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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Innere Politik oder äußere?

Menschen brotlos. Die Folge einer Revolution kann niemals das Glück der
Ärmsten, sondern nur Hunger und Elend sein. Die Sozialisten sagen: Das
wirtschaftliche System von heute, das auf dem engen Boden Deutschlands
fünfzig Millionen Menschen ernährt, ist plump, unsicher, fehlerhaft. Mag sein.
Aber wenn es verbessert werden soll, so kann das nur durch anhaltende, mühe¬
volle Kulturarbeit geschehen, nicht durch eine Revolution. So denken wir.

Noch ein zweites Wort ist es, das die sozialdemokratischen Köpfe heiß
macht: das Wort "Kapitalismus," oder, schärfer zu bestimmen, was gemeint ist:
Privatkapital. Auch dieses Wort sollte eine Losung sein, die jene alten
Sozialdemokraten und uns scheidet wie zwei feindliche Heere. Aber es will
uns scheinen, als ob viele von uns Jungen nicht ganz frei wären von jenem
echt sozialdemokratischen Haß gegen das Privatkapital. Von solchen wird der
Großbesitzer abgemalt als ein verstockter Sünder, der zwar die Macht hätte,
allen Menschen zur Glückseligkeit zu verhelfen, aber aus Bosheit vorzieht, alle
im Elend zu halten. Es wäre ein Unglück für das deutsche Volk, wenn die
Führer der neuesten sozialen Bewegung blind würden gegen die Grenzen des
Möglichen und wie die Sozialdemokraten mehr versprachen, als sie halten
können. Wer sich zum Volkstribunen macht, der muß genau das Gefühl der
Verantwortlichkeit für die Erfüllbarkeit seiner Versprechungen haben, wie ein
Minister auch, sonst gehört er nicht unter die Regierer, sondern unter die Ver¬
führer des Volks. Will die neue Partei ebenso wie die alte ihre Kessel mit
dem Neid und der Begehrlichkeit der Kleinen heizen, so werden ihr freilich
die Kohlen nicht ausgehen, aber sie wird eine wilde Fahrt machen.

Da nun alle Tage reichlich von Sozialisten aller Art gegen das Privat¬
kapital geschrieben wird und ihm seine Sünden vorgehalten werden, so wollen
wir einmal von unserm Standpunkt aus für das Privatkapital schreiben und
sowohl seine Verdienste als auch seine Ohnmacht dagegen halten. Von unserm
Standpunkt aus; das soll heißen: von dem Standpunkte des wissenschaftlichen
Sozialismus aus, der fagt: Bloß die Arbeit ist es, die Werte schafft. Aber
sie erhält nur einen kleinen Teil des Geschaffnen, sagen die Gegner, das übrige
zahlt sie als Tribut an die, die durch allerlei Rechtstitel im Besitze der Arbeits¬
mittel oder, allgemeiner gesprochen, der Arbeitsgelegenheit sind. Zugegeben,
aber nun kommt der Sprung aus der Wissenschaft in die Politik, aus den
Thatsachen in die Utopie. Der Agitator fährt fort: Wenn dieser Tribut nicht
wäre, so brauchtet ihr nicht so furchtbar zu arbeiten, ihr brauchtet nicht zu
hungern, ihr würdet nicht krank werden, ihr könntet eure Kinder ehrlich er¬
ziehen, euer Elend wäre vorbei. Liegt es nicht nahe, erst einmal die Höhe
jenes Tributs an die Kapitalisten zu überschlagen, ehe man es unternimmt,
daraus die Kosten der allgemeinen Glückseligkeit zu bestreikn?

In der "Zeit," dem Organ der neuesten sozialistischen Bewegung, lesen
wir: 75 Prozent aller erwerbsfähigen Deutschen haben ein Einkommen unter


Innere Politik oder äußere?

Menschen brotlos. Die Folge einer Revolution kann niemals das Glück der
Ärmsten, sondern nur Hunger und Elend sein. Die Sozialisten sagen: Das
wirtschaftliche System von heute, das auf dem engen Boden Deutschlands
fünfzig Millionen Menschen ernährt, ist plump, unsicher, fehlerhaft. Mag sein.
Aber wenn es verbessert werden soll, so kann das nur durch anhaltende, mühe¬
volle Kulturarbeit geschehen, nicht durch eine Revolution. So denken wir.

Noch ein zweites Wort ist es, das die sozialdemokratischen Köpfe heiß
macht: das Wort „Kapitalismus," oder, schärfer zu bestimmen, was gemeint ist:
Privatkapital. Auch dieses Wort sollte eine Losung sein, die jene alten
Sozialdemokraten und uns scheidet wie zwei feindliche Heere. Aber es will
uns scheinen, als ob viele von uns Jungen nicht ganz frei wären von jenem
echt sozialdemokratischen Haß gegen das Privatkapital. Von solchen wird der
Großbesitzer abgemalt als ein verstockter Sünder, der zwar die Macht hätte,
allen Menschen zur Glückseligkeit zu verhelfen, aber aus Bosheit vorzieht, alle
im Elend zu halten. Es wäre ein Unglück für das deutsche Volk, wenn die
Führer der neuesten sozialen Bewegung blind würden gegen die Grenzen des
Möglichen und wie die Sozialdemokraten mehr versprachen, als sie halten
können. Wer sich zum Volkstribunen macht, der muß genau das Gefühl der
Verantwortlichkeit für die Erfüllbarkeit seiner Versprechungen haben, wie ein
Minister auch, sonst gehört er nicht unter die Regierer, sondern unter die Ver¬
führer des Volks. Will die neue Partei ebenso wie die alte ihre Kessel mit
dem Neid und der Begehrlichkeit der Kleinen heizen, so werden ihr freilich
die Kohlen nicht ausgehen, aber sie wird eine wilde Fahrt machen.

Da nun alle Tage reichlich von Sozialisten aller Art gegen das Privat¬
kapital geschrieben wird und ihm seine Sünden vorgehalten werden, so wollen
wir einmal von unserm Standpunkt aus für das Privatkapital schreiben und
sowohl seine Verdienste als auch seine Ohnmacht dagegen halten. Von unserm
Standpunkt aus; das soll heißen: von dem Standpunkte des wissenschaftlichen
Sozialismus aus, der fagt: Bloß die Arbeit ist es, die Werte schafft. Aber
sie erhält nur einen kleinen Teil des Geschaffnen, sagen die Gegner, das übrige
zahlt sie als Tribut an die, die durch allerlei Rechtstitel im Besitze der Arbeits¬
mittel oder, allgemeiner gesprochen, der Arbeitsgelegenheit sind. Zugegeben,
aber nun kommt der Sprung aus der Wissenschaft in die Politik, aus den
Thatsachen in die Utopie. Der Agitator fährt fort: Wenn dieser Tribut nicht
wäre, so brauchtet ihr nicht so furchtbar zu arbeiten, ihr brauchtet nicht zu
hungern, ihr würdet nicht krank werden, ihr könntet eure Kinder ehrlich er¬
ziehen, euer Elend wäre vorbei. Liegt es nicht nahe, erst einmal die Höhe
jenes Tributs an die Kapitalisten zu überschlagen, ehe man es unternimmt,
daraus die Kosten der allgemeinen Glückseligkeit zu bestreikn?

In der „Zeit," dem Organ der neuesten sozialistischen Bewegung, lesen
wir: 75 Prozent aller erwerbsfähigen Deutschen haben ein Einkommen unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/10>, abgerufen am 19.10.2024.