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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Würdigung gelangen werden, mag zweifelhaft sein, aber es sollte nicht verkannt
werden, daß wir wenigstens zur Zeit von einer solchen Theorie noch weit
entfernt sind. Die wenigen Grundsätze, die man dafür ausgeben möchte, und
die bis zur Ermüdung immer wieder je nach Bedarf vorgeplappert werden,
sind Irrlehren. Theoretisch unbestritten ist der Grundsatz, daß man dem Ver¬
brecher seine Schuld vollständig nachweisen, jeden von ihm erhobnen noch so
unwahrscheinlichen, aber möglichen Einwand widerlegen müsse, daß er zwar
das Recht habe, sich zu verteidigen, aber nicht dazu verpflichtet sei. Bei tag¬
täglich wiederkehrenden Ausreden pflegt man sich aber über einen solchen Grundsatz
unbewußt hinwegzusetzen. Zeugen für die Ausführung eines Verbrechens giebt
es doch verhältnismäßig nur selten, und der Dieb, der im Besitze der gestohlnen
Sache betroffen wird, sagt natürlich, daß er sie von einem unbekannten Manne,
der gerade des Weges gekommen sei, gekauft habe. Uuter so abgedroschnem
und doch durch Gegenbeweis nicht widerlegbarem Einwände wird die Straf¬
rechtspflege nicht leiden, die falsche Theorie geht nämlich dabei unbemerkt in die
Brüche, und die Einwände werden einfach als nicht der Berücksichtigung wert
behandelt. In weniger gewöhnlichen Fällen aber richtet jene Theorie bei ge¬
lehrten und ungelehrten Richtern großes Unheil an. Ein Mann, der als
Klempner von Beruf falsches Geld herzustellen versteht, seit Wochen arbeitslos
herumbummelt, ohne daß eine zulängliche Erklärung vorhanden ist, woher er
die Mittel zu seinem Unterhalt nimmt, lenkt beim mehrtägigen Aufenthalt in
einer größern Stadt durch ein geringfügiges Vergehen die Aufmerksamkeit der
Polizei auf sich und wird in dem Besitze einer größern Anzahl falscher Zwei¬
markstücke befunden. Der Mann hat die besten Aussichten, von einem Münz¬
verbrechen freigesprochen zu werden, wenn er verschmitzt genug ist, über den
Erwerb des falschen Geldes und über die Quellen zu seinem Unterhalt jede
Auskunft zu verweigern. In der That ist ein solcher Mann freigesprochen
worden. Jede Ausflucht hätte sich sicherlich als eine ihn belastende Lüge
herausgestellt, sein Schweigen wurde aber nicht als ausreichende Überführung,
sondern als die Wahrnehmung eines ihm zustehenden Rechts angesehen. Das
sind die Folgen einer Theorie, die bei genauer Prüfung zu dem handgreif¬
lichen Widersinn führt, zu dem sich auch der verwegenste Verteidiger nicht
wird bekennen wollen, daß nämlich jeder Entlastungsbeweis überflüssig, ja
sogar verwerflich sei. Liegt der volle Beweis der Schuld dem Gerichtshofe
ob, ohne daß dem Angeklagten zugemutet werden darf, sich von dringlichen
Verdacht zu reinigen, dann muß entweder der Angeklagte so unzweifelhaft und
unwiderlegbar überführt sein, daß eine Entlastung unmöglich ist, oder er muß,
wenn die Überführung nicht so unzweifelhaft ist, daß die Möglichkeit seiner
Unschuld vollständig ausgeschlossen bleibt, auch ohne besondern Entlastungs¬
beweis freigesprochen werden. Da sich aber wohl kein vernünftiger Mensch
finden wird, der diese Folgerung für annehmbar und den Entlastnngsbeweis
für entbehrlich hielte, so ist es klar, daß dem Angeklagten nicht nur das Recht,


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

Würdigung gelangen werden, mag zweifelhaft sein, aber es sollte nicht verkannt
werden, daß wir wenigstens zur Zeit von einer solchen Theorie noch weit
entfernt sind. Die wenigen Grundsätze, die man dafür ausgeben möchte, und
die bis zur Ermüdung immer wieder je nach Bedarf vorgeplappert werden,
sind Irrlehren. Theoretisch unbestritten ist der Grundsatz, daß man dem Ver¬
brecher seine Schuld vollständig nachweisen, jeden von ihm erhobnen noch so
unwahrscheinlichen, aber möglichen Einwand widerlegen müsse, daß er zwar
das Recht habe, sich zu verteidigen, aber nicht dazu verpflichtet sei. Bei tag¬
täglich wiederkehrenden Ausreden pflegt man sich aber über einen solchen Grundsatz
unbewußt hinwegzusetzen. Zeugen für die Ausführung eines Verbrechens giebt
es doch verhältnismäßig nur selten, und der Dieb, der im Besitze der gestohlnen
Sache betroffen wird, sagt natürlich, daß er sie von einem unbekannten Manne,
der gerade des Weges gekommen sei, gekauft habe. Uuter so abgedroschnem
und doch durch Gegenbeweis nicht widerlegbarem Einwände wird die Straf¬
rechtspflege nicht leiden, die falsche Theorie geht nämlich dabei unbemerkt in die
Brüche, und die Einwände werden einfach als nicht der Berücksichtigung wert
behandelt. In weniger gewöhnlichen Fällen aber richtet jene Theorie bei ge¬
lehrten und ungelehrten Richtern großes Unheil an. Ein Mann, der als
Klempner von Beruf falsches Geld herzustellen versteht, seit Wochen arbeitslos
herumbummelt, ohne daß eine zulängliche Erklärung vorhanden ist, woher er
die Mittel zu seinem Unterhalt nimmt, lenkt beim mehrtägigen Aufenthalt in
einer größern Stadt durch ein geringfügiges Vergehen die Aufmerksamkeit der
Polizei auf sich und wird in dem Besitze einer größern Anzahl falscher Zwei¬
markstücke befunden. Der Mann hat die besten Aussichten, von einem Münz¬
verbrechen freigesprochen zu werden, wenn er verschmitzt genug ist, über den
Erwerb des falschen Geldes und über die Quellen zu seinem Unterhalt jede
Auskunft zu verweigern. In der That ist ein solcher Mann freigesprochen
worden. Jede Ausflucht hätte sich sicherlich als eine ihn belastende Lüge
herausgestellt, sein Schweigen wurde aber nicht als ausreichende Überführung,
sondern als die Wahrnehmung eines ihm zustehenden Rechts angesehen. Das
sind die Folgen einer Theorie, die bei genauer Prüfung zu dem handgreif¬
lichen Widersinn führt, zu dem sich auch der verwegenste Verteidiger nicht
wird bekennen wollen, daß nämlich jeder Entlastungsbeweis überflüssig, ja
sogar verwerflich sei. Liegt der volle Beweis der Schuld dem Gerichtshofe
ob, ohne daß dem Angeklagten zugemutet werden darf, sich von dringlichen
Verdacht zu reinigen, dann muß entweder der Angeklagte so unzweifelhaft und
unwiderlegbar überführt sein, daß eine Entlastung unmöglich ist, oder er muß,
wenn die Überführung nicht so unzweifelhaft ist, daß die Möglichkeit seiner
Unschuld vollständig ausgeschlossen bleibt, auch ohne besondern Entlastungs¬
beweis freigesprochen werden. Da sich aber wohl kein vernünftiger Mensch
finden wird, der diese Folgerung für annehmbar und den Entlastnngsbeweis
für entbehrlich hielte, so ist es klar, daß dem Angeklagten nicht nur das Recht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/316>, abgerufen am 06.01.2025.