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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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es zu sein. Die Töchter werden Berufsnäherinnen, unfähig zu andrer Arbeit.
Gerade die Näharbeit verleitet dazu, daß schon jetzt keine Tochter einer Berliner
Arbeiterfamilie Dienstmädchen wird, was für sie tausenmal besser wäre. Dazu
kommt, daß hunderte von Mädchen aus der Provinz den kaum angetretenen
Gesindedienst in Berlin verlassen, weil ein "Cousin" oder "Bräutigam" dazu
rät, um in der Konfektion ihr Heil zu versuchen. Das sind die hauptsäch¬
lichsten Rekruten für die Schar der "Verlassenen" und "Jsolirten." Wir wissen
sehr Wohl, wie groß die Menge der Unterlassungssünden bei den Dienstherr¬
schaften ist, unverzeihliche, himmelschreiende Sünden, aber wir wissen auch, wie
unverantwortlich von sozialdemokratischen Volksbeglückern den Mädchen der
Gesindedienst verleidet wird. Gerade in Berlin, und gerade bei dem Vergleich
der Lage der Dienstmädchen und der der "Mamsells" in der Konfektion muß
man sich über diese Dummheit oder Bosheit der Volksverderber empören.
Aber auch in den ländlichen Koufektionsbezirken, Unterfranken, Württemberg,
Westfalen, ist die Entstehung eines elenden Hausiudustriellcn-Proletariats zu
erwarten, mag immerhin zur Zeit noch durch das bare Geld, das die Kon¬
fektionsarbeit den landwirtschaftlichen Zwergwirten ins Haus bringt, eine wirt¬
schaftliche Hebung der Verhältnisse, ja vielleicht hie und da auch eine Hebung
des landwirtschaftlichen Betriebes selbst bewirkt werden, wie es z. B. in¬
folge der Verlegung der Cigarrenfabrikation aufs Land in Baden beobachtet
worden ist. Die Gefahr ist da, daß gerade dadurch von der jüngern Generation
viel zu viele in der Landwirtschaft nicht unterzubringende, auch für sie nicht
mehr längliche Personen in den Dörfern zurückgehalten werden, die dann allein
auf die Hungerlöhne der Herfvrder, Stuttgarter, Aschaffeuburger usw. Kon¬
fektionäre angewiesen sind, vollends wenn, was bisher nicht der Fall ist, die
Fnktorenwirtschaft in diesen Bezirken Platz greifen sollte.

Durch dies alles müssen wir zu der Überzeugung gelangen, daß der
vorherrschende Charakter als Zubußeverdienst und Nebenerwerb beim Arbeits¬
lohn in der Konfektionsindustrie zwar bisher verhindert hat, daß der Not¬
stand schon allgemein einen unerträglichen Grad erreicht hat, daß er uns aber
keineswegs darüber hinwegtäuschen darf, daß die ganze Entwicklung der Lohn¬
verhältnisse in dieser Industrie besonders krankhaft und gefährlich ist. Das
Massenangebot mit fast unbegrenzter Ausdehnungsfähigkeit von geringwertigen,
aber bei der Art der Arbeit doch brauchbaren, fast ausschließlich weiblichen
und vorwiegend hausindustriellen Arbeitskräften wird dadurch in seiner lvhn-
drückenden Wirkung wesentlich verstärkt, daß immer neue Massen von Ar¬
beiterinnen, die den Arbeitslohn nur als Zubußeverdieust betrachten, heran¬
gezogen werden. Dem Staat erwächst dadurch eine ernste, aber mich überaus
schwierige Aufgabe. Dieses Massenangebot in der Konfektionsindustrie ist in
Deutschland wie in Frankreich von andrer Natur als in Amerika, auch wohl
in England. In den Vereinigten Staaten rekrutirt es sich, wie Levasseur


es zu sein. Die Töchter werden Berufsnäherinnen, unfähig zu andrer Arbeit.
Gerade die Näharbeit verleitet dazu, daß schon jetzt keine Tochter einer Berliner
Arbeiterfamilie Dienstmädchen wird, was für sie tausenmal besser wäre. Dazu
kommt, daß hunderte von Mädchen aus der Provinz den kaum angetretenen
Gesindedienst in Berlin verlassen, weil ein „Cousin" oder „Bräutigam" dazu
rät, um in der Konfektion ihr Heil zu versuchen. Das sind die hauptsäch¬
lichsten Rekruten für die Schar der „Verlassenen" und „Jsolirten." Wir wissen
sehr Wohl, wie groß die Menge der Unterlassungssünden bei den Dienstherr¬
schaften ist, unverzeihliche, himmelschreiende Sünden, aber wir wissen auch, wie
unverantwortlich von sozialdemokratischen Volksbeglückern den Mädchen der
Gesindedienst verleidet wird. Gerade in Berlin, und gerade bei dem Vergleich
der Lage der Dienstmädchen und der der „Mamsells" in der Konfektion muß
man sich über diese Dummheit oder Bosheit der Volksverderber empören.
Aber auch in den ländlichen Koufektionsbezirken, Unterfranken, Württemberg,
Westfalen, ist die Entstehung eines elenden Hausiudustriellcn-Proletariats zu
erwarten, mag immerhin zur Zeit noch durch das bare Geld, das die Kon¬
fektionsarbeit den landwirtschaftlichen Zwergwirten ins Haus bringt, eine wirt¬
schaftliche Hebung der Verhältnisse, ja vielleicht hie und da auch eine Hebung
des landwirtschaftlichen Betriebes selbst bewirkt werden, wie es z. B. in¬
folge der Verlegung der Cigarrenfabrikation aufs Land in Baden beobachtet
worden ist. Die Gefahr ist da, daß gerade dadurch von der jüngern Generation
viel zu viele in der Landwirtschaft nicht unterzubringende, auch für sie nicht
mehr längliche Personen in den Dörfern zurückgehalten werden, die dann allein
auf die Hungerlöhne der Herfvrder, Stuttgarter, Aschaffeuburger usw. Kon¬
fektionäre angewiesen sind, vollends wenn, was bisher nicht der Fall ist, die
Fnktorenwirtschaft in diesen Bezirken Platz greifen sollte.

Durch dies alles müssen wir zu der Überzeugung gelangen, daß der
vorherrschende Charakter als Zubußeverdienst und Nebenerwerb beim Arbeits¬
lohn in der Konfektionsindustrie zwar bisher verhindert hat, daß der Not¬
stand schon allgemein einen unerträglichen Grad erreicht hat, daß er uns aber
keineswegs darüber hinwegtäuschen darf, daß die ganze Entwicklung der Lohn¬
verhältnisse in dieser Industrie besonders krankhaft und gefährlich ist. Das
Massenangebot mit fast unbegrenzter Ausdehnungsfähigkeit von geringwertigen,
aber bei der Art der Arbeit doch brauchbaren, fast ausschließlich weiblichen
und vorwiegend hausindustriellen Arbeitskräften wird dadurch in seiner lvhn-
drückenden Wirkung wesentlich verstärkt, daß immer neue Massen von Ar¬
beiterinnen, die den Arbeitslohn nur als Zubußeverdieust betrachten, heran¬
gezogen werden. Dem Staat erwächst dadurch eine ernste, aber mich überaus
schwierige Aufgabe. Dieses Massenangebot in der Konfektionsindustrie ist in
Deutschland wie in Frankreich von andrer Natur als in Amerika, auch wohl
in England. In den Vereinigten Staaten rekrutirt es sich, wie Levasseur


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[0364] es zu sein. Die Töchter werden Berufsnäherinnen, unfähig zu andrer Arbeit. Gerade die Näharbeit verleitet dazu, daß schon jetzt keine Tochter einer Berliner Arbeiterfamilie Dienstmädchen wird, was für sie tausenmal besser wäre. Dazu kommt, daß hunderte von Mädchen aus der Provinz den kaum angetretenen Gesindedienst in Berlin verlassen, weil ein „Cousin" oder „Bräutigam" dazu rät, um in der Konfektion ihr Heil zu versuchen. Das sind die hauptsäch¬ lichsten Rekruten für die Schar der „Verlassenen" und „Jsolirten." Wir wissen sehr Wohl, wie groß die Menge der Unterlassungssünden bei den Dienstherr¬ schaften ist, unverzeihliche, himmelschreiende Sünden, aber wir wissen auch, wie unverantwortlich von sozialdemokratischen Volksbeglückern den Mädchen der Gesindedienst verleidet wird. Gerade in Berlin, und gerade bei dem Vergleich der Lage der Dienstmädchen und der der „Mamsells" in der Konfektion muß man sich über diese Dummheit oder Bosheit der Volksverderber empören. Aber auch in den ländlichen Koufektionsbezirken, Unterfranken, Württemberg, Westfalen, ist die Entstehung eines elenden Hausiudustriellcn-Proletariats zu erwarten, mag immerhin zur Zeit noch durch das bare Geld, das die Kon¬ fektionsarbeit den landwirtschaftlichen Zwergwirten ins Haus bringt, eine wirt¬ schaftliche Hebung der Verhältnisse, ja vielleicht hie und da auch eine Hebung des landwirtschaftlichen Betriebes selbst bewirkt werden, wie es z. B. in¬ folge der Verlegung der Cigarrenfabrikation aufs Land in Baden beobachtet worden ist. Die Gefahr ist da, daß gerade dadurch von der jüngern Generation viel zu viele in der Landwirtschaft nicht unterzubringende, auch für sie nicht mehr längliche Personen in den Dörfern zurückgehalten werden, die dann allein auf die Hungerlöhne der Herfvrder, Stuttgarter, Aschaffeuburger usw. Kon¬ fektionäre angewiesen sind, vollends wenn, was bisher nicht der Fall ist, die Fnktorenwirtschaft in diesen Bezirken Platz greifen sollte. Durch dies alles müssen wir zu der Überzeugung gelangen, daß der vorherrschende Charakter als Zubußeverdienst und Nebenerwerb beim Arbeits¬ lohn in der Konfektionsindustrie zwar bisher verhindert hat, daß der Not¬ stand schon allgemein einen unerträglichen Grad erreicht hat, daß er uns aber keineswegs darüber hinwegtäuschen darf, daß die ganze Entwicklung der Lohn¬ verhältnisse in dieser Industrie besonders krankhaft und gefährlich ist. Das Massenangebot mit fast unbegrenzter Ausdehnungsfähigkeit von geringwertigen, aber bei der Art der Arbeit doch brauchbaren, fast ausschließlich weiblichen und vorwiegend hausindustriellen Arbeitskräften wird dadurch in seiner lvhn- drückenden Wirkung wesentlich verstärkt, daß immer neue Massen von Ar¬ beiterinnen, die den Arbeitslohn nur als Zubußeverdieust betrachten, heran¬ gezogen werden. Dem Staat erwächst dadurch eine ernste, aber mich überaus schwierige Aufgabe. Dieses Massenangebot in der Konfektionsindustrie ist in Deutschland wie in Frankreich von andrer Natur als in Amerika, auch wohl in England. In den Vereinigten Staaten rekrutirt es sich, wie Levasseur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/364>, abgerufen am 06.01.2025.