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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Der deutsch-französische Litterarvertrag

vorüberführt und Heines "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" singen will,
so darf das nur geschehen nach vorheriger Genehmigung des Autors und des
Komponisten. Es werden demnach, da eine Verhandlung mit beiden oder deren
Verlegern unmöglich oder zu umständlich sein würde, zur Erleichterung Automaten
auf dem Dampfer aufgestellt werden müssen, aus denen man gegen EinWurf eines
Geldstücks die Genehmigung Heines und Silchers oder ihrer Rechtsnachfolger
erhalten kann. Dann erst kann der Gesang losgehen, salls man mittlerweile
noch nicht am Loreleifelsen vorbeigefahren ist.

Wenn nun auch so weitgehende Bestrebungen nur von phantastischen Köpfen
ausgeheckt und verfochten werden können, so ist doch klar, daß jede über die
schon vorhandnen und nicht gerade liberalen Zugeständnisse hinausgehende
Beschränkung der Zugänglichkeit litterarischer Werke eine Schädigung wichtiger
Vildungsinteressen herbeiführt. Mich mit der Frage nach ihrer allgemeinen
Bedeutung zu beschäftigen, ist hier nicht der Ort. Wohl aber habe ich es für
angemessen gehalten, hier auf eine verhängnisvolle Wirkung der neuern Bnch-
händlerbestrebungen auf die Schule hinzuweisen. Es würde mir sehr ver¬
dienstlich erscheinen, wenn aus den Kreisen der Schule ein Versuch zur Abwehr
der wirklich großen Gefahr für den Unterricht hervorginge. Ich bitte also,
folgende Erwägungen mit mir zu machen.

Der französische Unterricht an unsern höhern Schulen hat in den letzten
zehn Jahren besonders in zwei Richtungen sehr große Fortschritte gemacht.
Einmal ist die Überzeugung durchgedrungen, daß das Französische und das
Englische lebende Sprachen sind, und daß darum neben ihrer theoretischen
Kenntnis auch ihre praktische Handhabung erlernt werden muß; aus dieser
Überzeugung sind die immer weiter greifenden Änderungen in der Lehrmethode
erwachsen. Sodann aber hat sich der Grundsatz Bahn gebrochen, daß der
Unterricht den Zweck habe, den deutschen Schüler, soweit es möglich ist, in
die Kenntnis des gegenwärtigen Lebens der Franzosen und Engländer ein¬
zuführen; das Mittel dazu ist aber einzig und allein die Lektüre, und so
kommt es, daß man zunächst die Lesestoffe beschränkte oder ganz beseitigte, die
aus andern Gebieten als denen des französischen Lebens genommen waren: die
deutsche Schule hat das Zeitalter überwunden, da Tslemaque und Charles XII.
herrschten. Aber wir können an der Hand der Jahresberichte der höhern Lehr¬
anstalten auch feststellen, daß die großen französischen Schriftsteller des sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts überall zurückweichen und an ihre Stelle
die Werke des neunzehnten Jahrhunderts treten. Das Bestreben, moderne
französische Schriften geschichtlicher, belletristischer, und wo es möglich und
wünschenswert ist, auch wohl naturwissenschaftlicher Art in die Schule ein¬
zuführen, ist seit etwa zehn Jahren allenthalben bemerkbar; es hat seinen Aus¬
druck und seine Begründung gefunden in Vorträgen, Programmabhandlungen,
Zeitschriften und hat nun auch durch die Lehrpläne mancher deutschen Staaten,


Grenzboten IV 1896 79
Der deutsch-französische Litterarvertrag

vorüberführt und Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" singen will,
so darf das nur geschehen nach vorheriger Genehmigung des Autors und des
Komponisten. Es werden demnach, da eine Verhandlung mit beiden oder deren
Verlegern unmöglich oder zu umständlich sein würde, zur Erleichterung Automaten
auf dem Dampfer aufgestellt werden müssen, aus denen man gegen EinWurf eines
Geldstücks die Genehmigung Heines und Silchers oder ihrer Rechtsnachfolger
erhalten kann. Dann erst kann der Gesang losgehen, salls man mittlerweile
noch nicht am Loreleifelsen vorbeigefahren ist.

Wenn nun auch so weitgehende Bestrebungen nur von phantastischen Köpfen
ausgeheckt und verfochten werden können, so ist doch klar, daß jede über die
schon vorhandnen und nicht gerade liberalen Zugeständnisse hinausgehende
Beschränkung der Zugänglichkeit litterarischer Werke eine Schädigung wichtiger
Vildungsinteressen herbeiführt. Mich mit der Frage nach ihrer allgemeinen
Bedeutung zu beschäftigen, ist hier nicht der Ort. Wohl aber habe ich es für
angemessen gehalten, hier auf eine verhängnisvolle Wirkung der neuern Bnch-
händlerbestrebungen auf die Schule hinzuweisen. Es würde mir sehr ver¬
dienstlich erscheinen, wenn aus den Kreisen der Schule ein Versuch zur Abwehr
der wirklich großen Gefahr für den Unterricht hervorginge. Ich bitte also,
folgende Erwägungen mit mir zu machen.

Der französische Unterricht an unsern höhern Schulen hat in den letzten
zehn Jahren besonders in zwei Richtungen sehr große Fortschritte gemacht.
Einmal ist die Überzeugung durchgedrungen, daß das Französische und das
Englische lebende Sprachen sind, und daß darum neben ihrer theoretischen
Kenntnis auch ihre praktische Handhabung erlernt werden muß; aus dieser
Überzeugung sind die immer weiter greifenden Änderungen in der Lehrmethode
erwachsen. Sodann aber hat sich der Grundsatz Bahn gebrochen, daß der
Unterricht den Zweck habe, den deutschen Schüler, soweit es möglich ist, in
die Kenntnis des gegenwärtigen Lebens der Franzosen und Engländer ein¬
zuführen; das Mittel dazu ist aber einzig und allein die Lektüre, und so
kommt es, daß man zunächst die Lesestoffe beschränkte oder ganz beseitigte, die
aus andern Gebieten als denen des französischen Lebens genommen waren: die
deutsche Schule hat das Zeitalter überwunden, da Tslemaque und Charles XII.
herrschten. Aber wir können an der Hand der Jahresberichte der höhern Lehr¬
anstalten auch feststellen, daß die großen französischen Schriftsteller des sieb¬
zehnten und achtzehnten Jahrhunderts überall zurückweichen und an ihre Stelle
die Werke des neunzehnten Jahrhunderts treten. Das Bestreben, moderne
französische Schriften geschichtlicher, belletristischer, und wo es möglich und
wünschenswert ist, auch wohl naturwissenschaftlicher Art in die Schule ein¬
zuführen, ist seit etwa zehn Jahren allenthalben bemerkbar; es hat seinen Aus¬
druck und seine Begründung gefunden in Vorträgen, Programmabhandlungen,
Zeitschriften und hat nun auch durch die Lehrpläne mancher deutschen Staaten,


Grenzboten IV 1896 79
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[0633] Der deutsch-französische Litterarvertrag vorüberführt und Heines „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" singen will, so darf das nur geschehen nach vorheriger Genehmigung des Autors und des Komponisten. Es werden demnach, da eine Verhandlung mit beiden oder deren Verlegern unmöglich oder zu umständlich sein würde, zur Erleichterung Automaten auf dem Dampfer aufgestellt werden müssen, aus denen man gegen EinWurf eines Geldstücks die Genehmigung Heines und Silchers oder ihrer Rechtsnachfolger erhalten kann. Dann erst kann der Gesang losgehen, salls man mittlerweile noch nicht am Loreleifelsen vorbeigefahren ist. Wenn nun auch so weitgehende Bestrebungen nur von phantastischen Köpfen ausgeheckt und verfochten werden können, so ist doch klar, daß jede über die schon vorhandnen und nicht gerade liberalen Zugeständnisse hinausgehende Beschränkung der Zugänglichkeit litterarischer Werke eine Schädigung wichtiger Vildungsinteressen herbeiführt. Mich mit der Frage nach ihrer allgemeinen Bedeutung zu beschäftigen, ist hier nicht der Ort. Wohl aber habe ich es für angemessen gehalten, hier auf eine verhängnisvolle Wirkung der neuern Bnch- händlerbestrebungen auf die Schule hinzuweisen. Es würde mir sehr ver¬ dienstlich erscheinen, wenn aus den Kreisen der Schule ein Versuch zur Abwehr der wirklich großen Gefahr für den Unterricht hervorginge. Ich bitte also, folgende Erwägungen mit mir zu machen. Der französische Unterricht an unsern höhern Schulen hat in den letzten zehn Jahren besonders in zwei Richtungen sehr große Fortschritte gemacht. Einmal ist die Überzeugung durchgedrungen, daß das Französische und das Englische lebende Sprachen sind, und daß darum neben ihrer theoretischen Kenntnis auch ihre praktische Handhabung erlernt werden muß; aus dieser Überzeugung sind die immer weiter greifenden Änderungen in der Lehrmethode erwachsen. Sodann aber hat sich der Grundsatz Bahn gebrochen, daß der Unterricht den Zweck habe, den deutschen Schüler, soweit es möglich ist, in die Kenntnis des gegenwärtigen Lebens der Franzosen und Engländer ein¬ zuführen; das Mittel dazu ist aber einzig und allein die Lektüre, und so kommt es, daß man zunächst die Lesestoffe beschränkte oder ganz beseitigte, die aus andern Gebieten als denen des französischen Lebens genommen waren: die deutsche Schule hat das Zeitalter überwunden, da Tslemaque und Charles XII. herrschten. Aber wir können an der Hand der Jahresberichte der höhern Lehr¬ anstalten auch feststellen, daß die großen französischen Schriftsteller des sieb¬ zehnten und achtzehnten Jahrhunderts überall zurückweichen und an ihre Stelle die Werke des neunzehnten Jahrhunderts treten. Das Bestreben, moderne französische Schriften geschichtlicher, belletristischer, und wo es möglich und wünschenswert ist, auch wohl naturwissenschaftlicher Art in die Schule ein¬ zuführen, ist seit etwa zehn Jahren allenthalben bemerkbar; es hat seinen Aus¬ druck und seine Begründung gefunden in Vorträgen, Programmabhandlungen, Zeitschriften und hat nun auch durch die Lehrpläne mancher deutschen Staaten, Grenzboten IV 1896 79

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/633>, abgerufen am 06.01.2025.