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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Die preußischen Richter und Gerichtscissessoren

kleinste Fragen, mit ihren Eiden, die für den Gebildeten in der Regel gleich¬
bedeutend sind mit dem Verlust, für den Ungebildeten mit dem Gewinn des
Prozesses, mit den das Recht der Partei gefährdenden, Zeit und Kräfte der
Richter vergeudenden Urteilsthatbeständen und mit den Spitzfindigkeiten des
Reichsgerichts! Um hier Wandel zu schaffen, ist aber wiederum nichts weniger
notwendig, als eine Auswahl nach der Richterprüfung. Was not thut, ist
einzig und allein -- frisches Blut!

Trotz der Umschaffung der Justizgesetzgebung seit Ende der sechziger Jahre
hat man an keine Auffrischung des Nichterpersonals gedacht, und auch bei
der Reorganisation vom 1. Oktober 1879 hat man sich damit begnügt, nur
die der Zahl nach entbehrlichen Richter zu beseitigen. Frische Kräfte, wie
sie z. B. die Armee sort und fort erhält, um die Durchführung neuer Pläne
zu sichern, hat man ihr nicht zugeführt. Da darf man sich nicht wundern,
wenn noch im Jahre 1896 ein Oberlandesgericht eine Frage des Vormundschafts¬
rechts nach den Vorschriften des seit dem 1. Januar 1876 ausgehöhlten Titel 18
Teil II des Allgemeinen Landrechts beurteilt, wenn man es beim Landgerichte
erlebt, daß konkursrechtliche Fragen nach der preußischen Konkursordnung von
1855 beurteilt werden und bei Fragen des Grundbuchrechts dem Richter die
Bestimmungen der Hhpothekennovellen von 1853 vorschweben, wenn für die
freie Beweiswürdiguug der Neichszivilprozeßordnung kein Verständnis vorhanden
ist und z. B. Schriftvergleichungen unter Zuziehung irgend eines Subaltern¬
beamten als Schriftgelehrten vorgenommen werden. Greise sind nicht imstande,
neue Gedanken und Grundsätze in sich aufzunehmen. Sie führen ihr Amt
nicht kraft ihrer Gesetzeskeuntnis, sondern kraft ihrer Geschüftsroutine. Sie
lassen sich nicht von jüngern Kräften belehren, sondern ziehen diese mit in ihre
Schablone hinein. Fährt man in dieser Weise fort, dann wird es noch im
Jahre 1920 Richter geben, die nach römischem oder preußischem Recht urteilen,
wie jetzt noch nach der landrechtlichen Vvrmundschaftsordmmg, und die Ideen
des neuen bürgerlichen Gesetzbuchs werden dann nie zur vollen Entfaltung
kommen, sondern von den Schlingpflanzen, die sich ans dem Sumpfe der alten
Zeit um sie herumranken, erstickt werden.

Daher lege man entschlossen die Hand in die Wunde und beseitige zum
1. Januar 1900 alle Richter mit vollem Gehalt, die das fünfundsechzigste
Lebensjahr erreicht haben. Ein Kapital von etwa IV2 Millionen Mark ge¬
nügt, um ihnen auf Lebenszeit das zu gewähren, um das ihr Gehalt und
Wohnungsgeld ihre gesetzliche Pension übersteigt; sür die fernere Zukunft aber
bestimme man, daß jeder Richter nach Vollendung des siebzigsten Lebensjahres
mit seines Diensteinkommens in Pension tritt.

Die nächste Legislaturperiode wird ohne Zweifel wieder eine Nichter-
gehaltsvorlage bringen. Hält sie sich frei von dem Verdachte politischer Neben¬
absichten, so wird sie mit Beifall begrüßt werden. Bringt sie die völlige


Die preußischen Richter und Gerichtscissessoren

kleinste Fragen, mit ihren Eiden, die für den Gebildeten in der Regel gleich¬
bedeutend sind mit dem Verlust, für den Ungebildeten mit dem Gewinn des
Prozesses, mit den das Recht der Partei gefährdenden, Zeit und Kräfte der
Richter vergeudenden Urteilsthatbeständen und mit den Spitzfindigkeiten des
Reichsgerichts! Um hier Wandel zu schaffen, ist aber wiederum nichts weniger
notwendig, als eine Auswahl nach der Richterprüfung. Was not thut, ist
einzig und allein — frisches Blut!

Trotz der Umschaffung der Justizgesetzgebung seit Ende der sechziger Jahre
hat man an keine Auffrischung des Nichterpersonals gedacht, und auch bei
der Reorganisation vom 1. Oktober 1879 hat man sich damit begnügt, nur
die der Zahl nach entbehrlichen Richter zu beseitigen. Frische Kräfte, wie
sie z. B. die Armee sort und fort erhält, um die Durchführung neuer Pläne
zu sichern, hat man ihr nicht zugeführt. Da darf man sich nicht wundern,
wenn noch im Jahre 1896 ein Oberlandesgericht eine Frage des Vormundschafts¬
rechts nach den Vorschriften des seit dem 1. Januar 1876 ausgehöhlten Titel 18
Teil II des Allgemeinen Landrechts beurteilt, wenn man es beim Landgerichte
erlebt, daß konkursrechtliche Fragen nach der preußischen Konkursordnung von
1855 beurteilt werden und bei Fragen des Grundbuchrechts dem Richter die
Bestimmungen der Hhpothekennovellen von 1853 vorschweben, wenn für die
freie Beweiswürdiguug der Neichszivilprozeßordnung kein Verständnis vorhanden
ist und z. B. Schriftvergleichungen unter Zuziehung irgend eines Subaltern¬
beamten als Schriftgelehrten vorgenommen werden. Greise sind nicht imstande,
neue Gedanken und Grundsätze in sich aufzunehmen. Sie führen ihr Amt
nicht kraft ihrer Gesetzeskeuntnis, sondern kraft ihrer Geschüftsroutine. Sie
lassen sich nicht von jüngern Kräften belehren, sondern ziehen diese mit in ihre
Schablone hinein. Fährt man in dieser Weise fort, dann wird es noch im
Jahre 1920 Richter geben, die nach römischem oder preußischem Recht urteilen,
wie jetzt noch nach der landrechtlichen Vvrmundschaftsordmmg, und die Ideen
des neuen bürgerlichen Gesetzbuchs werden dann nie zur vollen Entfaltung
kommen, sondern von den Schlingpflanzen, die sich ans dem Sumpfe der alten
Zeit um sie herumranken, erstickt werden.

Daher lege man entschlossen die Hand in die Wunde und beseitige zum
1. Januar 1900 alle Richter mit vollem Gehalt, die das fünfundsechzigste
Lebensjahr erreicht haben. Ein Kapital von etwa IV2 Millionen Mark ge¬
nügt, um ihnen auf Lebenszeit das zu gewähren, um das ihr Gehalt und
Wohnungsgeld ihre gesetzliche Pension übersteigt; sür die fernere Zukunft aber
bestimme man, daß jeder Richter nach Vollendung des siebzigsten Lebensjahres
mit seines Diensteinkommens in Pension tritt.

Die nächste Legislaturperiode wird ohne Zweifel wieder eine Nichter-
gehaltsvorlage bringen. Hält sie sich frei von dem Verdachte politischer Neben¬
absichten, so wird sie mit Beifall begrüßt werden. Bringt sie die völlige


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[0197] Die preußischen Richter und Gerichtscissessoren kleinste Fragen, mit ihren Eiden, die für den Gebildeten in der Regel gleich¬ bedeutend sind mit dem Verlust, für den Ungebildeten mit dem Gewinn des Prozesses, mit den das Recht der Partei gefährdenden, Zeit und Kräfte der Richter vergeudenden Urteilsthatbeständen und mit den Spitzfindigkeiten des Reichsgerichts! Um hier Wandel zu schaffen, ist aber wiederum nichts weniger notwendig, als eine Auswahl nach der Richterprüfung. Was not thut, ist einzig und allein — frisches Blut! Trotz der Umschaffung der Justizgesetzgebung seit Ende der sechziger Jahre hat man an keine Auffrischung des Nichterpersonals gedacht, und auch bei der Reorganisation vom 1. Oktober 1879 hat man sich damit begnügt, nur die der Zahl nach entbehrlichen Richter zu beseitigen. Frische Kräfte, wie sie z. B. die Armee sort und fort erhält, um die Durchführung neuer Pläne zu sichern, hat man ihr nicht zugeführt. Da darf man sich nicht wundern, wenn noch im Jahre 1896 ein Oberlandesgericht eine Frage des Vormundschafts¬ rechts nach den Vorschriften des seit dem 1. Januar 1876 ausgehöhlten Titel 18 Teil II des Allgemeinen Landrechts beurteilt, wenn man es beim Landgerichte erlebt, daß konkursrechtliche Fragen nach der preußischen Konkursordnung von 1855 beurteilt werden und bei Fragen des Grundbuchrechts dem Richter die Bestimmungen der Hhpothekennovellen von 1853 vorschweben, wenn für die freie Beweiswürdiguug der Neichszivilprozeßordnung kein Verständnis vorhanden ist und z. B. Schriftvergleichungen unter Zuziehung irgend eines Subaltern¬ beamten als Schriftgelehrten vorgenommen werden. Greise sind nicht imstande, neue Gedanken und Grundsätze in sich aufzunehmen. Sie führen ihr Amt nicht kraft ihrer Gesetzeskeuntnis, sondern kraft ihrer Geschüftsroutine. Sie lassen sich nicht von jüngern Kräften belehren, sondern ziehen diese mit in ihre Schablone hinein. Fährt man in dieser Weise fort, dann wird es noch im Jahre 1920 Richter geben, die nach römischem oder preußischem Recht urteilen, wie jetzt noch nach der landrechtlichen Vvrmundschaftsordmmg, und die Ideen des neuen bürgerlichen Gesetzbuchs werden dann nie zur vollen Entfaltung kommen, sondern von den Schlingpflanzen, die sich ans dem Sumpfe der alten Zeit um sie herumranken, erstickt werden. Daher lege man entschlossen die Hand in die Wunde und beseitige zum 1. Januar 1900 alle Richter mit vollem Gehalt, die das fünfundsechzigste Lebensjahr erreicht haben. Ein Kapital von etwa IV2 Millionen Mark ge¬ nügt, um ihnen auf Lebenszeit das zu gewähren, um das ihr Gehalt und Wohnungsgeld ihre gesetzliche Pension übersteigt; sür die fernere Zukunft aber bestimme man, daß jeder Richter nach Vollendung des siebzigsten Lebensjahres mit seines Diensteinkommens in Pension tritt. Die nächste Legislaturperiode wird ohne Zweifel wieder eine Nichter- gehaltsvorlage bringen. Hält sie sich frei von dem Verdachte politischer Neben¬ absichten, so wird sie mit Beifall begrüßt werden. Bringt sie die völlige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/197>, abgerufen am 06.01.2025.