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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Englische Zustände

Prodnzirt Güter zu den billigsten Preisen, wie wenn die ganze Bevölkerung
aus lauter kousumtionsfähigen Leuten bestünde. Trotz der billigsten Preise
sind aber die arbeitslosen und besitzlosen Massen nicht kauffähig. Der Vorteil
der hohen Kaufkraft des Geldes fließt den beschäftigten und besitzenden Kreisen
zu. Es ist also kein Wunder, wenn in England der Achtstundentag als ge¬
setzliches Mittel der Produktivnsregulirung verlangt wird. Mau hofft, daß
alsdann die Produktion mehr Arbeitskräfte absorbiren werde, wodurch die
Konsnmtionsfähigkeit verallgemeinert werden würde. Es dürfte aber auch so
kaum gelingen, die Massen der Arbeitskräfte zu beschäftigen und so wirklich
kaufkräftig zu machen, und die künstliche Übervölkerung zu beseitigen."

Die Mittel, mit denen man bisher der Arbeitslosigkeit in England und
c>uf dein Festlande zu steuern versucht hat, werden in dem starken Bande, den
das I^hour I)kxa,re.in6ut des Haudelsamts 1893 herausgegeben hat, sehr ein¬
gehend dargestellt und beleuchtet. Ein sehr wichtiges Mittel, das für England
von der höchsten Bedeutung gewesen ist und immer noch ist, die organisirte
Auswandrnng, wird gar nicht erwähnt; darüber giebt das Buch von Nathgen
Ausschluß. Der amtliche Report berücksichtigt nur die Arten von Hilfe, bei
denen der Arme im Lande bleibt. Die Zahl der vorübergehenden Versuche
und der dauernden Organisationen solcher Hilfe ist nnn Legion, und man
staunt über die ungeheuern Geldsummen und über die Masse von Arbeit, Geist
und Nächstenliebe, die von Kirche und Kommunen, von Gewerkvereinen,
Wohlthätigkeitsvereinen und einzelnen Menschenfreunden aufgewendet werden.
Das dürftige Ergebnis aber lMe ineÄMrnvZs ol' tds resulw), gesteht der
Report am Schlusse, steht in gar keinem Verhältnis zu diesen Aufwendungen.
Doch hat man sich, wie der Verfasser des Berichts meint, nicht darüber zu
Zunder", daß bei allen diesen Unternehmungen wenig herauskommt, sondern
trüber, daß Leute, die doch aus Erfahrung wissen, wie schwer und meist
unmöglich es ist, auch nur einen einzigen verkommueu Menschen zu heben, sich
überhaupt noch an Unternehmungen beteiligen, die auf die Hebung nicht
^"zelner Personen, sondern großer Massen gerichtet sind. Insbesondre erfüllen
die Arbeitertolonien ihren Zweck ganz und gar nicht, wenn dieser Zweck die
Beseitigung der Arbeitslosigkeit sein soll. Sie sind ein gutes Mittel, die Ver¬
kommneu dem Publikum ans den Augen zu schaffen und die Belustigungen
und Gefahren zu verhüten, die ihr freies Herumschweifen bereiten kann, aber
den rechtschaffnen Arbeiter, dem es an Arbeit zu fehlen beginnt, vor dem Ver¬
kommen bewahren, das können sie nicht. Von allen Veranstaltungen, mit
denen man es bisher versucht hat, greift keine einzige die Wurzel des Übels
Nicht um die Rettung der hoffnungslos Verkvmmuen würde es sich bei
einer Radikalkur handeln, sondern um eine Politik, die dem Entstehen von
Massenelend vorbeugte. "Damit werfen wir Fragen anf, die jenseits des
Zweckes dieses Berichts liegen. So weit die Schuld an der Unfähigkeit vieler


Grmzbvte" IV 1896 ">4
Englische Zustände

Prodnzirt Güter zu den billigsten Preisen, wie wenn die ganze Bevölkerung
aus lauter kousumtionsfähigen Leuten bestünde. Trotz der billigsten Preise
sind aber die arbeitslosen und besitzlosen Massen nicht kauffähig. Der Vorteil
der hohen Kaufkraft des Geldes fließt den beschäftigten und besitzenden Kreisen
zu. Es ist also kein Wunder, wenn in England der Achtstundentag als ge¬
setzliches Mittel der Produktivnsregulirung verlangt wird. Mau hofft, daß
alsdann die Produktion mehr Arbeitskräfte absorbiren werde, wodurch die
Konsnmtionsfähigkeit verallgemeinert werden würde. Es dürfte aber auch so
kaum gelingen, die Massen der Arbeitskräfte zu beschäftigen und so wirklich
kaufkräftig zu machen, und die künstliche Übervölkerung zu beseitigen."

Die Mittel, mit denen man bisher der Arbeitslosigkeit in England und
c>uf dein Festlande zu steuern versucht hat, werden in dem starken Bande, den
das I^hour I)kxa,re.in6ut des Haudelsamts 1893 herausgegeben hat, sehr ein¬
gehend dargestellt und beleuchtet. Ein sehr wichtiges Mittel, das für England
von der höchsten Bedeutung gewesen ist und immer noch ist, die organisirte
Auswandrnng, wird gar nicht erwähnt; darüber giebt das Buch von Nathgen
Ausschluß. Der amtliche Report berücksichtigt nur die Arten von Hilfe, bei
denen der Arme im Lande bleibt. Die Zahl der vorübergehenden Versuche
und der dauernden Organisationen solcher Hilfe ist nnn Legion, und man
staunt über die ungeheuern Geldsummen und über die Masse von Arbeit, Geist
und Nächstenliebe, die von Kirche und Kommunen, von Gewerkvereinen,
Wohlthätigkeitsvereinen und einzelnen Menschenfreunden aufgewendet werden.
Das dürftige Ergebnis aber lMe ineÄMrnvZs ol' tds resulw), gesteht der
Report am Schlusse, steht in gar keinem Verhältnis zu diesen Aufwendungen.
Doch hat man sich, wie der Verfasser des Berichts meint, nicht darüber zu
Zunder», daß bei allen diesen Unternehmungen wenig herauskommt, sondern
trüber, daß Leute, die doch aus Erfahrung wissen, wie schwer und meist
unmöglich es ist, auch nur einen einzigen verkommueu Menschen zu heben, sich
überhaupt noch an Unternehmungen beteiligen, die auf die Hebung nicht
^»zelner Personen, sondern großer Massen gerichtet sind. Insbesondre erfüllen
die Arbeitertolonien ihren Zweck ganz und gar nicht, wenn dieser Zweck die
Beseitigung der Arbeitslosigkeit sein soll. Sie sind ein gutes Mittel, die Ver¬
kommneu dem Publikum ans den Augen zu schaffen und die Belustigungen
und Gefahren zu verhüten, die ihr freies Herumschweifen bereiten kann, aber
den rechtschaffnen Arbeiter, dem es an Arbeit zu fehlen beginnt, vor dem Ver¬
kommen bewahren, das können sie nicht. Von allen Veranstaltungen, mit
denen man es bisher versucht hat, greift keine einzige die Wurzel des Übels
Nicht um die Rettung der hoffnungslos Verkvmmuen würde es sich bei
einer Radikalkur handeln, sondern um eine Politik, die dem Entstehen von
Massenelend vorbeugte. „Damit werfen wir Fragen anf, die jenseits des
Zweckes dieses Berichts liegen. So weit die Schuld an der Unfähigkeit vieler


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[0513] Englische Zustände Prodnzirt Güter zu den billigsten Preisen, wie wenn die ganze Bevölkerung aus lauter kousumtionsfähigen Leuten bestünde. Trotz der billigsten Preise sind aber die arbeitslosen und besitzlosen Massen nicht kauffähig. Der Vorteil der hohen Kaufkraft des Geldes fließt den beschäftigten und besitzenden Kreisen zu. Es ist also kein Wunder, wenn in England der Achtstundentag als ge¬ setzliches Mittel der Produktivnsregulirung verlangt wird. Mau hofft, daß alsdann die Produktion mehr Arbeitskräfte absorbiren werde, wodurch die Konsnmtionsfähigkeit verallgemeinert werden würde. Es dürfte aber auch so kaum gelingen, die Massen der Arbeitskräfte zu beschäftigen und so wirklich kaufkräftig zu machen, und die künstliche Übervölkerung zu beseitigen." Die Mittel, mit denen man bisher der Arbeitslosigkeit in England und c>uf dein Festlande zu steuern versucht hat, werden in dem starken Bande, den das I^hour I)kxa,re.in6ut des Haudelsamts 1893 herausgegeben hat, sehr ein¬ gehend dargestellt und beleuchtet. Ein sehr wichtiges Mittel, das für England von der höchsten Bedeutung gewesen ist und immer noch ist, die organisirte Auswandrnng, wird gar nicht erwähnt; darüber giebt das Buch von Nathgen Ausschluß. Der amtliche Report berücksichtigt nur die Arten von Hilfe, bei denen der Arme im Lande bleibt. Die Zahl der vorübergehenden Versuche und der dauernden Organisationen solcher Hilfe ist nnn Legion, und man staunt über die ungeheuern Geldsummen und über die Masse von Arbeit, Geist und Nächstenliebe, die von Kirche und Kommunen, von Gewerkvereinen, Wohlthätigkeitsvereinen und einzelnen Menschenfreunden aufgewendet werden. Das dürftige Ergebnis aber lMe ineÄMrnvZs ol' tds resulw), gesteht der Report am Schlusse, steht in gar keinem Verhältnis zu diesen Aufwendungen. Doch hat man sich, wie der Verfasser des Berichts meint, nicht darüber zu Zunder», daß bei allen diesen Unternehmungen wenig herauskommt, sondern trüber, daß Leute, die doch aus Erfahrung wissen, wie schwer und meist unmöglich es ist, auch nur einen einzigen verkommueu Menschen zu heben, sich überhaupt noch an Unternehmungen beteiligen, die auf die Hebung nicht ^»zelner Personen, sondern großer Massen gerichtet sind. Insbesondre erfüllen die Arbeitertolonien ihren Zweck ganz und gar nicht, wenn dieser Zweck die Beseitigung der Arbeitslosigkeit sein soll. Sie sind ein gutes Mittel, die Ver¬ kommneu dem Publikum ans den Augen zu schaffen und die Belustigungen und Gefahren zu verhüten, die ihr freies Herumschweifen bereiten kann, aber den rechtschaffnen Arbeiter, dem es an Arbeit zu fehlen beginnt, vor dem Ver¬ kommen bewahren, das können sie nicht. Von allen Veranstaltungen, mit denen man es bisher versucht hat, greift keine einzige die Wurzel des Übels Nicht um die Rettung der hoffnungslos Verkvmmuen würde es sich bei einer Radikalkur handeln, sondern um eine Politik, die dem Entstehen von Massenelend vorbeugte. „Damit werfen wir Fragen anf, die jenseits des Zweckes dieses Berichts liegen. So weit die Schuld an der Unfähigkeit vieler Grmzbvte» IV 1896 «>4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/513>, abgerufen am 06.01.2025.