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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Lebens vor kurzem erschienen ist, verdankt einer stillen Einkehr des hoch¬
verdienten Verfassers bei sich selbst ihre Entstehung und einer gewichtigen Er¬
wägung ihre Veröffentlichung. Über die erste sagt der Verfasser: "Das vor¬
liegende Buch ist die Frucht eines Jahres trauernder Einsamkeit. Ich habe
das siebzigste Jahr überschritten, das der Psalmist als das Durchschnittsmaß
unsers Erdenlebens bezeichnet, und der Erreichung dieses Ruhepunktes sind
Erlebnisse auf dem Fuße gefolgt, die mich in epochemachender Weise in die
Höhe gehoben und in die Tiefe hinabgetaucht haben. Die akademische Körper¬
schaft, der anzugehören seit einem Menschenalter mein Stolz ist, hat mich zum
Rektor ihres Jubiläumsjahres erkoren und so zum Träger eines unverge߬
lichen Ehrentages der deutsch-protestantischen Wissenschaft gemacht. Und
unmittelbar darnach habe ich zum Grabe eines lieben, süßen Enkeltöchterchens
und dann zum Grabe meiner treuen, liebevollen Lebensgefährtin zu pilgern
gehabt. So ist mir zu Mute geworden, als könne das, was etwa noch vor
mir liegt, nicht sonderlich mehr in Betracht kommen gegen das, worauf ich
zurückblicke, und es hat sich nur nahegelegt, in einer Durchmusterung des Er¬
lebten mein Haus zu bestellen." Und die Erwägung, die ihn seine Erinnerungen
weitern Lebenskreisen darbieten läßt, drückt er mit den Worten aus: "Unser
deutsches Leben im großen und ganzen hat in den siebzig Jahren meines Teil-
nehmers einen so ungeheuern Umschwung erfahren, daß dem jüngern Geschlecht
der lebendige Zusammenhang mit den frühern Zeiten des Jahrhunderts
bereits entschwindet und ihr Bild fremd wird. Und doch wäre es in mehr
als einer Hinsicht recht sehr zu wünschen, daß, wie die heilige Schrift sagt,
"die Herzen der Kinder sich wieder zu den Vätern kehrten." Die außerordent¬
lichen Fortschritte, die wir gemacht haben, sind vorwiegend formaler und
äußerlicher Natur, und damit Hand in Hand gegangen ist mehrseitig ein Rück¬
schritt des geistig-sittlichen Lebens, oder wenigstens die Gefahr, sich dem Besten
zu entfremden, was je deutsche Herzen bewegt hat. Eine Gefahr, die, wenn
sie nicht beschworen wird, unser Volk trotz aller erreichten Machthöhe und
Lebensrührigkeit unaufhaltsamem Verfall und furchtbaren, auf lange hinaus
verwüstenden Krisen zutreiben würde. Da erscheint es als der letzte Liebes¬
dienst, den ein einzelner seinem Volke leisten kann, dem jüngern Geschlecht
lebendig vor Augen zu stellen, wie wir, die wir vor einem halben Jahrhundert
in Deutschland jung gewesen sind, das Rätsel des Menschenlebens angesehen
und seine Lösung angefaßt haben."

Es sind, wie aus diesen Worten hervorgeht, nicht die Jahrzehnte, in denen
der gefeierte akademische Lehrer Hunderte von begeisterten Schülern vor seinem
Katheder sah, in denen er sein "Leben Jesu" und seine große "neutestamentliche



°) A u ü in e i n e in Leb e ", Erinnerungen und Erfahrungen der jungem Jahre von
von Willibald Benschlng, Halle a. d, S,, Eugen Serien, ILMi,

Lebens vor kurzem erschienen ist, verdankt einer stillen Einkehr des hoch¬
verdienten Verfassers bei sich selbst ihre Entstehung und einer gewichtigen Er¬
wägung ihre Veröffentlichung. Über die erste sagt der Verfasser: „Das vor¬
liegende Buch ist die Frucht eines Jahres trauernder Einsamkeit. Ich habe
das siebzigste Jahr überschritten, das der Psalmist als das Durchschnittsmaß
unsers Erdenlebens bezeichnet, und der Erreichung dieses Ruhepunktes sind
Erlebnisse auf dem Fuße gefolgt, die mich in epochemachender Weise in die
Höhe gehoben und in die Tiefe hinabgetaucht haben. Die akademische Körper¬
schaft, der anzugehören seit einem Menschenalter mein Stolz ist, hat mich zum
Rektor ihres Jubiläumsjahres erkoren und so zum Träger eines unverge߬
lichen Ehrentages der deutsch-protestantischen Wissenschaft gemacht. Und
unmittelbar darnach habe ich zum Grabe eines lieben, süßen Enkeltöchterchens
und dann zum Grabe meiner treuen, liebevollen Lebensgefährtin zu pilgern
gehabt. So ist mir zu Mute geworden, als könne das, was etwa noch vor
mir liegt, nicht sonderlich mehr in Betracht kommen gegen das, worauf ich
zurückblicke, und es hat sich nur nahegelegt, in einer Durchmusterung des Er¬
lebten mein Haus zu bestellen." Und die Erwägung, die ihn seine Erinnerungen
weitern Lebenskreisen darbieten läßt, drückt er mit den Worten aus: „Unser
deutsches Leben im großen und ganzen hat in den siebzig Jahren meines Teil-
nehmers einen so ungeheuern Umschwung erfahren, daß dem jüngern Geschlecht
der lebendige Zusammenhang mit den frühern Zeiten des Jahrhunderts
bereits entschwindet und ihr Bild fremd wird. Und doch wäre es in mehr
als einer Hinsicht recht sehr zu wünschen, daß, wie die heilige Schrift sagt,
„die Herzen der Kinder sich wieder zu den Vätern kehrten." Die außerordent¬
lichen Fortschritte, die wir gemacht haben, sind vorwiegend formaler und
äußerlicher Natur, und damit Hand in Hand gegangen ist mehrseitig ein Rück¬
schritt des geistig-sittlichen Lebens, oder wenigstens die Gefahr, sich dem Besten
zu entfremden, was je deutsche Herzen bewegt hat. Eine Gefahr, die, wenn
sie nicht beschworen wird, unser Volk trotz aller erreichten Machthöhe und
Lebensrührigkeit unaufhaltsamem Verfall und furchtbaren, auf lange hinaus
verwüstenden Krisen zutreiben würde. Da erscheint es als der letzte Liebes¬
dienst, den ein einzelner seinem Volke leisten kann, dem jüngern Geschlecht
lebendig vor Augen zu stellen, wie wir, die wir vor einem halben Jahrhundert
in Deutschland jung gewesen sind, das Rätsel des Menschenlebens angesehen
und seine Lösung angefaßt haben."

Es sind, wie aus diesen Worten hervorgeht, nicht die Jahrzehnte, in denen
der gefeierte akademische Lehrer Hunderte von begeisterten Schülern vor seinem
Katheder sah, in denen er sein „Leben Jesu" und seine große „neutestamentliche



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[0288] Lebens vor kurzem erschienen ist, verdankt einer stillen Einkehr des hoch¬ verdienten Verfassers bei sich selbst ihre Entstehung und einer gewichtigen Er¬ wägung ihre Veröffentlichung. Über die erste sagt der Verfasser: „Das vor¬ liegende Buch ist die Frucht eines Jahres trauernder Einsamkeit. Ich habe das siebzigste Jahr überschritten, das der Psalmist als das Durchschnittsmaß unsers Erdenlebens bezeichnet, und der Erreichung dieses Ruhepunktes sind Erlebnisse auf dem Fuße gefolgt, die mich in epochemachender Weise in die Höhe gehoben und in die Tiefe hinabgetaucht haben. Die akademische Körper¬ schaft, der anzugehören seit einem Menschenalter mein Stolz ist, hat mich zum Rektor ihres Jubiläumsjahres erkoren und so zum Träger eines unverge߬ lichen Ehrentages der deutsch-protestantischen Wissenschaft gemacht. Und unmittelbar darnach habe ich zum Grabe eines lieben, süßen Enkeltöchterchens und dann zum Grabe meiner treuen, liebevollen Lebensgefährtin zu pilgern gehabt. So ist mir zu Mute geworden, als könne das, was etwa noch vor mir liegt, nicht sonderlich mehr in Betracht kommen gegen das, worauf ich zurückblicke, und es hat sich nur nahegelegt, in einer Durchmusterung des Er¬ lebten mein Haus zu bestellen." Und die Erwägung, die ihn seine Erinnerungen weitern Lebenskreisen darbieten läßt, drückt er mit den Worten aus: „Unser deutsches Leben im großen und ganzen hat in den siebzig Jahren meines Teil- nehmers einen so ungeheuern Umschwung erfahren, daß dem jüngern Geschlecht der lebendige Zusammenhang mit den frühern Zeiten des Jahrhunderts bereits entschwindet und ihr Bild fremd wird. Und doch wäre es in mehr als einer Hinsicht recht sehr zu wünschen, daß, wie die heilige Schrift sagt, „die Herzen der Kinder sich wieder zu den Vätern kehrten." Die außerordent¬ lichen Fortschritte, die wir gemacht haben, sind vorwiegend formaler und äußerlicher Natur, und damit Hand in Hand gegangen ist mehrseitig ein Rück¬ schritt des geistig-sittlichen Lebens, oder wenigstens die Gefahr, sich dem Besten zu entfremden, was je deutsche Herzen bewegt hat. Eine Gefahr, die, wenn sie nicht beschworen wird, unser Volk trotz aller erreichten Machthöhe und Lebensrührigkeit unaufhaltsamem Verfall und furchtbaren, auf lange hinaus verwüstenden Krisen zutreiben würde. Da erscheint es als der letzte Liebes¬ dienst, den ein einzelner seinem Volke leisten kann, dem jüngern Geschlecht lebendig vor Augen zu stellen, wie wir, die wir vor einem halben Jahrhundert in Deutschland jung gewesen sind, das Rätsel des Menschenlebens angesehen und seine Lösung angefaßt haben." Es sind, wie aus diesen Worten hervorgeht, nicht die Jahrzehnte, in denen der gefeierte akademische Lehrer Hunderte von begeisterten Schülern vor seinem Katheder sah, in denen er sein „Leben Jesu" und seine große „neutestamentliche °) A u ü in e i n e in Leb e », Erinnerungen und Erfahrungen der jungem Jahre von von Willibald Benschlng, Halle a. d, S,, Eugen Serien, ILMi,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/288>, abgerufen am 06.01.2025.