Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie nehmen, dem Wort "Heimarbeiter" den vom Reichsversichernngsamt mehrfach Endlich ist auch die Grenze zwischen Werkstatt- und Heimbetrieb ganz Der Leser wird hieraus hoffentlich die Überzeugung gewonnen haben, Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie nehmen, dem Wort „Heimarbeiter" den vom Reichsversichernngsamt mehrfach Endlich ist auch die Grenze zwischen Werkstatt- und Heimbetrieb ganz Der Leser wird hieraus hoffentlich die Überzeugung gewonnen haben, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0407" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223991"/> <fw type="header" place="top"> Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie</fw><lb/> <p xml:id="ID_1219" prev="#ID_1218"> nehmen, dem Wort „Heimarbeiter" den vom Reichsversichernngsamt mehrfach<lb/> angenommnen eingeschränkten Sinn beizulegen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1220"> Endlich ist auch die Grenze zwischen Werkstatt- und Heimbetrieb ganz<lb/> unklar. Dieser Mangel macht sich noch fühlbarer als der eines feststehenden<lb/> Unterschiedes zwischen Fabrik und Werkstatt. In der Schneiderei und Wäsche¬<lb/> näherei sind meistens sehr wenig besondre Einrichtungen oder gar Anlagen<lb/> in der Werkstatt nötig, man kann hier eigentlich immer nur von Arbeitsraum<lb/> oder Arbeitsstube reden. Nach verschiednen Entscheidungen des Reichsgerichts<lb/> verliert ein Raum dadurch nicht den Charakter der Werkstatt, daß in ihm<lb/> auch gewohnt, geschlafen, gekocht und gegessen wird, und das entspricht durch¬<lb/> aus der Wirklichkeit und ihren Bedürfnissen gerade im Schneidergewerbe,<lb/> auch in dem handwerksmäßigen. Einen Unterschied zwischen Handwerk und<lb/> Hausindustrie hier in der Sozialgesetzgebung zu konstruiren oder dem Richter<lb/> zuzumuten, ist ganz unfruchtbar und unmöglich, wenn man nicht zu<lb/> dem unhaltbaren papiernen Konzessions- und Zunftsystem der österreichischen<lb/> Gewerbeordnung zurückgreifen will. Die Zwangsinnungen des preußischen<lb/> Gesetzentwurfs können dabei auch nicht helfen. Am liebsten würden wir in<lb/> der Sozialgesetzgebung zunächst unterschieden sehen Betriebe, in denen fremde<lb/> Hilfspersonen gegen Lohn oder sonstige Gegenleistung mit gewerbsmäßiger<lb/> Arbeit beschäftigt werden, von den Betrieben mit reiner Familienarbeit. Wer<lb/> Arbeitgeber sein will, hat besondre soziale Pflichten, Arbeitgeberpflichten auf<lb/> sich zu nehmen, mag er einen oder tausend Arbeiter beschäftigen, und that¬<lb/> sächlich raubt die regelmüßige gewerbsmäßige Mitarbeit einer fremden Hilfs¬<lb/> Person auch dem kleinsten Betriebe den Charakter des Familienbetriebes.<lb/> Ol> ferner der Wegfall dieses Charakters auch dann immer eingenommen<lb/> werden soll, wenn eine Mehrzahl von Angehörigen regelmäßig arbeitet, oder<lb/> wenn sie im Lohnvertragsverhältnis zum Betriebsinhaber stehen, wäre zu er¬<lb/> wägen. Leider geben unsre Quellen kein hinreichend klares Bild von den Ver¬<lb/> hältnissen in den zahlreichen ländlichen Hausgewerbebetrieben in Unterfranken,<lb/> w Württemberg und in Westfalen. Jedenfalls verstehen wir hier unter<lb/> Heimbetrieb im Gegensatz zum Werkstattbetrieb immer nur Familienbetriebe in<lb/> dem eben angedeuteten Sinne, wo nicht Arbeitgeber und Arbeiter zu unter¬<lb/> scheiden sind, sondern ein Arbeiter allein oder als Familienhaupt mit der Hilfe<lb/> von Angehörigen arbeitet.</p><lb/> <p xml:id="ID_1221" next="#ID_1222"> Der Leser wird hieraus hoffentlich die Überzeugung gewonnen haben,<lb/> daß eine gründliche, einheitliche Durcharbeitung unsrer wirtschaftlichen und<lb/> sozialen Gesetzgebung für diese Fragen dringend not thut, vor allem eine neue<lb/> Fassung der Neichsgewerbeordnung. Sie hat es ebenso nötig wie das Handels¬<lb/> gesetzbuch, und durch den unglückseligen Gedanken, die Verhältnisse im Hand¬<lb/> werk durch das Einflicken einer Reihe neuer Paragraphen bessern zu wollen,ohne sich um die viel wichtigere, auch die Lage des Handwerks wesentlich be-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0407]
Die Mißstände in der Kleider- und Wäscheindustrie
nehmen, dem Wort „Heimarbeiter" den vom Reichsversichernngsamt mehrfach
angenommnen eingeschränkten Sinn beizulegen.
Endlich ist auch die Grenze zwischen Werkstatt- und Heimbetrieb ganz
unklar. Dieser Mangel macht sich noch fühlbarer als der eines feststehenden
Unterschiedes zwischen Fabrik und Werkstatt. In der Schneiderei und Wäsche¬
näherei sind meistens sehr wenig besondre Einrichtungen oder gar Anlagen
in der Werkstatt nötig, man kann hier eigentlich immer nur von Arbeitsraum
oder Arbeitsstube reden. Nach verschiednen Entscheidungen des Reichsgerichts
verliert ein Raum dadurch nicht den Charakter der Werkstatt, daß in ihm
auch gewohnt, geschlafen, gekocht und gegessen wird, und das entspricht durch¬
aus der Wirklichkeit und ihren Bedürfnissen gerade im Schneidergewerbe,
auch in dem handwerksmäßigen. Einen Unterschied zwischen Handwerk und
Hausindustrie hier in der Sozialgesetzgebung zu konstruiren oder dem Richter
zuzumuten, ist ganz unfruchtbar und unmöglich, wenn man nicht zu
dem unhaltbaren papiernen Konzessions- und Zunftsystem der österreichischen
Gewerbeordnung zurückgreifen will. Die Zwangsinnungen des preußischen
Gesetzentwurfs können dabei auch nicht helfen. Am liebsten würden wir in
der Sozialgesetzgebung zunächst unterschieden sehen Betriebe, in denen fremde
Hilfspersonen gegen Lohn oder sonstige Gegenleistung mit gewerbsmäßiger
Arbeit beschäftigt werden, von den Betrieben mit reiner Familienarbeit. Wer
Arbeitgeber sein will, hat besondre soziale Pflichten, Arbeitgeberpflichten auf
sich zu nehmen, mag er einen oder tausend Arbeiter beschäftigen, und that¬
sächlich raubt die regelmüßige gewerbsmäßige Mitarbeit einer fremden Hilfs¬
Person auch dem kleinsten Betriebe den Charakter des Familienbetriebes.
Ol> ferner der Wegfall dieses Charakters auch dann immer eingenommen
werden soll, wenn eine Mehrzahl von Angehörigen regelmäßig arbeitet, oder
wenn sie im Lohnvertragsverhältnis zum Betriebsinhaber stehen, wäre zu er¬
wägen. Leider geben unsre Quellen kein hinreichend klares Bild von den Ver¬
hältnissen in den zahlreichen ländlichen Hausgewerbebetrieben in Unterfranken,
w Württemberg und in Westfalen. Jedenfalls verstehen wir hier unter
Heimbetrieb im Gegensatz zum Werkstattbetrieb immer nur Familienbetriebe in
dem eben angedeuteten Sinne, wo nicht Arbeitgeber und Arbeiter zu unter¬
scheiden sind, sondern ein Arbeiter allein oder als Familienhaupt mit der Hilfe
von Angehörigen arbeitet.
Der Leser wird hieraus hoffentlich die Überzeugung gewonnen haben,
daß eine gründliche, einheitliche Durcharbeitung unsrer wirtschaftlichen und
sozialen Gesetzgebung für diese Fragen dringend not thut, vor allem eine neue
Fassung der Neichsgewerbeordnung. Sie hat es ebenso nötig wie das Handels¬
gesetzbuch, und durch den unglückseligen Gedanken, die Verhältnisse im Hand¬
werk durch das Einflicken einer Reihe neuer Paragraphen bessern zu wollen,ohne sich um die viel wichtigere, auch die Lage des Handwerks wesentlich be-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |