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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die Miszstäiide in der Kleider- und Wäscheindustrie

ihrer Abhilfe und zum besten der bedauernswerten Arbeiterschaft in der
Kvnfektionsindustrie beizutragen.

Ju der Sitzung des deutschen Reichstags vom 12. Februar 1896 richteten
die Abgeordneten Freiherr Hehl zu Herrnsheim, Prinz zu Schönaich-
Carolath, Wassermann, Dr. Hasse, or. Osann und Graf von Oriola im Namen
der nativnalliberalen Partei die Anfrage an die Negierung:

Im Verfolg des Beschlusses des Reichstags vom 11. Mai 1835 sind dem
Reichstag am 29. April 1837 die Ergebnisse der von den Bundesregierungen
angestellten Ermittlungen über die Lohnverhnltnisse der Arbeiterinnen der Wäsche-
fnbrikation und der Konfektivnsbranche, sowie über den Verkauf oder die Lieferung
von Arbeitsmaterial (Nähfaden usw.) seitens der Arbeitgeber an die Arbeiterinnen
und über die Höhe der dabei berechneten Preise zugegangen.

Nachdem sich die Lage jener Arbeiterinnen seit jener Zeit noch ungünstiger
gestaltet hat, richten die Unterzeichneten die Anfrage an die Verbündeten Regie¬
rungen: welche gesetzgeberischen Maßnahmen dieselben zum Schutz für Gesundheit
und Sittlichkeit und gegen Ausbeutung dieser Arbeiterinnen durch das Trucksystem
zu ergreifen beabsichtigen?

In der Beantwortung der Anfrage erklärte der Staatssekretär der Innern,
Dr. von Boetticher, daß die Fragesteller "den Finger in eine der schlimmsten
Wunden unsers wirtschaftlichen Lebens gelegt" hätten, und daß es nicht allein
Aufgabe der Regierungen und der Volksvertretungen, sondern aller Vater-
landsfreunde sei, "dahin zu streben, daß der Krebsschaden, der auf diesem
Gebiet besteht, aus der Welt geschafft werde." So groß die entgegenstehenden
Schwierigkeiten auch sein möchten, sie müßten überwunden werden, und die
Reichsverwaltung habe beschlossen, "die Sache in Angriff zu nehmen und zu¬
nächst die Kommission für Arbeiterstatistik mit einer Untersuchung und Er¬
wägung über die Mißstände und über die Mittel zur Abhilfe zu beauftragen,"
und zwar werde dieser Auftrag zuerst zur Erledigung kommen, vor der Er¬
ledigung der Aufgabe", die sonst noch der Kommission erteilt seien.

Als die Punkte, auf die die Kommission für Arbeiterftatistik ihr Augen¬
merk zu richten haben werde, bezeichnete Herr von Boetticher erstens die
Frage des Trucksystems, zweitens die Frage, ob die Klage über die Aus¬
beutung des Abhängigkeitsverhältnisses der Arbeiterinnen zu un¬
unsittlichen Zwecken begründet sei, drittens die Frage nach der Arbeits¬
zeit in den Werkstätten und bei den Heimarbeitern, und endlich noch
die Frage, ob es etwa möglich wäre, die Thätigkeit der Hausindustrie
auf diesem Gebiete völlig auszuschließen und die Arbeiten aus¬
schließlich in Werkstätten vorzunehmen.

Ich halte es -- fügte Herr von Boetticher in Bezug auf die letzte Frage
wörtlich hinzu -- vorläufig nicht wohl für möglich; ich glaube kaum, daß man
so weit wird gehen können. Aber jedenfalls muß die Frage eingehend erörtert
werden; und wenn man nicht so weit gehen kann, wird es geboten sein, darüber


Die Miszstäiide in der Kleider- und Wäscheindustrie

ihrer Abhilfe und zum besten der bedauernswerten Arbeiterschaft in der
Kvnfektionsindustrie beizutragen.

Ju der Sitzung des deutschen Reichstags vom 12. Februar 1896 richteten
die Abgeordneten Freiherr Hehl zu Herrnsheim, Prinz zu Schönaich-
Carolath, Wassermann, Dr. Hasse, or. Osann und Graf von Oriola im Namen
der nativnalliberalen Partei die Anfrage an die Negierung:

Im Verfolg des Beschlusses des Reichstags vom 11. Mai 1835 sind dem
Reichstag am 29. April 1837 die Ergebnisse der von den Bundesregierungen
angestellten Ermittlungen über die Lohnverhnltnisse der Arbeiterinnen der Wäsche-
fnbrikation und der Konfektivnsbranche, sowie über den Verkauf oder die Lieferung
von Arbeitsmaterial (Nähfaden usw.) seitens der Arbeitgeber an die Arbeiterinnen
und über die Höhe der dabei berechneten Preise zugegangen.

Nachdem sich die Lage jener Arbeiterinnen seit jener Zeit noch ungünstiger
gestaltet hat, richten die Unterzeichneten die Anfrage an die Verbündeten Regie¬
rungen: welche gesetzgeberischen Maßnahmen dieselben zum Schutz für Gesundheit
und Sittlichkeit und gegen Ausbeutung dieser Arbeiterinnen durch das Trucksystem
zu ergreifen beabsichtigen?

In der Beantwortung der Anfrage erklärte der Staatssekretär der Innern,
Dr. von Boetticher, daß die Fragesteller „den Finger in eine der schlimmsten
Wunden unsers wirtschaftlichen Lebens gelegt" hätten, und daß es nicht allein
Aufgabe der Regierungen und der Volksvertretungen, sondern aller Vater-
landsfreunde sei, „dahin zu streben, daß der Krebsschaden, der auf diesem
Gebiet besteht, aus der Welt geschafft werde." So groß die entgegenstehenden
Schwierigkeiten auch sein möchten, sie müßten überwunden werden, und die
Reichsverwaltung habe beschlossen, „die Sache in Angriff zu nehmen und zu¬
nächst die Kommission für Arbeiterstatistik mit einer Untersuchung und Er¬
wägung über die Mißstände und über die Mittel zur Abhilfe zu beauftragen,"
und zwar werde dieser Auftrag zuerst zur Erledigung kommen, vor der Er¬
ledigung der Aufgabe», die sonst noch der Kommission erteilt seien.

Als die Punkte, auf die die Kommission für Arbeiterftatistik ihr Augen¬
merk zu richten haben werde, bezeichnete Herr von Boetticher erstens die
Frage des Trucksystems, zweitens die Frage, ob die Klage über die Aus¬
beutung des Abhängigkeitsverhältnisses der Arbeiterinnen zu un¬
unsittlichen Zwecken begründet sei, drittens die Frage nach der Arbeits¬
zeit in den Werkstätten und bei den Heimarbeitern, und endlich noch
die Frage, ob es etwa möglich wäre, die Thätigkeit der Hausindustrie
auf diesem Gebiete völlig auszuschließen und die Arbeiten aus¬
schließlich in Werkstätten vorzunehmen.

Ich halte es — fügte Herr von Boetticher in Bezug auf die letzte Frage
wörtlich hinzu — vorläufig nicht wohl für möglich; ich glaube kaum, daß man
so weit wird gehen können. Aber jedenfalls muß die Frage eingehend erörtert
werden; und wenn man nicht so weit gehen kann, wird es geboten sein, darüber


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[0354] Die Miszstäiide in der Kleider- und Wäscheindustrie ihrer Abhilfe und zum besten der bedauernswerten Arbeiterschaft in der Kvnfektionsindustrie beizutragen. Ju der Sitzung des deutschen Reichstags vom 12. Februar 1896 richteten die Abgeordneten Freiherr Hehl zu Herrnsheim, Prinz zu Schönaich- Carolath, Wassermann, Dr. Hasse, or. Osann und Graf von Oriola im Namen der nativnalliberalen Partei die Anfrage an die Negierung: Im Verfolg des Beschlusses des Reichstags vom 11. Mai 1835 sind dem Reichstag am 29. April 1837 die Ergebnisse der von den Bundesregierungen angestellten Ermittlungen über die Lohnverhnltnisse der Arbeiterinnen der Wäsche- fnbrikation und der Konfektivnsbranche, sowie über den Verkauf oder die Lieferung von Arbeitsmaterial (Nähfaden usw.) seitens der Arbeitgeber an die Arbeiterinnen und über die Höhe der dabei berechneten Preise zugegangen. Nachdem sich die Lage jener Arbeiterinnen seit jener Zeit noch ungünstiger gestaltet hat, richten die Unterzeichneten die Anfrage an die Verbündeten Regie¬ rungen: welche gesetzgeberischen Maßnahmen dieselben zum Schutz für Gesundheit und Sittlichkeit und gegen Ausbeutung dieser Arbeiterinnen durch das Trucksystem zu ergreifen beabsichtigen? In der Beantwortung der Anfrage erklärte der Staatssekretär der Innern, Dr. von Boetticher, daß die Fragesteller „den Finger in eine der schlimmsten Wunden unsers wirtschaftlichen Lebens gelegt" hätten, und daß es nicht allein Aufgabe der Regierungen und der Volksvertretungen, sondern aller Vater- landsfreunde sei, „dahin zu streben, daß der Krebsschaden, der auf diesem Gebiet besteht, aus der Welt geschafft werde." So groß die entgegenstehenden Schwierigkeiten auch sein möchten, sie müßten überwunden werden, und die Reichsverwaltung habe beschlossen, „die Sache in Angriff zu nehmen und zu¬ nächst die Kommission für Arbeiterstatistik mit einer Untersuchung und Er¬ wägung über die Mißstände und über die Mittel zur Abhilfe zu beauftragen," und zwar werde dieser Auftrag zuerst zur Erledigung kommen, vor der Er¬ ledigung der Aufgabe», die sonst noch der Kommission erteilt seien. Als die Punkte, auf die die Kommission für Arbeiterftatistik ihr Augen¬ merk zu richten haben werde, bezeichnete Herr von Boetticher erstens die Frage des Trucksystems, zweitens die Frage, ob die Klage über die Aus¬ beutung des Abhängigkeitsverhältnisses der Arbeiterinnen zu un¬ unsittlichen Zwecken begründet sei, drittens die Frage nach der Arbeits¬ zeit in den Werkstätten und bei den Heimarbeitern, und endlich noch die Frage, ob es etwa möglich wäre, die Thätigkeit der Hausindustrie auf diesem Gebiete völlig auszuschließen und die Arbeiten aus¬ schließlich in Werkstätten vorzunehmen. Ich halte es — fügte Herr von Boetticher in Bezug auf die letzte Frage wörtlich hinzu — vorläufig nicht wohl für möglich; ich glaube kaum, daß man so weit wird gehen können. Aber jedenfalls muß die Frage eingehend erörtert werden; und wenn man nicht so weit gehen kann, wird es geboten sein, darüber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/354>, abgerufen am 06.01.2025.