Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches jedesmal eine Woche lang. Diesmal ward der Fall Levy als Gelegenheit ergriffen, Maßgebliches und Unmaßgebliches jedesmal eine Woche lang. Diesmal ward der Fall Levy als Gelegenheit ergriffen, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0295" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223879"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_918" prev="#ID_917" next="#ID_919"> jedesmal eine Woche lang. Diesmal ward der Fall Levy als Gelegenheit ergriffen,<lb/> obwohl er nichts absonderliches an sich hat und nur ein gewöhnlicher Raubmord<lb/> ist wie andre Raubmorde. Für Berliner Geldschrankbesitzcr allerdings liegt ein<lb/> Grund zur Aufregung in den beiden Umstanden, daß den Bttckerjungen Hausschlüssel<lb/> anvertraut werden, und daß sich die Berliner Kriminnlpolizei durch die gebotne<lb/> Sonntagsruhe abhalte» läßt, Verbrecher mit den geeigneten Maßregeln zu verfolgen,<lb/> aber kriminalistisch hat der Fall nichts besonders aufregendes. Wenn man das<lb/> aufregende in dem jugendlichen Alter der Verbrecher findet, so ist dagegen zu bemerken,<lb/> daß in den letzten Monaten ein Dutzend Fälle durch die Zeitungen gegangen sind,<lb/> wo die Mörder uoch im Knabenalter standen. Auch ist bei keiner der bekannten<lb/> kriminalistischen Theorien einzusehen, warum Verbrechen, wenn sie einmal vorkommen,<lb/> nicht ebenso gut von Jünglingen wie von Männern begangen werden sollten. Die<lb/> Erbsünde der orthodoxen Theorie ist in jungen Leuten so gut wirksam wie in alten,<lb/> und bei der Annahme einer erblichen Belastung oder der angebornen moral iuMnity,<lb/> eines Gehirnfehlers, ist der Unglückliche in jedem Augenblicke seines Lebens ein Ver¬<lb/> brecher, sodaß es uur entweder dem Mangel an Gelegenheit oder körperlicher<lb/> Schwäche zu danken ist, wenn er keine Verbrechen verübt. Bei der Annahme<lb/> einer von Motiven unabhängigen Wahlfreiheit vollends ist man überhaupt nicht<lb/> berechtigt, sich über irgend eine That zu verwundern -- gute wie böse Thaten<lb/> entspringen da aus einer geheimnisvollen und unerforschlichen Tiefe, ohne sich an<lb/> ein Gesetz zu kehren, das eine Berechnung möglich machen könnte. Wir unsrerseits<lb/> sind nur Laien und Empiriker und glauben aus der Erfahrung gelernt zu haben,<lb/> daß in jeder der umlaufenden Theorien ein Wahrheitskern steckt. Daß Verbrechen<lb/> in großer Zahl durch äußere Verhältnisse hervorgebracht werden, das wird schon<lb/> durch den bekannten Parallelismus der Zahl der Diebstähle mit den Getreide¬<lb/> preisen bewiesen. Aber die äußern Umstände allein sind es doch nicht, was die<lb/> Verbrechen verursacht, wie einerseits solche Notleidenden beweisen, die lieber ins<lb/> Wasser gehen als stehlen, und andrerseits die reichen Ladendiebinnen, die man mit<lb/> Kleptomanie entschuldigt. Wir glauben uicht, daß diese Entschuldigung in allen<lb/> oder auch nur in den meisten Fällen zulässig ist, aber in einigen ist sie es gewiß.<lb/> Da haben wir die moral inWnit^. Diese verschuldet zweifellos unzählige Ver¬<lb/> brechen, und sie ist sehr verschiedner Art. Dem einen fehlt der Wahrheitssinn,<lb/> das Lügen ist ihm so natürlich wie das Atmen, dem andern fehlt jeder Gerechtigkeits¬<lb/> sinn, dem dritten das Mitleid, und während manche beim Anblick eiues Blut-<lb/> tröpfleius ohnmächtig werden, sodaß sie keine Taube schlachten können, macht es<lb/> andern Vergnügen, Blut fließen zu sehen. Ganze Völker leiden an dem Maugel<lb/> gewisser sittlicher Empfindungen; so sollen die Chinesen weder die Dankbarkeit noch<lb/> das Ehrgefühl kennen. Vielleicht giebt es überhaupt keinen Menschen, der nicht<lb/> in einem Punkte sittlich beselt wäre, wie es auch keinen giebt, der nicht einen<lb/> Sparren hätte; vielleicht sind alle sittlichen Fehler bloß Übertreibungen oder un¬<lb/> vermeidliche Kehrseiten guter und notwendiger sittlicher Eigenschaften, Kehrseiten<lb/> und Übertreibungen, die ganz allgemein port'ommeu, aber nnr bei einer gewissen<lb/> Stärke, unter gewissen Umständen, oder beim Fehlen ergänzender Gegengewichte<lb/> zum Verbrechen sichren. Und da hätten wir die Erbsünde', anthropologisch ver¬<lb/> standen. Indem nun aber die Zahl der das menschliche Handeln bestimmenden<lb/> Ursachen so groß und das Geflecht ihres Jneinandergreifens so verwickelt ist, daß<lb/> sich ihr Ergebnis so schwer vorausbestimmen läßt wie das Wetter, indem dazu<lb/> anch uoch dieses Ursachengetriebe in einem Dunkel wirkt, das nie ein Röntgen mit<lb/> seinen Strahlen durchleuchten wird, indem solchergestalt viele menschliche Handlungen</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0295]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
jedesmal eine Woche lang. Diesmal ward der Fall Levy als Gelegenheit ergriffen,
obwohl er nichts absonderliches an sich hat und nur ein gewöhnlicher Raubmord
ist wie andre Raubmorde. Für Berliner Geldschrankbesitzcr allerdings liegt ein
Grund zur Aufregung in den beiden Umstanden, daß den Bttckerjungen Hausschlüssel
anvertraut werden, und daß sich die Berliner Kriminnlpolizei durch die gebotne
Sonntagsruhe abhalte» läßt, Verbrecher mit den geeigneten Maßregeln zu verfolgen,
aber kriminalistisch hat der Fall nichts besonders aufregendes. Wenn man das
aufregende in dem jugendlichen Alter der Verbrecher findet, so ist dagegen zu bemerken,
daß in den letzten Monaten ein Dutzend Fälle durch die Zeitungen gegangen sind,
wo die Mörder uoch im Knabenalter standen. Auch ist bei keiner der bekannten
kriminalistischen Theorien einzusehen, warum Verbrechen, wenn sie einmal vorkommen,
nicht ebenso gut von Jünglingen wie von Männern begangen werden sollten. Die
Erbsünde der orthodoxen Theorie ist in jungen Leuten so gut wirksam wie in alten,
und bei der Annahme einer erblichen Belastung oder der angebornen moral iuMnity,
eines Gehirnfehlers, ist der Unglückliche in jedem Augenblicke seines Lebens ein Ver¬
brecher, sodaß es uur entweder dem Mangel an Gelegenheit oder körperlicher
Schwäche zu danken ist, wenn er keine Verbrechen verübt. Bei der Annahme
einer von Motiven unabhängigen Wahlfreiheit vollends ist man überhaupt nicht
berechtigt, sich über irgend eine That zu verwundern -- gute wie böse Thaten
entspringen da aus einer geheimnisvollen und unerforschlichen Tiefe, ohne sich an
ein Gesetz zu kehren, das eine Berechnung möglich machen könnte. Wir unsrerseits
sind nur Laien und Empiriker und glauben aus der Erfahrung gelernt zu haben,
daß in jeder der umlaufenden Theorien ein Wahrheitskern steckt. Daß Verbrechen
in großer Zahl durch äußere Verhältnisse hervorgebracht werden, das wird schon
durch den bekannten Parallelismus der Zahl der Diebstähle mit den Getreide¬
preisen bewiesen. Aber die äußern Umstände allein sind es doch nicht, was die
Verbrechen verursacht, wie einerseits solche Notleidenden beweisen, die lieber ins
Wasser gehen als stehlen, und andrerseits die reichen Ladendiebinnen, die man mit
Kleptomanie entschuldigt. Wir glauben uicht, daß diese Entschuldigung in allen
oder auch nur in den meisten Fällen zulässig ist, aber in einigen ist sie es gewiß.
Da haben wir die moral inWnit^. Diese verschuldet zweifellos unzählige Ver¬
brechen, und sie ist sehr verschiedner Art. Dem einen fehlt der Wahrheitssinn,
das Lügen ist ihm so natürlich wie das Atmen, dem andern fehlt jeder Gerechtigkeits¬
sinn, dem dritten das Mitleid, und während manche beim Anblick eiues Blut-
tröpfleius ohnmächtig werden, sodaß sie keine Taube schlachten können, macht es
andern Vergnügen, Blut fließen zu sehen. Ganze Völker leiden an dem Maugel
gewisser sittlicher Empfindungen; so sollen die Chinesen weder die Dankbarkeit noch
das Ehrgefühl kennen. Vielleicht giebt es überhaupt keinen Menschen, der nicht
in einem Punkte sittlich beselt wäre, wie es auch keinen giebt, der nicht einen
Sparren hätte; vielleicht sind alle sittlichen Fehler bloß Übertreibungen oder un¬
vermeidliche Kehrseiten guter und notwendiger sittlicher Eigenschaften, Kehrseiten
und Übertreibungen, die ganz allgemein port'ommeu, aber nnr bei einer gewissen
Stärke, unter gewissen Umständen, oder beim Fehlen ergänzender Gegengewichte
zum Verbrechen sichren. Und da hätten wir die Erbsünde', anthropologisch ver¬
standen. Indem nun aber die Zahl der das menschliche Handeln bestimmenden
Ursachen so groß und das Geflecht ihres Jneinandergreifens so verwickelt ist, daß
sich ihr Ergebnis so schwer vorausbestimmen läßt wie das Wetter, indem dazu
anch uoch dieses Ursachengetriebe in einem Dunkel wirkt, das nie ein Röntgen mit
seinen Strahlen durchleuchten wird, indem solchergestalt viele menschliche Handlungen
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