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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Anklage erheben und vertreten, nicht außer acht gelassen wird, daß der Mensch
bei voller Überzeugung und ohne bösen Willen oder Nachlässigkeit dem Irrtum
zugänglich ist.

Wir stellen dem Essener Prozeß noch ein weiteres Beispiel an die Seite.
Vor längerer Zeit stand in einer östlichen Provinz ein bejahrter Mann vor¬
laut und auffällig lebhaft vor den Geschwornen. Er war Hausknecht und
hatte sich in einem Schcmklokale mißliebig gemacht. Die Gäste hatten ihn
hinausgeworfen und auch noch vor dem Lokale geprügelt. Die Sache kam
vor das Schöffengericht, und er hielt hier, abweichend von vielen andern
Zeugenaussagen, hartnäckig daran fest, daß er vor dem Lokale barhaupt auf
den Kopf geschlagen worden sei, während eine Reihe von Zeugen aussagten,
daß er mit seiner Mütze bedeckt gewesen sei. Seine anscheinend eigensinnige
Überzeugungstreue wurde als Verstocktheit und als geflissentlicher Meineid
aufgefaßt, und der bis dahin unbestrafte, allen sozialdemokratischen Anschauungen
fernstehende Mann zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, ohne daß
sich eine Feder für ihn rührte. Der Vorfall, über den der schuldig befundne
ein mutmaßlich unrichtiges Zeugnis abgelegt hat, war an sich gewiß viel un¬
bedeutender als der, über den die Sozialdemokraten in dem Schröderschen
Prozeß vernommen worden sind, und seine Erregung, die eine irrtümliche
Wahrnehmung so leicht erklärlich macht, war bei den gegen ihn verübten
Thätlichkeiten doch gewiß nicht geringer, als die der Sozialdemokraten bei
ihrer Entfernung aus der von ihnen besuchten Versammlung. Der Fall be¬
weist, daß die Sozialdemokraten sich besonders über die Geschwvrnensprüche
zu beklagen keine Veranlassung haben. Die in dem Schröderschen Prozeß
verurteilten verdanken es nur ihrem staatsfeindlichen Gebahren, daß sich die
allgemeine Aufmerksamkeit auf ihren Prozeß gelenkt hat und so die öffentliche
Meinung in den Stand gesetzt wurde, an dem gefüllten Urteile Kritik zu üben
und für die Verurteilten um Gnade zu bitten.

Viel eher als bei den Geschwornen ließe sich vielleicht bei dein Berufs¬
richter eine gewisse politische Befangenheit nachweisen. Wir wollen hier nicht
auf die Urteile der Kulturkainpfzeit eingehen, nicht auf das Urteil, das den
Mitgliedern des Reichstags verbietet, eine Entschädigung für die ihnen durch
Wahrnehmung der Neichstagssitzungen erwachsenden baren Auslagen aus
Privatmitteln anzunehmen, die Gewährung solcher Bezüge einer unlautern
Handlung gleichstellt und die Bezüge nach preußischem allgemeinem Landrecht
dem Fiskus für verfallen erklärt, auch nicht auf die Urteile, die der Presse
das Recht der Besprechung von Mißständen beschneiden, selbst wenn diese Be¬
sprechung nicht bloß durchgängig gutgläubig abgefaßt ist, sondern sich auch
zum größten Teil als thatsächlich wahr erwiesen hat und dem Gemeinwohl
durch Aufdeckung arger Zustände förderlich gewesen ist. Alle diese Urteile
liegen uns zu nahe, als daß ihre geschichtliche Würdigung ganz unbefangen
Seil? könnte. Wohl aber dürfen wir an jene Entscheidung des ehemaligen


Anklage erheben und vertreten, nicht außer acht gelassen wird, daß der Mensch
bei voller Überzeugung und ohne bösen Willen oder Nachlässigkeit dem Irrtum
zugänglich ist.

Wir stellen dem Essener Prozeß noch ein weiteres Beispiel an die Seite.
Vor längerer Zeit stand in einer östlichen Provinz ein bejahrter Mann vor¬
laut und auffällig lebhaft vor den Geschwornen. Er war Hausknecht und
hatte sich in einem Schcmklokale mißliebig gemacht. Die Gäste hatten ihn
hinausgeworfen und auch noch vor dem Lokale geprügelt. Die Sache kam
vor das Schöffengericht, und er hielt hier, abweichend von vielen andern
Zeugenaussagen, hartnäckig daran fest, daß er vor dem Lokale barhaupt auf
den Kopf geschlagen worden sei, während eine Reihe von Zeugen aussagten,
daß er mit seiner Mütze bedeckt gewesen sei. Seine anscheinend eigensinnige
Überzeugungstreue wurde als Verstocktheit und als geflissentlicher Meineid
aufgefaßt, und der bis dahin unbestrafte, allen sozialdemokratischen Anschauungen
fernstehende Mann zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, ohne daß
sich eine Feder für ihn rührte. Der Vorfall, über den der schuldig befundne
ein mutmaßlich unrichtiges Zeugnis abgelegt hat, war an sich gewiß viel un¬
bedeutender als der, über den die Sozialdemokraten in dem Schröderschen
Prozeß vernommen worden sind, und seine Erregung, die eine irrtümliche
Wahrnehmung so leicht erklärlich macht, war bei den gegen ihn verübten
Thätlichkeiten doch gewiß nicht geringer, als die der Sozialdemokraten bei
ihrer Entfernung aus der von ihnen besuchten Versammlung. Der Fall be¬
weist, daß die Sozialdemokraten sich besonders über die Geschwvrnensprüche
zu beklagen keine Veranlassung haben. Die in dem Schröderschen Prozeß
verurteilten verdanken es nur ihrem staatsfeindlichen Gebahren, daß sich die
allgemeine Aufmerksamkeit auf ihren Prozeß gelenkt hat und so die öffentliche
Meinung in den Stand gesetzt wurde, an dem gefüllten Urteile Kritik zu üben
und für die Verurteilten um Gnade zu bitten.

Viel eher als bei den Geschwornen ließe sich vielleicht bei dein Berufs¬
richter eine gewisse politische Befangenheit nachweisen. Wir wollen hier nicht
auf die Urteile der Kulturkainpfzeit eingehen, nicht auf das Urteil, das den
Mitgliedern des Reichstags verbietet, eine Entschädigung für die ihnen durch
Wahrnehmung der Neichstagssitzungen erwachsenden baren Auslagen aus
Privatmitteln anzunehmen, die Gewährung solcher Bezüge einer unlautern
Handlung gleichstellt und die Bezüge nach preußischem allgemeinem Landrecht
dem Fiskus für verfallen erklärt, auch nicht auf die Urteile, die der Presse
das Recht der Besprechung von Mißständen beschneiden, selbst wenn diese Be¬
sprechung nicht bloß durchgängig gutgläubig abgefaßt ist, sondern sich auch
zum größten Teil als thatsächlich wahr erwiesen hat und dem Gemeinwohl
durch Aufdeckung arger Zustände förderlich gewesen ist. Alle diese Urteile
liegen uns zu nahe, als daß ihre geschichtliche Würdigung ganz unbefangen
Seil? könnte. Wohl aber dürfen wir an jene Entscheidung des ehemaligen


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[0322] Anklage erheben und vertreten, nicht außer acht gelassen wird, daß der Mensch bei voller Überzeugung und ohne bösen Willen oder Nachlässigkeit dem Irrtum zugänglich ist. Wir stellen dem Essener Prozeß noch ein weiteres Beispiel an die Seite. Vor längerer Zeit stand in einer östlichen Provinz ein bejahrter Mann vor¬ laut und auffällig lebhaft vor den Geschwornen. Er war Hausknecht und hatte sich in einem Schcmklokale mißliebig gemacht. Die Gäste hatten ihn hinausgeworfen und auch noch vor dem Lokale geprügelt. Die Sache kam vor das Schöffengericht, und er hielt hier, abweichend von vielen andern Zeugenaussagen, hartnäckig daran fest, daß er vor dem Lokale barhaupt auf den Kopf geschlagen worden sei, während eine Reihe von Zeugen aussagten, daß er mit seiner Mütze bedeckt gewesen sei. Seine anscheinend eigensinnige Überzeugungstreue wurde als Verstocktheit und als geflissentlicher Meineid aufgefaßt, und der bis dahin unbestrafte, allen sozialdemokratischen Anschauungen fernstehende Mann zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, ohne daß sich eine Feder für ihn rührte. Der Vorfall, über den der schuldig befundne ein mutmaßlich unrichtiges Zeugnis abgelegt hat, war an sich gewiß viel un¬ bedeutender als der, über den die Sozialdemokraten in dem Schröderschen Prozeß vernommen worden sind, und seine Erregung, die eine irrtümliche Wahrnehmung so leicht erklärlich macht, war bei den gegen ihn verübten Thätlichkeiten doch gewiß nicht geringer, als die der Sozialdemokraten bei ihrer Entfernung aus der von ihnen besuchten Versammlung. Der Fall be¬ weist, daß die Sozialdemokraten sich besonders über die Geschwvrnensprüche zu beklagen keine Veranlassung haben. Die in dem Schröderschen Prozeß verurteilten verdanken es nur ihrem staatsfeindlichen Gebahren, daß sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihren Prozeß gelenkt hat und so die öffentliche Meinung in den Stand gesetzt wurde, an dem gefüllten Urteile Kritik zu üben und für die Verurteilten um Gnade zu bitten. Viel eher als bei den Geschwornen ließe sich vielleicht bei dein Berufs¬ richter eine gewisse politische Befangenheit nachweisen. Wir wollen hier nicht auf die Urteile der Kulturkainpfzeit eingehen, nicht auf das Urteil, das den Mitgliedern des Reichstags verbietet, eine Entschädigung für die ihnen durch Wahrnehmung der Neichstagssitzungen erwachsenden baren Auslagen aus Privatmitteln anzunehmen, die Gewährung solcher Bezüge einer unlautern Handlung gleichstellt und die Bezüge nach preußischem allgemeinem Landrecht dem Fiskus für verfallen erklärt, auch nicht auf die Urteile, die der Presse das Recht der Besprechung von Mißständen beschneiden, selbst wenn diese Be¬ sprechung nicht bloß durchgängig gutgläubig abgefaßt ist, sondern sich auch zum größten Teil als thatsächlich wahr erwiesen hat und dem Gemeinwohl durch Aufdeckung arger Zustände förderlich gewesen ist. Alle diese Urteile liegen uns zu nahe, als daß ihre geschichtliche Würdigung ganz unbefangen Seil? könnte. Wohl aber dürfen wir an jene Entscheidung des ehemaligen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/322>, abgerufen am 06.01.2025.