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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

600000 Überschüssige -- nach zehn, zwanzig Jahren werden es eine Million
sein -- in die Industrie. Der Export hat unsrer Annahme nach aufgehört
oder sich wenigstens stark vermindert*) und die landwirtschaftliche Bevölkerung
soll nun erstens die Masse von Jndustrieerzeugnissen ausnehmen, die bisher
exportirt worden ist, und zweitens den von den alljährlich hinzukommenden
Hunderttausenden Industriearbeitern zu produzirenden Überschuß. Wie könnte
sie, selbst wenn sie das Geld dazu hätte, diese Massen von Jndustrieplunder
verdauen! Und wenn sie nun gar, statt zu wachsen, zurückginge, was bei zu¬
nehmendem Maschinenwesen sehr wahrscheinlich ist! Wenn der Rückgang
höchstens durch die wachsende Zahl der Versicherungsschreiber und dergleichen
unproduktiver Arbeiter gedeckt würde, deren Erhaltung die Last der produktiven
Arbeiter erschwert!

Die zweite Bahn, die uns offen steht, wäre die Fortentwicklung unsrer
Exportindustrie (die eine entsprechende Steigerung der Einfuhr zur Voraus¬
setzung hat) und der überseeischen Kolonisation nach dem Vorbilde Englands.
Dabei wird zu erwägen sein, welches Wagnis es für einen Binnenlandsstaat
wäre, in einer Zeit allgemeiner Konkurrenz, und wo sich die besten Kolonial¬
gebiete in dem festen Besitz zivilisirter Staaten befinden, unser Dasein auf eine
Entwicklung zu gründen, die der Inselstaat England zu einer Zeit eingeschlagen
hat, wo er ohne Konkurrenz dastand, um schließlich bei dem Zustande anzu¬
langen, den wir beschrieben haben.

Als dritte Bahn bleibt die Expansion der Deutschen nach Osten und Süd¬
osten offen, die seit langem von einer Reihe hervorragender Patrioten em¬
pfohlen worden ist, über die wir uns aber mit Rücksicht auf früher Gesagtes
diesmal nicht weiter auslassen. Daß, wie auch die Entscheidung über unsre
Zukunft fallen mag, vor der Hand der Abfluß eines Teiles unsers Bevölkerungs¬
überschusses in überseeische Länder seinen natürlichen Lauf nehmen muß, daß
es unsre Pflicht ist, den Strom der Auswandrer soviel wie möglich in Gegenden
zu leiten, wo sie ihr Volkstum bewahren und in einer die Kraft des Mutter¬
landes stärkenden Wechselwirkung mit diesem bleiben können, und daß wir
einer zu ihrem Schutze hinreichenden Flotte bedürfen, das alles versteht sich
von selbst.





Abgesehen von der grundsätzlichen Verwerfung der Handelsverträge würde der Export
in demselben Maße wie die Einfuhr ausländischer Lebensmittel und Rohstoffe von selbst zurück¬
gehen, weil Getreide, Vieh, Wein, Holz, Leder einen wesentlichen Bestandteil der Warenmasse
ausmachen, mit der die andern Völker die ihnen von uns gelieferten Jndustriewaren bezahlen;
Edelmetalle und Kolonialwaren reichen, namentlich seitdem wir unsern Zucker nicht bloß selbst
bereiten, sondern damit noch andre Nationen versorgen, nicht hin.
Englische Zustände

600000 Überschüssige — nach zehn, zwanzig Jahren werden es eine Million
sein — in die Industrie. Der Export hat unsrer Annahme nach aufgehört
oder sich wenigstens stark vermindert*) und die landwirtschaftliche Bevölkerung
soll nun erstens die Masse von Jndustrieerzeugnissen ausnehmen, die bisher
exportirt worden ist, und zweitens den von den alljährlich hinzukommenden
Hunderttausenden Industriearbeitern zu produzirenden Überschuß. Wie könnte
sie, selbst wenn sie das Geld dazu hätte, diese Massen von Jndustrieplunder
verdauen! Und wenn sie nun gar, statt zu wachsen, zurückginge, was bei zu¬
nehmendem Maschinenwesen sehr wahrscheinlich ist! Wenn der Rückgang
höchstens durch die wachsende Zahl der Versicherungsschreiber und dergleichen
unproduktiver Arbeiter gedeckt würde, deren Erhaltung die Last der produktiven
Arbeiter erschwert!

Die zweite Bahn, die uns offen steht, wäre die Fortentwicklung unsrer
Exportindustrie (die eine entsprechende Steigerung der Einfuhr zur Voraus¬
setzung hat) und der überseeischen Kolonisation nach dem Vorbilde Englands.
Dabei wird zu erwägen sein, welches Wagnis es für einen Binnenlandsstaat
wäre, in einer Zeit allgemeiner Konkurrenz, und wo sich die besten Kolonial¬
gebiete in dem festen Besitz zivilisirter Staaten befinden, unser Dasein auf eine
Entwicklung zu gründen, die der Inselstaat England zu einer Zeit eingeschlagen
hat, wo er ohne Konkurrenz dastand, um schließlich bei dem Zustande anzu¬
langen, den wir beschrieben haben.

Als dritte Bahn bleibt die Expansion der Deutschen nach Osten und Süd¬
osten offen, die seit langem von einer Reihe hervorragender Patrioten em¬
pfohlen worden ist, über die wir uns aber mit Rücksicht auf früher Gesagtes
diesmal nicht weiter auslassen. Daß, wie auch die Entscheidung über unsre
Zukunft fallen mag, vor der Hand der Abfluß eines Teiles unsers Bevölkerungs¬
überschusses in überseeische Länder seinen natürlichen Lauf nehmen muß, daß
es unsre Pflicht ist, den Strom der Auswandrer soviel wie möglich in Gegenden
zu leiten, wo sie ihr Volkstum bewahren und in einer die Kraft des Mutter¬
landes stärkenden Wechselwirkung mit diesem bleiben können, und daß wir
einer zu ihrem Schutze hinreichenden Flotte bedürfen, das alles versteht sich
von selbst.





Abgesehen von der grundsätzlichen Verwerfung der Handelsverträge würde der Export
in demselben Maße wie die Einfuhr ausländischer Lebensmittel und Rohstoffe von selbst zurück¬
gehen, weil Getreide, Vieh, Wein, Holz, Leder einen wesentlichen Bestandteil der Warenmasse
ausmachen, mit der die andern Völker die ihnen von uns gelieferten Jndustriewaren bezahlen;
Edelmetalle und Kolonialwaren reichen, namentlich seitdem wir unsern Zucker nicht bloß selbst
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[0621] Englische Zustände 600000 Überschüssige — nach zehn, zwanzig Jahren werden es eine Million sein — in die Industrie. Der Export hat unsrer Annahme nach aufgehört oder sich wenigstens stark vermindert*) und die landwirtschaftliche Bevölkerung soll nun erstens die Masse von Jndustrieerzeugnissen ausnehmen, die bisher exportirt worden ist, und zweitens den von den alljährlich hinzukommenden Hunderttausenden Industriearbeitern zu produzirenden Überschuß. Wie könnte sie, selbst wenn sie das Geld dazu hätte, diese Massen von Jndustrieplunder verdauen! Und wenn sie nun gar, statt zu wachsen, zurückginge, was bei zu¬ nehmendem Maschinenwesen sehr wahrscheinlich ist! Wenn der Rückgang höchstens durch die wachsende Zahl der Versicherungsschreiber und dergleichen unproduktiver Arbeiter gedeckt würde, deren Erhaltung die Last der produktiven Arbeiter erschwert! Die zweite Bahn, die uns offen steht, wäre die Fortentwicklung unsrer Exportindustrie (die eine entsprechende Steigerung der Einfuhr zur Voraus¬ setzung hat) und der überseeischen Kolonisation nach dem Vorbilde Englands. Dabei wird zu erwägen sein, welches Wagnis es für einen Binnenlandsstaat wäre, in einer Zeit allgemeiner Konkurrenz, und wo sich die besten Kolonial¬ gebiete in dem festen Besitz zivilisirter Staaten befinden, unser Dasein auf eine Entwicklung zu gründen, die der Inselstaat England zu einer Zeit eingeschlagen hat, wo er ohne Konkurrenz dastand, um schließlich bei dem Zustande anzu¬ langen, den wir beschrieben haben. Als dritte Bahn bleibt die Expansion der Deutschen nach Osten und Süd¬ osten offen, die seit langem von einer Reihe hervorragender Patrioten em¬ pfohlen worden ist, über die wir uns aber mit Rücksicht auf früher Gesagtes diesmal nicht weiter auslassen. Daß, wie auch die Entscheidung über unsre Zukunft fallen mag, vor der Hand der Abfluß eines Teiles unsers Bevölkerungs¬ überschusses in überseeische Länder seinen natürlichen Lauf nehmen muß, daß es unsre Pflicht ist, den Strom der Auswandrer soviel wie möglich in Gegenden zu leiten, wo sie ihr Volkstum bewahren und in einer die Kraft des Mutter¬ landes stärkenden Wechselwirkung mit diesem bleiben können, und daß wir einer zu ihrem Schutze hinreichenden Flotte bedürfen, das alles versteht sich von selbst. Abgesehen von der grundsätzlichen Verwerfung der Handelsverträge würde der Export in demselben Maße wie die Einfuhr ausländischer Lebensmittel und Rohstoffe von selbst zurück¬ gehen, weil Getreide, Vieh, Wein, Holz, Leder einen wesentlichen Bestandteil der Warenmasse ausmachen, mit der die andern Völker die ihnen von uns gelieferten Jndustriewaren bezahlen; Edelmetalle und Kolonialwaren reichen, namentlich seitdem wir unsern Zucker nicht bloß selbst bereiten, sondern damit noch andre Nationen versorgen, nicht hin.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/621>, abgerufen am 06.01.2025.