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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr.

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Deutschlands Lage

Entrüstung und des Mitleids durch das ganze Abendland, am lautesten in dem
ohnmächtigen und zerrissenen Deutschland des Bundestags, das so gar nichts
dort "hinten weit in der Türkei" zu suchen hatte, die Philhellenenvereine bildeten
sich unter der eifrigsten Teilnahme eines deutschen Fürsten, Ludwigs von
Baiern, und sandten Geld, Waffen, ja sogar Freiwillige den Griechen zu Hilfe,
und der erste englische Dichter der Zeit, Lord Byron, ging nach Mesolongi
hinüber und träumte von "einem Fall im Siegestaumel auf den Mauern von
Byzanz." Und als dann der Sultan die Ägypter heranzog, um den Peloponnes
niederzuwerfen und auszumorden, nach bewährter türkisch-mongolischer Praxis,
gerade wie jetzt die Armenier, da sandten England, Frankreich und Nußland
ihre Kriegsflotten dorthin, und diese schössen ohne Befehl, unter dem unwider¬
stehlichen Drucke der Stimmung ihrer Mannschaften, die türkisch-ägyptische
Flotte in der Bucht von Navarino in Trümmer, worauf ein französisches Korps
Morea besetzte. Das geschah in der Zeit der verrufnen "heiligen Allianz" und
Metternichs, zwei Namen, bei denen noch heute den aufgeklärten Deutschen Lu
as siöels eine Gänsehaut überläuft. Und wenig über dreißig Jahre ist es her,
daß 1860 die Drusen im Libanon und in Damaskus unter den Maroniten und
andern Christen ein gräßliches Blutbad anrichteten, dem etwa 30000 Menschen
zum Opfer fielen. Damals landete abermals ein französisches Korps in Syrien
und erzwang die nachdrückliche Bestrafung der Mörder. Die armenischen Greuel
sind weit schlimmer, die Zahl der Opfer ist weit größer, geschehen aber ist --
nichts. Ist die Furcht vor einem allgemeinen Christenmassakre wirklich gerecht¬
fertigt? Es scheint nicht so. Das syrische Blutbad war eine Folge des
mohammedanischen Fanatismus, der durch den Stolz auf die siegreiche Be¬
endigung des Krimkrieges wieder einmal verstärkt worden war, die Metzeleien
unter den Armeniern sind offenbar bestellte Arbeit gewesen, die selbst die
türkische Regierung sofort unterdrücken konnte, sobald sie nur wollte.

Daß Deutschland hier nicht in erster Linie vorgehen kann, haben wir
schon hervorgehoben, es soll nur verhindern, daß über die Türkei ohne
sein Zuthun verfügt würde; mehr kann es in feiner Lage gar nicht. Denn
darüber dürfen wir uns nicht täuschen: so schwer unserm Stolze dies
Zugeständnis sein mag, die Führung der europäischen und der Weltpvlitik
hat heute Rußland. Das ist nicht nur eine Folge seiner ungeheuern geo¬
graphischen Ausdehnung von der Beringsstraße bis an die Ostsee; es ist "
auch ein Verdienst der russischen Staatskunst, einer der klügsten und konse¬
quentesten, die es giebt, und ebenso sehr eine Folge unsrer eiguen Fehler. Es
ist eine lächerliche Beschuldigung, schon Fürst Bismarck habe durch den Berliner
Vertrag und durch die Gründung des Dreibundes das alte Verhältnis zu
Rußland aufgelöst und also die spätere Gegnerschaft vorbereitet, was übrigens
ja ganz im Sinne des vulgären Liberalismus gewesen wäre. Er handelte nur nach
dem Grundsatze, daß im internationalen Verkehr der am besten fährt, der durch


Deutschlands Lage

Entrüstung und des Mitleids durch das ganze Abendland, am lautesten in dem
ohnmächtigen und zerrissenen Deutschland des Bundestags, das so gar nichts
dort „hinten weit in der Türkei" zu suchen hatte, die Philhellenenvereine bildeten
sich unter der eifrigsten Teilnahme eines deutschen Fürsten, Ludwigs von
Baiern, und sandten Geld, Waffen, ja sogar Freiwillige den Griechen zu Hilfe,
und der erste englische Dichter der Zeit, Lord Byron, ging nach Mesolongi
hinüber und träumte von „einem Fall im Siegestaumel auf den Mauern von
Byzanz." Und als dann der Sultan die Ägypter heranzog, um den Peloponnes
niederzuwerfen und auszumorden, nach bewährter türkisch-mongolischer Praxis,
gerade wie jetzt die Armenier, da sandten England, Frankreich und Nußland
ihre Kriegsflotten dorthin, und diese schössen ohne Befehl, unter dem unwider¬
stehlichen Drucke der Stimmung ihrer Mannschaften, die türkisch-ägyptische
Flotte in der Bucht von Navarino in Trümmer, worauf ein französisches Korps
Morea besetzte. Das geschah in der Zeit der verrufnen „heiligen Allianz" und
Metternichs, zwei Namen, bei denen noch heute den aufgeklärten Deutschen Lu
as siöels eine Gänsehaut überläuft. Und wenig über dreißig Jahre ist es her,
daß 1860 die Drusen im Libanon und in Damaskus unter den Maroniten und
andern Christen ein gräßliches Blutbad anrichteten, dem etwa 30000 Menschen
zum Opfer fielen. Damals landete abermals ein französisches Korps in Syrien
und erzwang die nachdrückliche Bestrafung der Mörder. Die armenischen Greuel
sind weit schlimmer, die Zahl der Opfer ist weit größer, geschehen aber ist —
nichts. Ist die Furcht vor einem allgemeinen Christenmassakre wirklich gerecht¬
fertigt? Es scheint nicht so. Das syrische Blutbad war eine Folge des
mohammedanischen Fanatismus, der durch den Stolz auf die siegreiche Be¬
endigung des Krimkrieges wieder einmal verstärkt worden war, die Metzeleien
unter den Armeniern sind offenbar bestellte Arbeit gewesen, die selbst die
türkische Regierung sofort unterdrücken konnte, sobald sie nur wollte.

Daß Deutschland hier nicht in erster Linie vorgehen kann, haben wir
schon hervorgehoben, es soll nur verhindern, daß über die Türkei ohne
sein Zuthun verfügt würde; mehr kann es in feiner Lage gar nicht. Denn
darüber dürfen wir uns nicht täuschen: so schwer unserm Stolze dies
Zugeständnis sein mag, die Führung der europäischen und der Weltpvlitik
hat heute Rußland. Das ist nicht nur eine Folge seiner ungeheuern geo¬
graphischen Ausdehnung von der Beringsstraße bis an die Ostsee; es ist "
auch ein Verdienst der russischen Staatskunst, einer der klügsten und konse¬
quentesten, die es giebt, und ebenso sehr eine Folge unsrer eiguen Fehler. Es
ist eine lächerliche Beschuldigung, schon Fürst Bismarck habe durch den Berliner
Vertrag und durch die Gründung des Dreibundes das alte Verhältnis zu
Rußland aufgelöst und also die spätere Gegnerschaft vorbereitet, was übrigens
ja ganz im Sinne des vulgären Liberalismus gewesen wäre. Er handelte nur nach
dem Grundsatze, daß im internationalen Verkehr der am besten fährt, der durch


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[0114] Deutschlands Lage Entrüstung und des Mitleids durch das ganze Abendland, am lautesten in dem ohnmächtigen und zerrissenen Deutschland des Bundestags, das so gar nichts dort „hinten weit in der Türkei" zu suchen hatte, die Philhellenenvereine bildeten sich unter der eifrigsten Teilnahme eines deutschen Fürsten, Ludwigs von Baiern, und sandten Geld, Waffen, ja sogar Freiwillige den Griechen zu Hilfe, und der erste englische Dichter der Zeit, Lord Byron, ging nach Mesolongi hinüber und träumte von „einem Fall im Siegestaumel auf den Mauern von Byzanz." Und als dann der Sultan die Ägypter heranzog, um den Peloponnes niederzuwerfen und auszumorden, nach bewährter türkisch-mongolischer Praxis, gerade wie jetzt die Armenier, da sandten England, Frankreich und Nußland ihre Kriegsflotten dorthin, und diese schössen ohne Befehl, unter dem unwider¬ stehlichen Drucke der Stimmung ihrer Mannschaften, die türkisch-ägyptische Flotte in der Bucht von Navarino in Trümmer, worauf ein französisches Korps Morea besetzte. Das geschah in der Zeit der verrufnen „heiligen Allianz" und Metternichs, zwei Namen, bei denen noch heute den aufgeklärten Deutschen Lu as siöels eine Gänsehaut überläuft. Und wenig über dreißig Jahre ist es her, daß 1860 die Drusen im Libanon und in Damaskus unter den Maroniten und andern Christen ein gräßliches Blutbad anrichteten, dem etwa 30000 Menschen zum Opfer fielen. Damals landete abermals ein französisches Korps in Syrien und erzwang die nachdrückliche Bestrafung der Mörder. Die armenischen Greuel sind weit schlimmer, die Zahl der Opfer ist weit größer, geschehen aber ist — nichts. Ist die Furcht vor einem allgemeinen Christenmassakre wirklich gerecht¬ fertigt? Es scheint nicht so. Das syrische Blutbad war eine Folge des mohammedanischen Fanatismus, der durch den Stolz auf die siegreiche Be¬ endigung des Krimkrieges wieder einmal verstärkt worden war, die Metzeleien unter den Armeniern sind offenbar bestellte Arbeit gewesen, die selbst die türkische Regierung sofort unterdrücken konnte, sobald sie nur wollte. Daß Deutschland hier nicht in erster Linie vorgehen kann, haben wir schon hervorgehoben, es soll nur verhindern, daß über die Türkei ohne sein Zuthun verfügt würde; mehr kann es in feiner Lage gar nicht. Denn darüber dürfen wir uns nicht täuschen: so schwer unserm Stolze dies Zugeständnis sein mag, die Führung der europäischen und der Weltpvlitik hat heute Rußland. Das ist nicht nur eine Folge seiner ungeheuern geo¬ graphischen Ausdehnung von der Beringsstraße bis an die Ostsee; es ist " auch ein Verdienst der russischen Staatskunst, einer der klügsten und konse¬ quentesten, die es giebt, und ebenso sehr eine Folge unsrer eiguen Fehler. Es ist eine lächerliche Beschuldigung, schon Fürst Bismarck habe durch den Berliner Vertrag und durch die Gründung des Dreibundes das alte Verhältnis zu Rußland aufgelöst und also die spätere Gegnerschaft vorbereitet, was übrigens ja ganz im Sinne des vulgären Liberalismus gewesen wäre. Er handelte nur nach dem Grundsatze, daß im internationalen Verkehr der am besten fährt, der durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_223583/114>, abgerufen am 06.01.2025.