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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Der Staat als (Organismus

der Beschränktheit des Raumes, den unsre Erde der Menschheit bietet. Sie
muß auf diesen paar Erdteilen und Inseln immer wieder in sich selbst zurück¬
kehren und sich selbst begegnen. Um Raum zu gewinnen, hat eine Zivilisation
die andre verdrängt, zerstört und sich an ihre Stelle gesetzt. Diese Raum-
beschränkung hat die Leistungen der Völker immer weiter emporgetrieben, so
wie in der ganzen Lebensentwicklung auf der Erde die in der Enge des Erd¬
raumes gegebne Zusammendrängung der Unterschiede und Gegensätze mit ihren
unfehlbaren, auslesenden Wechselwirkungen gleichsam das Schwungrad war,
das die fortschreitende Bewegung niemals zur Ruhe kommen ließ. Es sind
nicht bloß die Unterschiede der guten und schlechten Lagen, die hier eingreifen,
sondern die scheinbar so kahle Zahl von 9200000 Quadratmeilen, die die
Erdoberfläche der Lebensentwicklung darbietet. Das möchten wir besonders
zu dem sonst so anregenden Abschnitt "Der Kampf um den Raum" im zweiten
Bande hervorheben. Man wird von Schäffle nicht verlangen, daß er in der
Soziologie eine treibende Kraft isolire, die die Biologen in ihrer so durch¬
greifenden Einwirkung auf alle Schöpfungsakte noch nicht zu unterscheiden
gewußt haben. Wir bedauern nur, daß er sich so die ungemein anziehenden
Parallelen zwischen der Raumwirkung hier und dort hat entgehen lassen müssen.
Was der Kampf um Raum in dem Kampf ums Dasein bedeutet, wird eines
Tages genauer bestimmt werden. Die andre Naumfrage der Schöpfung, die
in der Möglichkeit der Wanderung und räumlichen Absonderung der Organismen
und der damit angebahnten Neubildung von Arten beruht, ist von Moritz
Wagner vor Jahren in seinem klassischen Schriftchen "Das Migrationsgesetz
der Organismen" (1873) behandelt und, wie wir glauben, gelöst worden. Wir
vermissen sie in der Aufzählung der charakteristischen Merkmale der Selektions¬
vorgänge und in der Formulirung des Gesetzes der sozialen Entwicklung, das
in der fortschreitenden Gesellschaftsbildung (Zivilisation) das höchste Ergebnis
der vervollkommnenden Auslese der menschlichen Daseinskämpfe, d. h. aller
Daseins- und Jnteresfentampfe sieht. Es leuchtet zwar durch manche Be¬
merkungen hindurch, auch in dem prächtigen Schlußkapitel: "Das Entwicklungs¬
gesetz .und die Möglichkeit ethischer Weltanschauung," die die räumlichen Be¬
dingungen der Gesellschaften und des Staates streifen, kommt aber vor dem
Gesetz der Auslese im Kampf ums Dasein nicht ganz zur Geltung. Und doch
können auch im Völkerleben die Gegensätze, aus denen Streit und Fortschritt
entsteht, erst in der räumlichen Zusammenfassung und Absonderung erzeugt und
forterhalten und in ihr erst die Waffen zum Daseinskampfe geschärft werden.




Der Staat als (Organismus

der Beschränktheit des Raumes, den unsre Erde der Menschheit bietet. Sie
muß auf diesen paar Erdteilen und Inseln immer wieder in sich selbst zurück¬
kehren und sich selbst begegnen. Um Raum zu gewinnen, hat eine Zivilisation
die andre verdrängt, zerstört und sich an ihre Stelle gesetzt. Diese Raum-
beschränkung hat die Leistungen der Völker immer weiter emporgetrieben, so
wie in der ganzen Lebensentwicklung auf der Erde die in der Enge des Erd¬
raumes gegebne Zusammendrängung der Unterschiede und Gegensätze mit ihren
unfehlbaren, auslesenden Wechselwirkungen gleichsam das Schwungrad war,
das die fortschreitende Bewegung niemals zur Ruhe kommen ließ. Es sind
nicht bloß die Unterschiede der guten und schlechten Lagen, die hier eingreifen,
sondern die scheinbar so kahle Zahl von 9200000 Quadratmeilen, die die
Erdoberfläche der Lebensentwicklung darbietet. Das möchten wir besonders
zu dem sonst so anregenden Abschnitt „Der Kampf um den Raum" im zweiten
Bande hervorheben. Man wird von Schäffle nicht verlangen, daß er in der
Soziologie eine treibende Kraft isolire, die die Biologen in ihrer so durch¬
greifenden Einwirkung auf alle Schöpfungsakte noch nicht zu unterscheiden
gewußt haben. Wir bedauern nur, daß er sich so die ungemein anziehenden
Parallelen zwischen der Raumwirkung hier und dort hat entgehen lassen müssen.
Was der Kampf um Raum in dem Kampf ums Dasein bedeutet, wird eines
Tages genauer bestimmt werden. Die andre Naumfrage der Schöpfung, die
in der Möglichkeit der Wanderung und räumlichen Absonderung der Organismen
und der damit angebahnten Neubildung von Arten beruht, ist von Moritz
Wagner vor Jahren in seinem klassischen Schriftchen „Das Migrationsgesetz
der Organismen" (1873) behandelt und, wie wir glauben, gelöst worden. Wir
vermissen sie in der Aufzählung der charakteristischen Merkmale der Selektions¬
vorgänge und in der Formulirung des Gesetzes der sozialen Entwicklung, das
in der fortschreitenden Gesellschaftsbildung (Zivilisation) das höchste Ergebnis
der vervollkommnenden Auslese der menschlichen Daseinskämpfe, d. h. aller
Daseins- und Jnteresfentampfe sieht. Es leuchtet zwar durch manche Be¬
merkungen hindurch, auch in dem prächtigen Schlußkapitel: „Das Entwicklungs¬
gesetz .und die Möglichkeit ethischer Weltanschauung," die die räumlichen Be¬
dingungen der Gesellschaften und des Staates streifen, kommt aber vor dem
Gesetz der Auslese im Kampf ums Dasein nicht ganz zur Geltung. Und doch
können auch im Völkerleben die Gegensätze, aus denen Streit und Fortschritt
entsteht, erst in der räumlichen Zusammenfassung und Absonderung erzeugt und
forterhalten und in ihr erst die Waffen zum Daseinskampfe geschärft werden.




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[0631] Der Staat als (Organismus der Beschränktheit des Raumes, den unsre Erde der Menschheit bietet. Sie muß auf diesen paar Erdteilen und Inseln immer wieder in sich selbst zurück¬ kehren und sich selbst begegnen. Um Raum zu gewinnen, hat eine Zivilisation die andre verdrängt, zerstört und sich an ihre Stelle gesetzt. Diese Raum- beschränkung hat die Leistungen der Völker immer weiter emporgetrieben, so wie in der ganzen Lebensentwicklung auf der Erde die in der Enge des Erd¬ raumes gegebne Zusammendrängung der Unterschiede und Gegensätze mit ihren unfehlbaren, auslesenden Wechselwirkungen gleichsam das Schwungrad war, das die fortschreitende Bewegung niemals zur Ruhe kommen ließ. Es sind nicht bloß die Unterschiede der guten und schlechten Lagen, die hier eingreifen, sondern die scheinbar so kahle Zahl von 9200000 Quadratmeilen, die die Erdoberfläche der Lebensentwicklung darbietet. Das möchten wir besonders zu dem sonst so anregenden Abschnitt „Der Kampf um den Raum" im zweiten Bande hervorheben. Man wird von Schäffle nicht verlangen, daß er in der Soziologie eine treibende Kraft isolire, die die Biologen in ihrer so durch¬ greifenden Einwirkung auf alle Schöpfungsakte noch nicht zu unterscheiden gewußt haben. Wir bedauern nur, daß er sich so die ungemein anziehenden Parallelen zwischen der Raumwirkung hier und dort hat entgehen lassen müssen. Was der Kampf um Raum in dem Kampf ums Dasein bedeutet, wird eines Tages genauer bestimmt werden. Die andre Naumfrage der Schöpfung, die in der Möglichkeit der Wanderung und räumlichen Absonderung der Organismen und der damit angebahnten Neubildung von Arten beruht, ist von Moritz Wagner vor Jahren in seinem klassischen Schriftchen „Das Migrationsgesetz der Organismen" (1873) behandelt und, wie wir glauben, gelöst worden. Wir vermissen sie in der Aufzählung der charakteristischen Merkmale der Selektions¬ vorgänge und in der Formulirung des Gesetzes der sozialen Entwicklung, das in der fortschreitenden Gesellschaftsbildung (Zivilisation) das höchste Ergebnis der vervollkommnenden Auslese der menschlichen Daseinskämpfe, d. h. aller Daseins- und Jnteresfentampfe sieht. Es leuchtet zwar durch manche Be¬ merkungen hindurch, auch in dem prächtigen Schlußkapitel: „Das Entwicklungs¬ gesetz .und die Möglichkeit ethischer Weltanschauung," die die räumlichen Be¬ dingungen der Gesellschaften und des Staates streifen, kommt aber vor dem Gesetz der Auslese im Kampf ums Dasein nicht ganz zur Geltung. Und doch können auch im Völkerleben die Gegensätze, aus denen Streit und Fortschritt entsteht, erst in der räumlichen Zusammenfassung und Absonderung erzeugt und forterhalten und in ihr erst die Waffen zum Daseinskampfe geschärft werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/631>, abgerufen am 06.01.2025.