Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien nur möglich war. Was wollen alle unliebsamen Kritiken gegen die Thatsache Der dritte Punkt, an dem wir Groves Geschichtsauffassung nicht verstehen, Es ließen sich an Grove angeknüpft noch sehr viele Beethvvenfragen er¬ Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien nur möglich war. Was wollen alle unliebsamen Kritiken gegen die Thatsache Der dritte Punkt, an dem wir Groves Geschichtsauffassung nicht verstehen, Es ließen sich an Grove angeknüpft noch sehr viele Beethvvenfragen er¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0056" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223640"/> <fw type="header" place="top"> Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien</fw><lb/> <p xml:id="ID_145" prev="#ID_144"> nur möglich war. Was wollen alle unliebsamen Kritiken gegen die Thatsache<lb/> bedeuten, daß seine Kunst schnell durchdrang, daß man ihm Opfer brachte, die<lb/> keinem vorher gebracht worden waren. Beethoven zuliebe wandelte man die<lb/> alten Dilettantenorchester um; er war der erste, dessen Werke sofort oder bald<lb/> nach der Aufführung in Partitur gedruckt wurden. Und was waren das für<lb/> fremdartige, anspruchsvolle Werke für eine Generation, die von Haydn und<lb/> Mozart kam! Sie wären von einem kleinen Geschlecht bestimmt abgelehnt<lb/> worden. Und waren die Bedenken, die gegen Beethoven geäußert wurden,<lb/> wirklich alle nur beschränkt und unbegründet? Auch heute noch sind uns die<lb/> Schwärmer verdächtig, die nicht sehen und nicht zugeben, daß die Kunst<lb/> Beethovens ihre barocken Elemente hat. Es ist ferner kein Zufall, daß die<lb/> Untersuchungen über die Grenzen der Instrumentalmusik erst nach Beethoven<lb/> beginnen. Sie ruhen heute; aber daß es sich nur um einen Waffenstillstand<lb/> handelt, verrät Groves Stoßseufzer (S. 157): „Hätte doch Beethoven gesagt,<lb/> was er mit seinen Sinfonien meint!"</p><lb/> <p xml:id="ID_146"> Der dritte Punkt, an dem wir Groves Geschichtsauffassung nicht verstehen,<lb/> betrifft die Nachfolge Beethovens. Es ist im hohen Grade ehrbar, daß unsre<lb/> Sinfoniker — es handelt sich in der Hauptsache nur um die deutschen — die<lb/> Becthvvensche Sinfonie zum Muster genommen haben, es hat das neben sehr<lb/> viel Schwulst auch manche gute Folge gehabt. Aber weit entfernt davon, daß<lb/> ihn einer erreicht Hütte: wir glauben, daß Beethoven, wenn er heute wieder¬<lb/> käme, selbst nicht imstande wäre, wieder Beethovensche Sinfonien zu schreiben.<lb/> Denn der Geist, aus dem sie geboren sind, ist zu einem wesentlichen Teil der<lb/> Geist ihrer Zeit, der Zeit Kants und Schillers, einer Zeit voll hoher Ideen<lb/> und Absichten. Und dadurch trafen diese Tone in das Herz und die Seele<lb/> unsrer Vorfahren noch anders als auf unsre heutige Konzertwelt. In ihr ist<lb/> durchschnittlich nur eine Minderzahl fähig, Beethoven wirklich zu verstehen, und<lb/> nimmermehr können seine Sinfonien Volksmusik werden. Was kann für den<lb/> bloßen Lippendienst, der gegenwärtig so vielfach mit Beethoven getrieben wird,<lb/> bezeichnender sein, als daß Grove diesem Meister Sinfoniker wie Raff und<lb/> Tschaikowsth nahe stellt! Auch Johannes Brahms gehört trotz aller Ver¬<lb/> ordnungen Hans v. Vülows nur sehr bedingt in seine Nähe. Brahms ist der<lb/> größte Meister unter den heutigen Musikern, eine absolute Größe z. B. im Lied,<lb/> in der Sinfonie der, der Beethoven in der Logik der Satzentwicklung, in der<lb/> Breite der Form am besten nachgebildet hat. Aber in der Echtheit der Ideen und<lb/> in dem Reichtum großer Ideen ist er von seinem Vorbild gewaltig unterschieden.</p><lb/> <p xml:id="ID_147"> Es ließen sich an Grove angeknüpft noch sehr viele Beethvvenfragen er¬<lb/> örtern, die für die Gegenwart wichtig sind. Wir wollen sie dem Leser selbst<lb/> überlassen, weil wir glauben, daß es die beste Empfehlung für das Buch ist,<lb/> daß wir gezeigt haben, wie es zum Nachdenken anregt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0056]
Lin neues Buch über Beethoven und seine Sinfonien
nur möglich war. Was wollen alle unliebsamen Kritiken gegen die Thatsache
bedeuten, daß seine Kunst schnell durchdrang, daß man ihm Opfer brachte, die
keinem vorher gebracht worden waren. Beethoven zuliebe wandelte man die
alten Dilettantenorchester um; er war der erste, dessen Werke sofort oder bald
nach der Aufführung in Partitur gedruckt wurden. Und was waren das für
fremdartige, anspruchsvolle Werke für eine Generation, die von Haydn und
Mozart kam! Sie wären von einem kleinen Geschlecht bestimmt abgelehnt
worden. Und waren die Bedenken, die gegen Beethoven geäußert wurden,
wirklich alle nur beschränkt und unbegründet? Auch heute noch sind uns die
Schwärmer verdächtig, die nicht sehen und nicht zugeben, daß die Kunst
Beethovens ihre barocken Elemente hat. Es ist ferner kein Zufall, daß die
Untersuchungen über die Grenzen der Instrumentalmusik erst nach Beethoven
beginnen. Sie ruhen heute; aber daß es sich nur um einen Waffenstillstand
handelt, verrät Groves Stoßseufzer (S. 157): „Hätte doch Beethoven gesagt,
was er mit seinen Sinfonien meint!"
Der dritte Punkt, an dem wir Groves Geschichtsauffassung nicht verstehen,
betrifft die Nachfolge Beethovens. Es ist im hohen Grade ehrbar, daß unsre
Sinfoniker — es handelt sich in der Hauptsache nur um die deutschen — die
Becthvvensche Sinfonie zum Muster genommen haben, es hat das neben sehr
viel Schwulst auch manche gute Folge gehabt. Aber weit entfernt davon, daß
ihn einer erreicht Hütte: wir glauben, daß Beethoven, wenn er heute wieder¬
käme, selbst nicht imstande wäre, wieder Beethovensche Sinfonien zu schreiben.
Denn der Geist, aus dem sie geboren sind, ist zu einem wesentlichen Teil der
Geist ihrer Zeit, der Zeit Kants und Schillers, einer Zeit voll hoher Ideen
und Absichten. Und dadurch trafen diese Tone in das Herz und die Seele
unsrer Vorfahren noch anders als auf unsre heutige Konzertwelt. In ihr ist
durchschnittlich nur eine Minderzahl fähig, Beethoven wirklich zu verstehen, und
nimmermehr können seine Sinfonien Volksmusik werden. Was kann für den
bloßen Lippendienst, der gegenwärtig so vielfach mit Beethoven getrieben wird,
bezeichnender sein, als daß Grove diesem Meister Sinfoniker wie Raff und
Tschaikowsth nahe stellt! Auch Johannes Brahms gehört trotz aller Ver¬
ordnungen Hans v. Vülows nur sehr bedingt in seine Nähe. Brahms ist der
größte Meister unter den heutigen Musikern, eine absolute Größe z. B. im Lied,
in der Sinfonie der, der Beethoven in der Logik der Satzentwicklung, in der
Breite der Form am besten nachgebildet hat. Aber in der Echtheit der Ideen und
in dem Reichtum großer Ideen ist er von seinem Vorbild gewaltig unterschieden.
Es ließen sich an Grove angeknüpft noch sehr viele Beethvvenfragen er¬
örtern, die für die Gegenwart wichtig sind. Wir wollen sie dem Leser selbst
überlassen, weil wir glauben, daß es die beste Empfehlung für das Buch ist,
daß wir gezeigt haben, wie es zum Nachdenken anregt.
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