunft, man fordert die Liebe zu Kaiser und Reich und hofft davon die Rettung aus allen Nöten, aber die Liebe zum Nächsten, die allen, vom Kaiser bis zum Bettelmann, am nächsten liegt, viel näher als die Liebe zum Ganzen, diese Liebe vom Nächsten zum Nächsten, die allem vorangeht und für alles Voraussetzung ist, die ist und bleibt eine alte abgethane Sache, mit der die moderne Volkswirtschaft und Sozialpolitik gar nichts zu thun hat. „statistisch" läßt es sich natürlich nicht nachweisen, auch nicht mit Ur¬ kunden belegen, wenn ich der alten Schule vorwerfe, den Einzelnen die Über¬ zeugung beigebracht zu haben, daß sie im wirtschaftlichen Leben nur die Selbstsucht als Triebfeder anzusehen hätten, wenn ich ihr die Hauptschuld beimesse an dem tiefen Verfall des Pflichtgefühls im Volke. Es kann dabei immer nur von persönlicher Erfahrung und Beurteilung des Erlebten die Rede sein, die der Leser nach dem, was er selbst wahrgenommen hat, prüfen möge. Nur auf einen Gewährsmann will ich mich berufen, auf Albert Lange, der über das, woran ich hier erinnern möchte, vor mehr als zwanzig Jahren folgendes geschrieben hat: „Die Idee, daß es ein besondres Lebcnsgebiet gebe für das Handeln nach Interessen und wieder ein andres für die Übung der Tugend, gehört noch heute zu den Lieblingsideen des oberflächlichen Liberalis¬ mus, und in weit verbreiteten populären Schriften, wie Schutzes Arbeiter¬ katechismus, wird sie ganz unverhohlen gepredigt. Ja man hat gar eine Art Pflichtenlehre daraus gemacht, die man im täglichen Leben viel häufiger hört als in der Litteratur. Wer es unterläßt, eine ihm zustehende Schuldforderung nötigenfalls mit aller Strenge des Gesetzes einzutreiben, der muß entweder ein reicher Mann sein, der sich dergleichen erlauben kann, oder er unterliegt dem schärfsten Tadel. Dieser Tadel richtet sich nicht nur gegen seinen Ver¬ stand, gegen seine Charakterschwäche oder überflüssige Gutmütigkeit, sondern geradezu gegen seine Sittlichkeit. Er ist ein leichtsinniger, nachlässiger Mensch, der seine Interessen nicht pflichtmäßig wahrnimmt, und wenn er Frau und Kinder hat, so ist er, auch ohne daß diese schon Mangel empfinden müßten, ein gewissenloser Hausvater." Und was sagte Schulze-Delitzsch in dem an¬ geführten Buche? „Nur in dem Bedürfnis, lehrte er, liegt der Sporn, die Trägheit zu überwinden und den Menschen zur Anstrengung zu vermögen. Aber auch so thut er nicht gern mehr, als er muß, obschon er in Beziehung auf seine Bedürfnisse den brennenden Wunsch hegt, sie so vollkommen als Grenzbotim I 1397 L4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/193>, abgerufen am 18.06.2024.