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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Deutschlands Seemacht

trachten, das Wenige, was wir haben und haben können, festzuhalten und aus¬
zubauen. Große Dinge stehen in der Weltpolitik bevor; enger als jemals sind
Rußland und Frankreich gegen England verbündet, und so wenig sympathisch
uns die französische Börsenrepublik oder der russische Absolutismus sein mag,
so ist es doch nicht unsre Sache, nach solchen Abneigungen unsre eigne Politik
zu bestimmen und unsre Bündnisse zu wählen oder gar fremden Völkern unsre
eignen politischen Ideale mit der selbstgefälligen Unfehlbarkeit eines längst über-
wundnen Naturrechts vorhalten zu wollen; unsre Interessen sind unsre Richt¬
schnur, und sie drängen uns unwiderstehlich ans die Seite dieser beiden
Mächte.

Dazu aber bedarf es einer Kriegsflotte nicht nur für die unmittelbare
Küstenverteidigung, sondern für die Beherrschung der See. "Hätten wir den
Absolutismus, wir hätten längst die Flotte," sagten letzthin die Preußischen
Jahrbücher. Ein bitteres, aber leider berechtigtes Wort! Denn eine lang¬
jährige Erfahrung hat bestätigt, daß in Deutschland parlamentarische Körper¬
schaften kühnen neuen Gedanken immer nur schwer folgen oder ihnen
wohl gar die ärgsten Hindernisse bereiten, weil bei uns Parteisucht und dok¬
trinäre Rechthaberei das Nationalgefühl überwuchern. Der Zollverein hat bei
den Kammern der meisten deutschen Staaten den stärksten Widerspruch ge¬
funden, er war nur durchzuführen, weil Preußen selbst nicht dnrch das Da¬
zwischenreden einer eignen Volksvertretung gestört wurde; und die preußische
Heeresreform Wilhelms I. ist von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses Jahre
hindurch aufs erbittertste bekämpft worden. Diese beiden praktischen Grund¬
lagen der Einheit Deutschlands sind also unter dem lauten populären Wider¬
spruch zu stände gekommen, keineswegs durch Volksinitiative. Damit sich das
bei der unentbehrlichen Grundlage unsrer Weltstellung, einer starken Kriegs¬
flotte, nicht wiederhole, dazu ist es nötig, daß sich immer weitere Kreise der
Nation von dieser Notwendigkeit überzeugen.

Diesem Bedürfnis kommt ein neues, treffliches Werk von Georg Wisli-
cenus entgegen/') dem Verfasser des Textes zu dem im vorigen Jahre er¬
schienenen Prachtwerke "Unsre Kriegsmarine." Das schön ausgestattete Buch
besteht aus zwei Hauptleiter, einem historischen und einem beschreibenden. Der
erste Abschnitt "Seemacht entscheidet Völkergeschicke" giebt eine Übersicht über
die Geschichte der Seemächte aller Zeiten von den Phönikiern und Ägyptern
an bis auf die Gegenwart, wobei überall nachgewiesen wird, wie sehr von der
"Seegeltung" die Machtstellung eines Volkes abhängig gewesen ist, insbesondre,
wie die großen modernen Mächte Spanien, Portugal. Holland und England ihre



Deutschlands Seemacht sonst und jetzt. Nebst einem Überblick über die Geschichte
der Seefahrt aller Völker. Von Georg Wislieenus, Kapitnnleutmmt a. D,, mit fünfund¬
sechzig Bildern vom Marinemaler Willy Stöwer, Leipzig, Fr, Wilh. Grunom, 18"l>, 208 S.
(Gebunden 10 Mark,)
Deutschlands Seemacht

trachten, das Wenige, was wir haben und haben können, festzuhalten und aus¬
zubauen. Große Dinge stehen in der Weltpolitik bevor; enger als jemals sind
Rußland und Frankreich gegen England verbündet, und so wenig sympathisch
uns die französische Börsenrepublik oder der russische Absolutismus sein mag,
so ist es doch nicht unsre Sache, nach solchen Abneigungen unsre eigne Politik
zu bestimmen und unsre Bündnisse zu wählen oder gar fremden Völkern unsre
eignen politischen Ideale mit der selbstgefälligen Unfehlbarkeit eines längst über-
wundnen Naturrechts vorhalten zu wollen; unsre Interessen sind unsre Richt¬
schnur, und sie drängen uns unwiderstehlich ans die Seite dieser beiden
Mächte.

Dazu aber bedarf es einer Kriegsflotte nicht nur für die unmittelbare
Küstenverteidigung, sondern für die Beherrschung der See. „Hätten wir den
Absolutismus, wir hätten längst die Flotte," sagten letzthin die Preußischen
Jahrbücher. Ein bitteres, aber leider berechtigtes Wort! Denn eine lang¬
jährige Erfahrung hat bestätigt, daß in Deutschland parlamentarische Körper¬
schaften kühnen neuen Gedanken immer nur schwer folgen oder ihnen
wohl gar die ärgsten Hindernisse bereiten, weil bei uns Parteisucht und dok¬
trinäre Rechthaberei das Nationalgefühl überwuchern. Der Zollverein hat bei
den Kammern der meisten deutschen Staaten den stärksten Widerspruch ge¬
funden, er war nur durchzuführen, weil Preußen selbst nicht dnrch das Da¬
zwischenreden einer eignen Volksvertretung gestört wurde; und die preußische
Heeresreform Wilhelms I. ist von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses Jahre
hindurch aufs erbittertste bekämpft worden. Diese beiden praktischen Grund¬
lagen der Einheit Deutschlands sind also unter dem lauten populären Wider¬
spruch zu stände gekommen, keineswegs durch Volksinitiative. Damit sich das
bei der unentbehrlichen Grundlage unsrer Weltstellung, einer starken Kriegs¬
flotte, nicht wiederhole, dazu ist es nötig, daß sich immer weitere Kreise der
Nation von dieser Notwendigkeit überzeugen.

Diesem Bedürfnis kommt ein neues, treffliches Werk von Georg Wisli-
cenus entgegen/') dem Verfasser des Textes zu dem im vorigen Jahre er¬
schienenen Prachtwerke „Unsre Kriegsmarine." Das schön ausgestattete Buch
besteht aus zwei Hauptleiter, einem historischen und einem beschreibenden. Der
erste Abschnitt „Seemacht entscheidet Völkergeschicke" giebt eine Übersicht über
die Geschichte der Seemächte aller Zeiten von den Phönikiern und Ägyptern
an bis auf die Gegenwart, wobei überall nachgewiesen wird, wie sehr von der
„Seegeltung" die Machtstellung eines Volkes abhängig gewesen ist, insbesondre,
wie die großen modernen Mächte Spanien, Portugal. Holland und England ihre



Deutschlands Seemacht sonst und jetzt. Nebst einem Überblick über die Geschichte
der Seefahrt aller Völker. Von Georg Wislieenus, Kapitnnleutmmt a. D,, mit fünfund¬
sechzig Bildern vom Marinemaler Willy Stöwer, Leipzig, Fr, Wilh. Grunom, 18»l>, 208 S.
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[0546] Deutschlands Seemacht trachten, das Wenige, was wir haben und haben können, festzuhalten und aus¬ zubauen. Große Dinge stehen in der Weltpolitik bevor; enger als jemals sind Rußland und Frankreich gegen England verbündet, und so wenig sympathisch uns die französische Börsenrepublik oder der russische Absolutismus sein mag, so ist es doch nicht unsre Sache, nach solchen Abneigungen unsre eigne Politik zu bestimmen und unsre Bündnisse zu wählen oder gar fremden Völkern unsre eignen politischen Ideale mit der selbstgefälligen Unfehlbarkeit eines längst über- wundnen Naturrechts vorhalten zu wollen; unsre Interessen sind unsre Richt¬ schnur, und sie drängen uns unwiderstehlich ans die Seite dieser beiden Mächte. Dazu aber bedarf es einer Kriegsflotte nicht nur für die unmittelbare Küstenverteidigung, sondern für die Beherrschung der See. „Hätten wir den Absolutismus, wir hätten längst die Flotte," sagten letzthin die Preußischen Jahrbücher. Ein bitteres, aber leider berechtigtes Wort! Denn eine lang¬ jährige Erfahrung hat bestätigt, daß in Deutschland parlamentarische Körper¬ schaften kühnen neuen Gedanken immer nur schwer folgen oder ihnen wohl gar die ärgsten Hindernisse bereiten, weil bei uns Parteisucht und dok¬ trinäre Rechthaberei das Nationalgefühl überwuchern. Der Zollverein hat bei den Kammern der meisten deutschen Staaten den stärksten Widerspruch ge¬ funden, er war nur durchzuführen, weil Preußen selbst nicht dnrch das Da¬ zwischenreden einer eignen Volksvertretung gestört wurde; und die preußische Heeresreform Wilhelms I. ist von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses Jahre hindurch aufs erbittertste bekämpft worden. Diese beiden praktischen Grund¬ lagen der Einheit Deutschlands sind also unter dem lauten populären Wider¬ spruch zu stände gekommen, keineswegs durch Volksinitiative. Damit sich das bei der unentbehrlichen Grundlage unsrer Weltstellung, einer starken Kriegs¬ flotte, nicht wiederhole, dazu ist es nötig, daß sich immer weitere Kreise der Nation von dieser Notwendigkeit überzeugen. Diesem Bedürfnis kommt ein neues, treffliches Werk von Georg Wisli- cenus entgegen/') dem Verfasser des Textes zu dem im vorigen Jahre er¬ schienenen Prachtwerke „Unsre Kriegsmarine." Das schön ausgestattete Buch besteht aus zwei Hauptleiter, einem historischen und einem beschreibenden. Der erste Abschnitt „Seemacht entscheidet Völkergeschicke" giebt eine Übersicht über die Geschichte der Seemächte aller Zeiten von den Phönikiern und Ägyptern an bis auf die Gegenwart, wobei überall nachgewiesen wird, wie sehr von der „Seegeltung" die Machtstellung eines Volkes abhängig gewesen ist, insbesondre, wie die großen modernen Mächte Spanien, Portugal. Holland und England ihre Deutschlands Seemacht sonst und jetzt. Nebst einem Überblick über die Geschichte der Seefahrt aller Völker. Von Georg Wislieenus, Kapitnnleutmmt a. D,, mit fünfund¬ sechzig Bildern vom Marinemaler Willy Stöwer, Leipzig, Fr, Wilh. Grunom, 18»l>, 208 S. (Gebunden 10 Mark,)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/546>, abgerufen am 06.01.2025.