Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren gewachsen ist, wie kann sich dann das Material der Nichterkollegien ver¬ Die verfehlte Gesetzgebung also ist es, die zu den Mahnrufen der öffent¬ Unterstützt wird aber die öffentliche Meinung uoch durch andre Umstände. Gronzboten IV 1896 23
Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren gewachsen ist, wie kann sich dann das Material der Nichterkollegien ver¬ Die verfehlte Gesetzgebung also ist es, die zu den Mahnrufen der öffent¬ Unterstützt wird aber die öffentliche Meinung uoch durch andre Umstände. Gronzboten IV 1896 23
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223769"/> <fw type="header" place="top"> Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren</fw><lb/> <p xml:id="ID_534" prev="#ID_533"> gewachsen ist, wie kann sich dann das Material der Nichterkollegien ver¬<lb/> schlechtert haben? Fast nie erhält der Richter seine erste Anstellung im<lb/> Kollegium. Dorthin kommen nur jahrelang geübte Richter, und die Aufmerk¬<lb/> samkeit auf die Strafrichterkollegieu ist noch gewachsen, nachdem sich der<lb/> mahnende Ruf erhoben hatte, bei der Besetzung der Strafkammern ja recht<lb/> vorsichtig zu sein. Ein Sinken des Richterstandes ist also auch hier nicht zu<lb/> bemerken, wenn mau nicht entgegenhalten will: Woher kommt denn das<lb/> Mahnen und Warnen? Das war doch früher nicht! Mir liegt eine Über¬<lb/> sicht über die Strafkammerrechtsprechung erster Instanz bei einem Landgerichte<lb/> aus der Zeit vom 1. Oktober 1879 bis zum 31. Dezember 1893 vor. In<lb/> diesen 14^ Jahren hat die Strafkammer 4300 Urteile erster Instanz gefüllt.<lb/> Von ihnen sind im ganzen 202 zur Nachprüfung an das Reichsgericht gelangt,<lb/> von denen 74 wieder aufgehoben wurden. Aber nur in 38 Fällen weicht das dann<lb/> ergangene rechtskräftige Jnstanzurteil von dem ersten (ausgehöhlten) ab, und zwar<lb/> nur in 29 Fällen in Beurteilung der Schuldfrage, in deu 9 übrigen Füllen<lb/> nur im Strafmaße. Welch eine ausgezeichnete und prompte Rechtsprechung!<lb/> Von 4300 Urteilen kaum ein Prozent geändert! Wer auf die Anklagebank<lb/> kommt, der muß sich sagen, daß hier unwiderruflich sein Schicksal entschieden wird,<lb/> denn daß er der eine unter hundert sein sollte, dem es gelingt, eine Änderung<lb/> des Spruchs herbeizuführen, kann er unmöglich hoffen. Aber andrerseits —<lb/> in wie viel Fällen das klägliche Rechtsmittel der Revision nur, weil es völlig<lb/> unzureichend ist, nicht ergriffen wurde, in wie viel Fällen die Revision nur durch<lb/> Versäumung der dem Angeklagten nicht genügend bekannt gewordnen Formvvr-<lb/> schriftcn hinfällig wurde, das ist uukoutrollirbar, aber diese Fragen sind es,<lb/> die sich der öffentlichen Meinung aufdrängen gegenüber dem noch nie bestrittnen<lb/> Satze: Irren ist menschlich! Das Richterkollegium müßte unfehlbar sein, wenn<lb/> es in mehr als 99 von hundert Fällen immer das Richtige träfe.</p><lb/> <p xml:id="ID_535"> Die verfehlte Gesetzgebung also ist es, die zu den Mahnrufen der öffent¬<lb/> lichen Meinung geführt hat. Nicht das angebliche Sinken des Nichterstaudes, zu<lb/> dessen Feststellung gar keine Möglichkeit vorliegt, da sich die Richter früher auch<lb/> nur annähernd in ähnlichen Verhältnissen nie befunden haben, sondern die so<lb/> glänzend erscheinenden und doch so überaus besorgniserregenden Ergebnisse<lb/> der Rechtsprechung sind es, die die Kritik immer lebhafter und dringender<lb/> machen, ohne daß sie den Vorwurf verdiente, sich „immer dreister hervor-<lb/> zuwagen" an die richterlichen Urteile. Und was das Sinken der Unparteilichkeit<lb/> betrifft, so hat der Herr Abgeordnete offenbar die Geschichte der Errichtung<lb/> des Reichsgerichts in Leipzig vergessen. Sonst würde er eine solche Behauptung<lb/> nicht gewagt haben.</p><lb/> <p xml:id="ID_536" next="#ID_537"> Unterstützt wird aber die öffentliche Meinung uoch durch andre Umstände.<lb/> Nie zuvor haben Nichterkollegien unter so ungünstigen Verhältnissen gearbeitet<lb/> wie jetzt. Nie zuvor haben sie in zwei bis drei sechs- bis zwölfstündigen und</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Gronzboten IV 1896 23</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0185]
Die preußischen Richter und Gerichtsassessoren
gewachsen ist, wie kann sich dann das Material der Nichterkollegien ver¬
schlechtert haben? Fast nie erhält der Richter seine erste Anstellung im
Kollegium. Dorthin kommen nur jahrelang geübte Richter, und die Aufmerk¬
samkeit auf die Strafrichterkollegieu ist noch gewachsen, nachdem sich der
mahnende Ruf erhoben hatte, bei der Besetzung der Strafkammern ja recht
vorsichtig zu sein. Ein Sinken des Richterstandes ist also auch hier nicht zu
bemerken, wenn mau nicht entgegenhalten will: Woher kommt denn das
Mahnen und Warnen? Das war doch früher nicht! Mir liegt eine Über¬
sicht über die Strafkammerrechtsprechung erster Instanz bei einem Landgerichte
aus der Zeit vom 1. Oktober 1879 bis zum 31. Dezember 1893 vor. In
diesen 14^ Jahren hat die Strafkammer 4300 Urteile erster Instanz gefüllt.
Von ihnen sind im ganzen 202 zur Nachprüfung an das Reichsgericht gelangt,
von denen 74 wieder aufgehoben wurden. Aber nur in 38 Fällen weicht das dann
ergangene rechtskräftige Jnstanzurteil von dem ersten (ausgehöhlten) ab, und zwar
nur in 29 Fällen in Beurteilung der Schuldfrage, in deu 9 übrigen Füllen
nur im Strafmaße. Welch eine ausgezeichnete und prompte Rechtsprechung!
Von 4300 Urteilen kaum ein Prozent geändert! Wer auf die Anklagebank
kommt, der muß sich sagen, daß hier unwiderruflich sein Schicksal entschieden wird,
denn daß er der eine unter hundert sein sollte, dem es gelingt, eine Änderung
des Spruchs herbeizuführen, kann er unmöglich hoffen. Aber andrerseits —
in wie viel Fällen das klägliche Rechtsmittel der Revision nur, weil es völlig
unzureichend ist, nicht ergriffen wurde, in wie viel Fällen die Revision nur durch
Versäumung der dem Angeklagten nicht genügend bekannt gewordnen Formvvr-
schriftcn hinfällig wurde, das ist uukoutrollirbar, aber diese Fragen sind es,
die sich der öffentlichen Meinung aufdrängen gegenüber dem noch nie bestrittnen
Satze: Irren ist menschlich! Das Richterkollegium müßte unfehlbar sein, wenn
es in mehr als 99 von hundert Fällen immer das Richtige träfe.
Die verfehlte Gesetzgebung also ist es, die zu den Mahnrufen der öffent¬
lichen Meinung geführt hat. Nicht das angebliche Sinken des Nichterstaudes, zu
dessen Feststellung gar keine Möglichkeit vorliegt, da sich die Richter früher auch
nur annähernd in ähnlichen Verhältnissen nie befunden haben, sondern die so
glänzend erscheinenden und doch so überaus besorgniserregenden Ergebnisse
der Rechtsprechung sind es, die die Kritik immer lebhafter und dringender
machen, ohne daß sie den Vorwurf verdiente, sich „immer dreister hervor-
zuwagen" an die richterlichen Urteile. Und was das Sinken der Unparteilichkeit
betrifft, so hat der Herr Abgeordnete offenbar die Geschichte der Errichtung
des Reichsgerichts in Leipzig vergessen. Sonst würde er eine solche Behauptung
nicht gewagt haben.
Unterstützt wird aber die öffentliche Meinung uoch durch andre Umstände.
Nie zuvor haben Nichterkollegien unter so ungünstigen Verhältnissen gearbeitet
wie jetzt. Nie zuvor haben sie in zwei bis drei sechs- bis zwölfstündigen und
Gronzboten IV 1896 23
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