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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Line Geschichte der Juden

heutzutage die maßgebenden Kreise, während sie unchristlich handeln, als Ver¬
treter und Beschützer des Christentums geberden. Es sind aber die einzelnen
Christen, die in der Welt leben, keineswegs weder überflüssig noch ohne Einfluß
auf den Verlauf der Weltbegöbenhciten. Sie erhalten die Überzeugung lebendig,
daß es Ideale giebt, denen die Wirklichkeit nicht entspricht, und daß gegen diese
schlechte Wirklichkeit angekämpft werden muß, und sie mildern die Härten der
auf Selbstsucht beruhenden Gesellschafts- und Rechtsordnung. Der Hauch, der
von diesen echten Christen ausgeht, durchdringt auch die übrige Menschheit
und erzeugt eine Menge halbe, Drittel-, Viertel- und Zehntelchristen, die zwar
im allgemeinen nach den selbstsüchtigen Grundsätzen der Welt leben, in vielen
einzelnen Fällen aber, durch ihr christliches Gewissen bewegt, von ihrem welt¬
lichen Recht so manches nachlassen: hier eine Wohlthat spenden, die nach den
Grundsätzen der Welt unvernünftig und unzulässig ist, dort auf die Eintreibung
einer Schuld, auf die Geltendmachung eines Privilegiums verzichten, sich einmal
mit einem bescheidnen Gewinn begnügen, wo sie einen großen machen könnten,
eine Ware, eine Arbeit, eine Leistung über den Marktpreis bezahlen. Wenn
das Mittelalter manche soziale Übel, die uns heute bedrücken, nicht kannte, so
hatte es das nicht den Gesetzen zu danken, die in der Meinung ausgeklügelt
wurden, damit den Sinn des Neuen Testaments zu treffen und die Absichten
Gottes zu verwirklichen, sondern dem Reichtum an Boden, der vor durch¬
geführter Geldwirtschaft nicht monopolisirt werden konnte, und dem Fehlen
der Maschine. Und wenn der grimme Haß der Armen und Unterdrückten
vorzugsweise die Juden traf und sich nicht so allgemein wie heute gegen die
Gesamtheit der herrschenden Klassen und gegen deren Vertreter, die Obrig¬
keiten, wendete, so kam das daher, daß das Christentum, obwohl man sich des
Widerspruchs der eignen Handlungsweise dagegen bewußt war, doch ernst ge¬
nommen und ehrlich gewollt wurde, und daß man daher bei allen Getauften,
auch bei den Obrigkeiten und bei den Reichen, annahm, sie handelten nur aus
Schwäche, nicht aus Grundsatz gegen die Nächstenliebe; und die brach ja auch
wirklich bei zahlreichen einzelnen Personen in großartigen Werken der Barm¬
herzigkeit und in Selbstaufopferungen, mit Bezeugung tiefer Reue über das
bisherige unchristliche Leben, hervor. Heute dagegen ist die Verleugnung der
Nächstenliebe Grundsatz. Erst jüngst wiederum ist in Berlin gegen zwei
Fleischersfrauen verhandelt worden, die einem reisenden Gesellen je ein Stückchen
Wurst und ein kleines Geldgeschenk gespendet hatten. Sie wurden vom Schöffen¬
gericht und vom Landgericht freigesprochen, der Staatsanwalt aber ging bis
ans Kammergericht. Dieses hat nun zwar seine Revision verworfen, die Ver¬
werfung aber nicht etwa damit begründet, daß seine Anklage als eine unsittliche
und widerchristliche Handlung an sich verwerflich sei, sondern nur damit, daß
die angezognen Landrechts- und Polizeivorschriften auf den Fall nicht paßten.
Unter diesen Umstünden kann das Volk nicht mehr annehmen, daß in den


Line Geschichte der Juden

heutzutage die maßgebenden Kreise, während sie unchristlich handeln, als Ver¬
treter und Beschützer des Christentums geberden. Es sind aber die einzelnen
Christen, die in der Welt leben, keineswegs weder überflüssig noch ohne Einfluß
auf den Verlauf der Weltbegöbenhciten. Sie erhalten die Überzeugung lebendig,
daß es Ideale giebt, denen die Wirklichkeit nicht entspricht, und daß gegen diese
schlechte Wirklichkeit angekämpft werden muß, und sie mildern die Härten der
auf Selbstsucht beruhenden Gesellschafts- und Rechtsordnung. Der Hauch, der
von diesen echten Christen ausgeht, durchdringt auch die übrige Menschheit
und erzeugt eine Menge halbe, Drittel-, Viertel- und Zehntelchristen, die zwar
im allgemeinen nach den selbstsüchtigen Grundsätzen der Welt leben, in vielen
einzelnen Fällen aber, durch ihr christliches Gewissen bewegt, von ihrem welt¬
lichen Recht so manches nachlassen: hier eine Wohlthat spenden, die nach den
Grundsätzen der Welt unvernünftig und unzulässig ist, dort auf die Eintreibung
einer Schuld, auf die Geltendmachung eines Privilegiums verzichten, sich einmal
mit einem bescheidnen Gewinn begnügen, wo sie einen großen machen könnten,
eine Ware, eine Arbeit, eine Leistung über den Marktpreis bezahlen. Wenn
das Mittelalter manche soziale Übel, die uns heute bedrücken, nicht kannte, so
hatte es das nicht den Gesetzen zu danken, die in der Meinung ausgeklügelt
wurden, damit den Sinn des Neuen Testaments zu treffen und die Absichten
Gottes zu verwirklichen, sondern dem Reichtum an Boden, der vor durch¬
geführter Geldwirtschaft nicht monopolisirt werden konnte, und dem Fehlen
der Maschine. Und wenn der grimme Haß der Armen und Unterdrückten
vorzugsweise die Juden traf und sich nicht so allgemein wie heute gegen die
Gesamtheit der herrschenden Klassen und gegen deren Vertreter, die Obrig¬
keiten, wendete, so kam das daher, daß das Christentum, obwohl man sich des
Widerspruchs der eignen Handlungsweise dagegen bewußt war, doch ernst ge¬
nommen und ehrlich gewollt wurde, und daß man daher bei allen Getauften,
auch bei den Obrigkeiten und bei den Reichen, annahm, sie handelten nur aus
Schwäche, nicht aus Grundsatz gegen die Nächstenliebe; und die brach ja auch
wirklich bei zahlreichen einzelnen Personen in großartigen Werken der Barm¬
herzigkeit und in Selbstaufopferungen, mit Bezeugung tiefer Reue über das
bisherige unchristliche Leben, hervor. Heute dagegen ist die Verleugnung der
Nächstenliebe Grundsatz. Erst jüngst wiederum ist in Berlin gegen zwei
Fleischersfrauen verhandelt worden, die einem reisenden Gesellen je ein Stückchen
Wurst und ein kleines Geldgeschenk gespendet hatten. Sie wurden vom Schöffen¬
gericht und vom Landgericht freigesprochen, der Staatsanwalt aber ging bis
ans Kammergericht. Dieses hat nun zwar seine Revision verworfen, die Ver¬
werfung aber nicht etwa damit begründet, daß seine Anklage als eine unsittliche
und widerchristliche Handlung an sich verwerflich sei, sondern nur damit, daß
die angezognen Landrechts- und Polizeivorschriften auf den Fall nicht paßten.
Unter diesen Umstünden kann das Volk nicht mehr annehmen, daß in den


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[0286] Line Geschichte der Juden heutzutage die maßgebenden Kreise, während sie unchristlich handeln, als Ver¬ treter und Beschützer des Christentums geberden. Es sind aber die einzelnen Christen, die in der Welt leben, keineswegs weder überflüssig noch ohne Einfluß auf den Verlauf der Weltbegöbenhciten. Sie erhalten die Überzeugung lebendig, daß es Ideale giebt, denen die Wirklichkeit nicht entspricht, und daß gegen diese schlechte Wirklichkeit angekämpft werden muß, und sie mildern die Härten der auf Selbstsucht beruhenden Gesellschafts- und Rechtsordnung. Der Hauch, der von diesen echten Christen ausgeht, durchdringt auch die übrige Menschheit und erzeugt eine Menge halbe, Drittel-, Viertel- und Zehntelchristen, die zwar im allgemeinen nach den selbstsüchtigen Grundsätzen der Welt leben, in vielen einzelnen Fällen aber, durch ihr christliches Gewissen bewegt, von ihrem welt¬ lichen Recht so manches nachlassen: hier eine Wohlthat spenden, die nach den Grundsätzen der Welt unvernünftig und unzulässig ist, dort auf die Eintreibung einer Schuld, auf die Geltendmachung eines Privilegiums verzichten, sich einmal mit einem bescheidnen Gewinn begnügen, wo sie einen großen machen könnten, eine Ware, eine Arbeit, eine Leistung über den Marktpreis bezahlen. Wenn das Mittelalter manche soziale Übel, die uns heute bedrücken, nicht kannte, so hatte es das nicht den Gesetzen zu danken, die in der Meinung ausgeklügelt wurden, damit den Sinn des Neuen Testaments zu treffen und die Absichten Gottes zu verwirklichen, sondern dem Reichtum an Boden, der vor durch¬ geführter Geldwirtschaft nicht monopolisirt werden konnte, und dem Fehlen der Maschine. Und wenn der grimme Haß der Armen und Unterdrückten vorzugsweise die Juden traf und sich nicht so allgemein wie heute gegen die Gesamtheit der herrschenden Klassen und gegen deren Vertreter, die Obrig¬ keiten, wendete, so kam das daher, daß das Christentum, obwohl man sich des Widerspruchs der eignen Handlungsweise dagegen bewußt war, doch ernst ge¬ nommen und ehrlich gewollt wurde, und daß man daher bei allen Getauften, auch bei den Obrigkeiten und bei den Reichen, annahm, sie handelten nur aus Schwäche, nicht aus Grundsatz gegen die Nächstenliebe; und die brach ja auch wirklich bei zahlreichen einzelnen Personen in großartigen Werken der Barm¬ herzigkeit und in Selbstaufopferungen, mit Bezeugung tiefer Reue über das bisherige unchristliche Leben, hervor. Heute dagegen ist die Verleugnung der Nächstenliebe Grundsatz. Erst jüngst wiederum ist in Berlin gegen zwei Fleischersfrauen verhandelt worden, die einem reisenden Gesellen je ein Stückchen Wurst und ein kleines Geldgeschenk gespendet hatten. Sie wurden vom Schöffen¬ gericht und vom Landgericht freigesprochen, der Staatsanwalt aber ging bis ans Kammergericht. Dieses hat nun zwar seine Revision verworfen, die Ver¬ werfung aber nicht etwa damit begründet, daß seine Anklage als eine unsittliche und widerchristliche Handlung an sich verwerflich sei, sondern nur damit, daß die angezognen Landrechts- und Polizeivorschriften auf den Fall nicht paßten. Unter diesen Umstünden kann das Volk nicht mehr annehmen, daß in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/286>, abgerufen am 06.01.2025.