Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches der Rekrutenaushebungen der letzten Jahre bekannt geworden, und beide zusammen An der grausamen Thatsache, daß die Menschen gezwungen sind, um den Daß Herr Klapper, ohne gleich bei deu ersten Sätzen niedergelacht zu werden, Maßgebliches und Unmaßgebliches der Rekrutenaushebungen der letzten Jahre bekannt geworden, und beide zusammen An der grausamen Thatsache, daß die Menschen gezwungen sind, um den Daß Herr Klapper, ohne gleich bei deu ersten Sätzen niedergelacht zu werden, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223642"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_150" prev="#ID_149"> der Rekrutenaushebungen der letzten Jahre bekannt geworden, und beide zusammen<lb/> besagen, daß die Verkümmerung unsers Volkes infolge mangelnden Lebensspielraums<lb/> unaufhaltsam fortschreitet. Die landwirtschaftliche Bevölkerung wächst nicht mehr;<lb/> aller Zuwachs geht in die Industrie und in die unproduktiven Stände über; immer<lb/> mehr Frauen sehen sich zum Broterwerb gezwungen, weil immer weniger Männer<lb/> eine Familie zu ernähren imstande sind, und von je hundert Rekruten waren im<lb/> Jahre 1894 nur noch 56.21, im Jahre 1895 nur noch 54,50 vollkommen dienst¬<lb/> tauglich, wobei zu beachten ist, daß die Anforderungen an die Diensttauglichkeit,<lb/> namentlich an das Maß, in den letzten Jahrzehnten schon herabgesetzt worden<lb/> sind. Da es nun ebeu die gewerbliche Arbeit, die städtischen Wohnungsverhältnisse<lb/> und die Erschwerung der Lebensbedingungen sind, was die fortschreitende Ver¬<lb/> kümmerung bewirkt, alles dieses aber mit jeder weitern Volkszunahme bei gleich¬<lb/> bleibendem Nahrungsspielraum gesteigert wird, so ist damit das Schicksal unsers<lb/> Volks besiegelt, wenn nicht — ein zum Zweck großartiger Kolonisation geführter<lb/> Krieg dieser langsamen Tötung großer Volksmassen durch Verkümmerung ein Ende<lb/> macht. Die Schlesische Zeitung schließt ihre Betrachtungen über die Tanglichteits-<lb/> statistik mit den Worten, die Zahlen zeigten „die durchschnittliche Wehrhaftigkeit<lb/> des deutschen Nachwuchses noch immer in recht günstigem Lichte." Noch immer!<lb/> Damit ist alles gesagt.</p><lb/> <p xml:id="ID_151"> An der grausamen Thatsache, daß die Menschen gezwungen sind, um den<lb/> Nahrungsspielraum mit einander zu kämpfen, vermögen alle Friedeusligisten und<lb/> sonstigen Utopisten der Welt nicht das mindeste zu ändern. Wohl aber können<lb/> Kolonialkriege zur Ausdehnung des Nahrungsspielraunis durch das Interesse mäch¬<lb/> tiger Personen verhindert werden, und ein solches Interesse ist das agrarische, dessen<lb/> Vertreter in Budapest über die Frage beraten daheim wie können wir den Gctreide-<lb/> preis heben? Dn Brotteuruug Volksuot bedeutet, so müssen die Agrarier Gegner<lb/> einer Kolonialpolitik sein, die kriegerische Verwicklungen zur Folge haben könnte,<lb/> und da sie Männer vou Einfluß sind, so ist ihr Kongreß nicht gleich dem der Fran<lb/> Suttner eine Kinderei, sondern ein wirklicher Friedenskongreß. Die nächste Wirkung<lb/> der Vvltszuuahme in einem abgesperrten Lande ist Steigerung der Getreidepreise,<lb/> des Bodenwerts, der Grundrente, also Bereicherung der ländlichen Grundbesitzer<lb/> und Not der nichtgrnndbesitzenden Bevölkerung. Der heutige Weltverkehr verhütet<lb/> diese Wirkung nicht ganz, aber doch bis zu einem gewissen Grade; er mildert die<lb/> Not der Besitzlosen und unterwirft einen Teil der Grundbesitzer der Wirkung des<lb/> Gesetzes, wonach jede Vergrößerung der Erbenzahl den Anteil eines jeden am Volks¬<lb/> erbe verkleinern muß. Hätten wir in den letzten Jahren nicht so niedrige Getreide¬<lb/> preise gehabt, so hätten wir ein paar hundert neue Gefängnisse bauen müssen. Die<lb/> Grundbesitzer aber wollen sich die Verminderung ihrer Portion nicht gefallen lassen;<lb/> niedriger Arbeitslohn und hoher Getreidepreis ist das Ziel, nach dem sie streben,<lb/> und darum dürfen sie eine Politik, die den Abfluß eines Teils der Bevölkerung,<lb/> Erhöhung des Arbeitslohnes, Erniedrigung der Getreidepreise, des Bodeuwerts und<lb/> der Grundrente zur Folge haben müßte, nicht nnslvmmen lassen. Daher wünschen<lb/> sie möglichste wirtschaftliche Absperrung der Staaten bei gleichzeitiger inniger politischer<lb/> Befreundung der Regierungen und der herrschenden Klassen, und so sind denn die<lb/> ungarischen, die deutscheu, die russischen, die französischen Agrarier ein Herz und<lb/> eine Seele.</p><lb/> <p xml:id="ID_152" next="#ID_153"> Daß Herr Klapper, ohne gleich bei deu ersten Sätzen niedergelacht zu werden,<lb/> vor einer Versammlung hochgebildeter Männer seine für die allerdümmsten Bauern<lb/> berechnete Lehre vortragen konnte, wonach nicht die sogenannte Überproduktion,<lb/> sondern die Börse an den niedrigen Getreidepreisen schuld sein soll, könnte man</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0058]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
der Rekrutenaushebungen der letzten Jahre bekannt geworden, und beide zusammen
besagen, daß die Verkümmerung unsers Volkes infolge mangelnden Lebensspielraums
unaufhaltsam fortschreitet. Die landwirtschaftliche Bevölkerung wächst nicht mehr;
aller Zuwachs geht in die Industrie und in die unproduktiven Stände über; immer
mehr Frauen sehen sich zum Broterwerb gezwungen, weil immer weniger Männer
eine Familie zu ernähren imstande sind, und von je hundert Rekruten waren im
Jahre 1894 nur noch 56.21, im Jahre 1895 nur noch 54,50 vollkommen dienst¬
tauglich, wobei zu beachten ist, daß die Anforderungen an die Diensttauglichkeit,
namentlich an das Maß, in den letzten Jahrzehnten schon herabgesetzt worden
sind. Da es nun ebeu die gewerbliche Arbeit, die städtischen Wohnungsverhältnisse
und die Erschwerung der Lebensbedingungen sind, was die fortschreitende Ver¬
kümmerung bewirkt, alles dieses aber mit jeder weitern Volkszunahme bei gleich¬
bleibendem Nahrungsspielraum gesteigert wird, so ist damit das Schicksal unsers
Volks besiegelt, wenn nicht — ein zum Zweck großartiger Kolonisation geführter
Krieg dieser langsamen Tötung großer Volksmassen durch Verkümmerung ein Ende
macht. Die Schlesische Zeitung schließt ihre Betrachtungen über die Tanglichteits-
statistik mit den Worten, die Zahlen zeigten „die durchschnittliche Wehrhaftigkeit
des deutschen Nachwuchses noch immer in recht günstigem Lichte." Noch immer!
Damit ist alles gesagt.
An der grausamen Thatsache, daß die Menschen gezwungen sind, um den
Nahrungsspielraum mit einander zu kämpfen, vermögen alle Friedeusligisten und
sonstigen Utopisten der Welt nicht das mindeste zu ändern. Wohl aber können
Kolonialkriege zur Ausdehnung des Nahrungsspielraunis durch das Interesse mäch¬
tiger Personen verhindert werden, und ein solches Interesse ist das agrarische, dessen
Vertreter in Budapest über die Frage beraten daheim wie können wir den Gctreide-
preis heben? Dn Brotteuruug Volksuot bedeutet, so müssen die Agrarier Gegner
einer Kolonialpolitik sein, die kriegerische Verwicklungen zur Folge haben könnte,
und da sie Männer vou Einfluß sind, so ist ihr Kongreß nicht gleich dem der Fran
Suttner eine Kinderei, sondern ein wirklicher Friedenskongreß. Die nächste Wirkung
der Vvltszuuahme in einem abgesperrten Lande ist Steigerung der Getreidepreise,
des Bodenwerts, der Grundrente, also Bereicherung der ländlichen Grundbesitzer
und Not der nichtgrnndbesitzenden Bevölkerung. Der heutige Weltverkehr verhütet
diese Wirkung nicht ganz, aber doch bis zu einem gewissen Grade; er mildert die
Not der Besitzlosen und unterwirft einen Teil der Grundbesitzer der Wirkung des
Gesetzes, wonach jede Vergrößerung der Erbenzahl den Anteil eines jeden am Volks¬
erbe verkleinern muß. Hätten wir in den letzten Jahren nicht so niedrige Getreide¬
preise gehabt, so hätten wir ein paar hundert neue Gefängnisse bauen müssen. Die
Grundbesitzer aber wollen sich die Verminderung ihrer Portion nicht gefallen lassen;
niedriger Arbeitslohn und hoher Getreidepreis ist das Ziel, nach dem sie streben,
und darum dürfen sie eine Politik, die den Abfluß eines Teils der Bevölkerung,
Erhöhung des Arbeitslohnes, Erniedrigung der Getreidepreise, des Bodeuwerts und
der Grundrente zur Folge haben müßte, nicht nnslvmmen lassen. Daher wünschen
sie möglichste wirtschaftliche Absperrung der Staaten bei gleichzeitiger inniger politischer
Befreundung der Regierungen und der herrschenden Klassen, und so sind denn die
ungarischen, die deutscheu, die russischen, die französischen Agrarier ein Herz und
eine Seele.
Daß Herr Klapper, ohne gleich bei deu ersten Sätzen niedergelacht zu werden,
vor einer Versammlung hochgebildeter Männer seine für die allerdümmsten Bauern
berechnete Lehre vortragen konnte, wonach nicht die sogenannte Überproduktion,
sondern die Börse an den niedrigen Getreidepreisen schuld sein soll, könnte man
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